Realistische — symbolische — dekorative Bilder / Bild-Elemente

 

Einleitung

❖ Es gibt Bilder, die Wissenselemente (Dinge, Personen, Szenen, usw.) visualisieren, sog. mimetische Abbildungen (vgl. dazu das Projekt (zu den Funktionen hier).

Beispiele: Der Komet 67P (2014) — Jonas wird vom großen Fisch wieder ausgespien

   

❖ Es gibt Bilder, die etwas Realistisches oder etwas deutlich Imaginäres darstellen, das ›noch eine weitere Bedeutung hat‹: Symbole, Allegorien, Embleme, Personifikationen, Exempla usw.

Beispiele: Emblem aus Johann Arndt — Terrore aus Cesare Ripa

 

❖ Es gibt Ornamente

Beispiel:

(Hans Sebald Beham)

❖ Semiotisch betrachtet muss man "Colorit" in Bild-Elementen abgrenzen, sieh dazu den eigenen Abschnitt.

❖ ❖ ❖ Und es gibt die Mixtur aus alledem.

❖ Ein Ding oder eine Szene erscheint uns gegenwärtigen Betrachtern fälschlicherweise als unrealistisch – weil wir den historischen Kontext vernachlässigen. (Jonas wurde wirklich vom Fisch ausgespien, lies die Bibel!)

❖ Eventuell findet sich in einem durchaus realistisch daherkommenden Ensemble ein Detail, dem eine zusätzliche Bedeutung zugeschrieben oder unterstellt werden kann: ›Disguised symbolism‹

❖ Mitunter wird man den Verdacht nicht los, ein ein Teil eines Bildes sei nur dekoratives Accessoire, das hinzukommt, nicht intrinsisch zum Dargestellten gehört (griech. parergon ≈ ›Neben-Werk‹) (vgl. die Untersuchung von Anna Degler 2015). Wenn man mit allen ikonographischen Hilfsmitteln (siehe unten) keine Deutung findet, deutet man dieses Element als ›Ornament‹.

Also: ❖ Welche Bild-Elemente erläutern das Vorgetragene auf realistische Weise? — ❖ Welche implizieren versteckt Anspielungen? — ❖ Welche sind ornamental? — Und vor allem: Woran erkennt man das? (Insbesondere wenn das Bild oder ein Element davon nicht explizit mit ausformulierten Deutungen korreliert ist.)

▲ Es geht hier darum, was zeitgenössische Gestalter / Betrachter intendiert hatten / assoziieren mussten, und nicht darum, was wir Heutigen in einem Bilddetail ›als symbolisch empfinden‹ mögen und ›uns einbringen‹ wollen. (Wir deuten hier nicht Rorschachtestbilder.)

(Ähnliches gilt natürlich auch für literarische Texte.)

»In vielen Fällen kann es zweifelhaft sein, ob ein Gebilde lediglich durch seine Form gefallen oder auch eine Idee zum Ausdruck bringen will; die Unterscheidung der reinen Ornamente von den bedeutungsvollen Zeichen (Symbolen) gehört zu den wichtigsten Aufgaben der Ikonographie.« (Karl Künstle, Ikonographie der christlichen Kunst, 2 Bände, Freiburg i.Br.: Herder 1926/28; Bd. I, S.5ff.)

Nicht erkannte Symbolik — Überinterpretation

»Deux erreurs: 1° prendre tout littéralement; 2° prendre tout spirituellement.« (Blaise Pascal [1623–1662], Pensées, Nr. 648 [Brunschvicg])

Nicht erkannte Symbolik eines Bildteils

Oft aber merken wir gar nicht, dass z.B. mit einem Element in einer Zeichnung ›etwas gemeint ist‹; man glaubt es handle sich um ein pittoreskes Detail.

Ein Emblem zeigt als Pictura zwei Tauchervögel, einen eben untertauchenden und einen auf der Wasseroberfläche; im Hintergrund eine Uferlandschaft und ein Schloss. Das Lemma Mersus ut emergam (untergetaucht möge ich auftauchen) gibt der deutsche Übersetzer so wieder: Drumb hat mich der Trübsals=Bach gäntzlich überschwommen/ Daß ich freudiger empor wieder möge kommen.

Offtmahls wird ein tapffrer Mann von den tieffen Unglücks Wasser/ unversehens überschwemmt/ und von vielen grimmen Hassern/ Angefeindet und verfolgt/ doch wird er nicht unterdrückt/ weil der güt’ge Himmel ihn mitten in der Flut beglückt.

Joachim Camerarius, Symbolorum et Emblematum ex Volatibilibus et Insectis desumptorum Centuria tertia, Nürnberg 1596. – Dritte Centurie, Nr. LVI

[deutsche Übersetzung:] Vier Hundert Wahl-Sprüche Und Sinnen-Bilder/ Durch welche beygebracht und ausgelegt werden Die angeborne Eigenschafften, Wie auch Lustige Historien/ und Hochgelährter Männer Weiße Sitten-Sprüch […] ; Mayntz 1671. Drittes Hundert, LVI Vgl.
> http://reader.digitale-sammlungen.de/resolve/display/bsb10575869.html

Den landschaftlichen Hintergrund nimmt man zunächst wahr als als malerisches Kolorit. Bei genauer Betrachtung erkennt man am Ufer Schilf und einen gebrochenen Baum. Das erinnert an die Fabel von Eiche und Schilfrohr (de quercu et harundine bei Avianus und Babrius; Perry 70), die schon 1566 von Virgil Solis illustriert wurde:

Hier geht es um die Schlauheit des sich beugenden Schilfs, das wartet, bis der Sturm vorbei ist, während die stramme Eiche widerstehen will und bricht. La Fontaine (Vgl. Grandville I,22) hat die Fabel auf das Leben am Hof bezogen. – Eventuell meint auch das Schloss ganz im Hintergrund den Ort, wo die damit Gewarnten sich aufhalten....

Das Emblem enthält also zwei Aussagen, eine explizite und eine verborgene, nur dem Verständigen erkennbare.

Überinterpretation

Mitunter deuten wir Dinge als Zeichen, weil wir von der Erwartung ausgehen, es müsse hier etwas Bedeutsames vorliegen, oder weil wir durch ein bekanntes Bild-Muster verführt werden.

Beispiel. Bei aller Hochschätzung von Erwin Panofsky (1892–1968) – bei der Deutung von Albrecht Dürers Kupferstich zu Adam und Eva 1504 sieht er zu viel ins Bild hinein.

Erwin Panofsky, The life and art of Albrecht Dürer (1943); deutsche Übersetzung: Das Leben und die Kunst Albrecht Dürers, München: Rogner & Bernhard 1977 und Neuauflagen, S. 113f.

(a) Panofsky spricht vom »Gegensatz zwischen dem klugen und wohlwollenden Papageien und der diabolischen Schlange«. Aber die Schlange ist in der hier visualisierten Bibelstelle (Genesis 3,4) explizit genannt, währenddem der Papagei zu einer ganz anderen Bildlogik gehört.

Allenfalls bezieht sich der Papagei, der so prominent auf dem Zweig mit der Namenstafel von Dürer sitzt (ALBERTUS DVRER NORICVS FACIEBAT anno 1504), auf den Künstler; vielleicht begrüßt er die Betrachter: ave chere, got grüez dich, lieber. Vgl. Konrad von Megenberg (1309–1374), »Buch der Natur« (hg. Franz Pfeiffer), IIIB 63.

Oder ist er ein Mariensymbol? Vgl. »Die Goldene Schmiede« von Konrad von Würzburg Verse 1'850 ff.

swie gar der wilde siticus [Papagei]
grüen als ein gras erliuhte,
er wirt doch selten fiuhte
[feucht]
von regen noch von touwe:
dem tet geliche, frouwe,
din magetlich gemüete
daz von unkiuscher flüete
nie wart genetzet …

Dann wäre der Kontrast zur Schlange sinnvoll: EVA — AVE; Vgl. Friedrich Kobler, Artikel "Eva – Maria", in: Reallexikon zur Deutschen Kunstgeschichte, Bd. VI (1970), Sp. 417–438
> https://www.rdklabor.de/w/?oldid=88833
(Vgl. auch hier)

(b) Panofsky schreibt a.a.O.: »Ein gebildeter Betrachter des sechzehnten Jahrhunderts hätte leicht die vier Arten von Tieren in Dürers Stich als Vertreter der ‘vier Säfte‘ und ihrer moralischen Beziehungen erkannt, den Elch als Vertreter melancholischen Trübsinns, das Kaninchen als Vertreter sanguinischer Sinnlichkeit, die Katze als Vertreterin cholerischer Grausamkeit und den Ochsen als Vertreter phlegmatischer Schwerfälligkeit.«

In der Temperamentenlehre wurden tasächlich Tierallegorien verwendet, es sind aber andere Tiere:

Calendrier des Bergers, Imprime a paris par Guyot marchant L’an de grace Mil cccc. iiii xx. et xi.
> http://www.bvh.univ-tours.fr/Consult/index.asp?numfiche=905

(Das Bild von 1491 – also beinahe zeitgenössisch mit dem Stich von Dürer – spricht von der phizionomie des bergiers und von ihrer inclination.)

Die allegorisch zugeordneten Tiere (von links nach rechts):

  • Le collerique --- Löwe (wegen seiner Schlagkraft)
  • Le sanguin --- Affe (weil er gerne spielt); hier auch ein Papagei!
  • Le fleumatique --- Widder (der saige = weise ist?)
  • Le melencolique --- Schwein (das gerne ruht und schläft)

Vgl. die Zusammenstellung von Attributen auf
> http://www.enzyklopaedie.ch/dokumente/Temperamente&Emotionen.html#typen

Die Tiere im Umfeld von Adam und Eva sind wohl keine Allegorien, sondern zeigen, dass sich die beiden Ureltern noch im Paradies unter ihren Mitbewohnern befinden. Auf dem Holzschnitt in der »Kleinen Passion« von Dürer 1511 ist es ein Dachs, eine Kuh und noch ein finster blickendes Raub-Tier. — Lucas Cranach d.Ä. (1472–1553) stellt das 1509 so dar:

(Quelle Wikimedia)


Einige Fallstudien

Wir konzentrieren uns auf Kunstdenkmäler des Mittelalters und der frühen Neuzeit.

 

Rahmen / Kartuschen / Bordüren

Bilder am Rand

Titelbilder

Initialen – u.a.: Book of Kells

Zeilenfüller

Ikonographisch präzis bestimmbare (nur scheinbar ornamentale) Details

"Colorit" bei Bildelementen

Ornamentales im Bild-Inneren – oder doch bedeutsam?

Ästhetische Eigendynamik

Mittelalterliche Bauplastik

Drolerien – Aquamanile, Gargouille, Miserikordien, Songes drolatiques

Formales

Versteckte Symbolik bei scheinbar Ornamentalem

Mittelalterliche Polemik gegen ornamentale bildliche Darstellungen

Symbol — Ornament — Zeugnis des göttlichen Schöpfers (Joris Hoefnagel)

Hinweise zur Suche

Literaturhinweise

 


Rahmen / Kartuschen / Bordüren von (inhaltlichen) Bildern

In Drucken v.a. des 16. Jahrhunderts werden Bilder oft mit Randleisten versehen. Die Verzierungen – rein ornamental oder floral oder wie im Beispiel hier mit Blattmasken und Karyatiden – haben mit dem Bild in der Regel überhaupt keinen inhaltlichen Bezug zum Bild, dem sie als Rahmen dienen:

Emblemata D. A. Alciati, denuo ab ipso Autore recognita, ac, quæ desiderabantur, imaginibus locupletata; Accesserunt noua aliquot ab Autore Emblemata suis quoque eiconibus insignita, Lugduni Batavorum: Rovilius 1551.
Thema des Bilds: Die Redegewandtheit ist schwierig. Mercur überreicht Odysseus das Kraut Moly…

❑ Davon zu unterscheiden sind die typographischen Verlegenheitslösungen, die dadurch bedingt sind, dass ein Bild nicht in den Satzspiegel passt und mit mit Zierleisten randbündig gemacht wird; Weißraum ist offenbar verpönt.

••• Der Basler Verleger Thomas Gwarin (1529–1592) verwendet die Bilder von Tobias Stimmer (vgl. unten) wieder in einer Vollbibel. Die Holzschnitte sind 8,5 cm breit; der Satzspiegel 10cm. Nichtssagende ornamentale Randleisten gleichen aus:

Biblia sacra veteris et novi testamenti, secundum editionem vulgatam. Baslilaeae M.D.L.XXVIII

••• In der ersten illustrierten Ausgabe der »Iconologia« von Cesare Ripa (1603) sind alle Bilder der Personifikationen selbstverständlich hochformatig; den Ausgleich zum Satzspiegel schaffen ornamentale, oft wiederholte Randleisten. — PERSECVTIONE hier schießt nicht mit den Pfeilen auf die als Hermen dienenden nackten Frauengestalten...!

Iconologia. Overo descrittione di diverse imagini cavate dall'antichità, e di propria inventione trovate et dichiarate da Cesare Ripa […] Di nuovo revista. Roma: Lepido Faci 1603.
> http://digi.ub.uni-heidelberg.de/diglit/ripa1603

••• Schon der Drucker von Sebastian Brants »Narrenschiff« füllte den Weißraum der hochformatigen Bilder und des in strengen Knittelversen (8 bis 9 Silben umfassend) verfassten Texts mit Randleisten.

Das narren schyff (EA 1494) hier nach der 2.Auflage Basel: Olpe 3.3.1495; Kap. 18 (Von dienst zweyer herren).

Die Randleisten sind oft wiederholt. Die 2.Auflage hat bei Kap. 18 nur rechts dieselbe Leiste wie die erste Auflage. – Das Bild wird für Kap. 74 (Von vnnutzem jagen) wiederholt, beide Leisten sind hier andere.

Dass (vgl. hier rechts) darin Narren herumklettern, versteht sich. Die Eulen (sieh oben in der Leiste) könnten bedeutungsvoll sein; sie werden in den Auslegungen der alten Zoologie als übel beurteilt, vgl. etwa: Konrad von Megenberg, »Buch der Natur«, III, B, Kap. 53 (ed. Pfeiffer S. 208f.): Von der Äulen (Nocticorax): […] Pei der äuln verstê wir all pœs übeltætig läut, sam diep, schâcher, êprecher, die hazzent daz lieht der wârhait, als unser herr spricht: wer übel würkt, der hazzet daz lieht.

 

❑ In der Bilderbibel von Tobias Stimmer (1539–1584) glaubt man mitunter Bezüge zwischen dem Thema des Bilds und Elementen des Rahmens zu erkennen. — Das brennende Herz und die beiden Putten im unteren Rand könnten ja symbolisieren, dass Salomo in Sulamit (die Braut des Hohenlieds) verliebt ist:

Neue Künstliche Figuren Biblischer Historien/ grüntlich von Tobia Stimmer gerissen: Und zu Gotsförchtiger ergetzung andachtiger Hertzen mit artigen Reimen begriffen durch J. F. G. M . Zu Basel bei Thoma Gwarin, Anno 1576.
(Schlechtes) Digitalisat hier > https://www.e-rara.ch/doi/10.3931/e-rara-431

Im Reprint München: Hirth 1881 (Neuauflage 1923) sind die Rahmen den Bildern anders zugeordnet. Es wäre interessant zu wissen, ob dem Nachdruck ein anderes Exemplar aus dem 16. Jh. vorlag; das würde die These der Auswechselbarkeit der Rahmen bestätigen. Paul Tanner in New Hollstein Vol. LXXX, p.219 kennt nur die eine Ausgabe a.d.J. 1576.

Derselbe Rahmen umgibt das Bild der Erschaffung Evas aus Adams Rippe (Genesis II); da könnte ein brennendes Herz ja auch passen:

Stutzig wird man, wenn man erkennt, dass es für das ganze Buch acht stets wiederholte unterschiedliche Randleisten gibt und die Leiste mit dem brennenden Herz 21 mal vorkommt.

So auch in diesen Szenen: Samsons Kampf mit dem Löwen (Iud XIIII); Absalom, der im Baum hängenbleibt (II Reg XVIII); Daniel im Feuerofen (Danielis III); Paulus vor Damaskus (Actorum IX). Ganz unpassend scheint das Motiv hier (Steinigung des Gotteslästerers (Leviticus 23,24):

Oder hier, wo in der Apokalypse (18,21) dargestellt ist, wie ein Engel einen Stein, schwer wie ein Mühlstein, ins Meer wirft:

Da erhält man doch den Eindruck, die Rahmen seien recht zufällig um die Bilder gelegt.

 

❑ In einer frühen gedruckten Bilderbibel sind die meisten Szenen aus dem Leben Jesu mit ornamentalen Randleisten versehen; pro Bild gibt es eine spezielle. Die Holzschnitte sind dem Petrarcameister zuzuschreiben (Musper 1927 L 63). Der (lateinische) Text besagt, welche Szenen mit dem zentralen Bild gemeint sind.

Deuotissime meditationes de vita beneficiis et passione saluatoris Iesu Christi cum gratiarum actione, Augsburg: Grimm & Wirsung 1520.
> https://archive.org/details/deuotissimemedit00grim

Vergleicht man dieses Digitalisat der Boston Public Library mit dem Reprint München 1903 (was diente als Vorlage?), so erkennt man, dass die Bilder in verschienenen Drucken mit wechslenden Randleisten versehen wurde, was gegen eine symbolische Bedeutung spricht.

Ein Bild kommt doppelt vor, mit verschiedenen Umrandungen:

Zur Szene: Jesu Gefangennahme (Lukasevangelium 22,54: duxerunt ad domum principis sacerdotum)

Die Pflanzen und das Insekt rechts oben kann man als ornamental gelten lassen; aber passt der Storch, der einen Frosch packt, eventuell zur Szene der Gefangennahme Jesu? Dann aber das katzen- oder affenartige Tier (mit Gürtel!) daneben?

Zur Szene: Jesus wird von Herodes zu Pilatus zurückgesandt (Lukas 23,11: Sprevit autem illum Herodes cum exercitu suo: et illusit indutum veste alba, et remisit ad Pilatum.)

Die Pflanzen, das Insekt oben rechts, die Körner pickenden Vögel kann man wiederum als ornamental hinnehmen. Aber passt der Pfau nicht recht gut zum Text des Evangeliums, wo es heißt, Herodes habe Jesus (um ihn als Pseudo-König zu verspotten) ein Prachtgewand umgelegt? — Der Pfau wird allegorisch breit ausgelegt bei Konrad von Megenberg (Buch der Natur III B 57), aber ohne Bezug auf Christus. — Und was bedeutet der kleine Putto, der den Pfauen-Schwanz mit einer Schere (?) attackiert?

 

Johann Ulrich Kraus (1655–1719) hat die in der unteren Hälfte der Folio-Seiten seiner Bilderbibel dargestellten Szenen mit üppig verzierten Rahmen versehen. Manchmal scheinen sie zum Bild-Inhalt zu passen, oft aber nicht.

• Thema hier ist: Den [an Aussatz erkrankten] Syrischen Hauptmann Naeman reinigt Elisa mit dem Wasser des Jordans (2. Könige 5, 10–14). – Die wie Neptun und die Personifikationen der vier Paradiesesflüsse aussehenden Gestalten im Rahmen passen einigermaßen dazu.

 

• Hier ist das Thema: Der Prophet Habacuc grämt sich/ daß Er sein Volkh nicht kan zur Busse bringen/ trohet mit starkhen Schrökhlichen Feinden (gemeint ist Habakuk 1,6ff., wo gesagt ist, dass JHWH als Werkzeug seiner Gerechtigkeit die Babylonier über das Volk Israel geschickt hat). – Die marine Szenerie im Ornament passt nicht zum Thema.

 

• Thema ist hier: Der belägerten Stadt Samaria weissaget Elisa und es geschiht das in einer Nacht grosse Theurung in grosse Wohlfeile sich verkehret. (2. Könige 7) Gezeigt wird das von den Aramäern in Zelten vor der Stadt belagerte Samaria; darüber die dunkle Wolken vertreibende Sonne. – Was sollen die Delphine und Indianer im Rahmen?

Historische Bilder-Bibel, welche besteht in Fünff Theil/ Als: Erster Theil/ der Patriarchen. Ander Theil/ der Richter in Israel. Dritter Theil/ der Könige in Jerusalem. Vierdter Theil/ der Propheten. Fünffter Theil/ der Apostel / [gezeichnet und in Kupffer gestochen von Johann Ulrich Kraussen], Augspurg 1705.

 

❑ Die Bilder in Johann Michael Dilherrs (1604–1669) Emblembuch hat Melchior Küsel (1612–1683) mit bildlichen Rahmen versehen.

• Die Predigt zu Philipperbrief 3,17–21 (Viele leben als Feinde des Kreuzes Christi. Ihr Ende ist das Verderben, ihr Gott ist der Bauch) ist einzig diesem Thema gewidmet:

Wer nur nach der Welt-lust trachtet
Seinen Bauch zum Abgott machet.

und zeigt einen Bauch-Diener inmitten von kulinarischen Köstlichkeiten; von unten steigt bereits der Höllenrauch auf.

Das Motto im Balken oben ist passend gerahmt von zwei fetten Schweinen. Aber was sollen die beiden in Blattwerk auslaufenden, als groteske Halbfiguren gezeichneten barbusigen Damen?

Heilig-Epistolischer Bericht/ Licht/ Geleit und Freud. Das ist: Emblematische Fürstellung/ Der Heiligen Sonn- und Festtäglichen Episteln: In welcher Gründlicher Bericht/ von dem rechten Wort-Verstand/ ertheilet; Dem wahren Christenthum ein helles Licht furgetragen; Und ein sicheres Geleit/ mit beigefügten Gebethen und Gesängen/ zu der himmelischen Freude/ gezeiget wird,/ von Johann Michael Dilherrn […], Nürnberg: Endter 1663. S. 390
Kontext > https://haab-digital.klassik-stiftung.de/viewer/image/1561179264/421/

• Die Predigt zur wunderbaren Befreiung von Petrus aus dem Kerker (Apostelgeschichte 12,1–12: Und die Ketten fielen ihm von seinen Händen) fasst verallgemeinernd zusammen:

Schau doch/ was das Gebet verricht:
Davon die Ketten wird zernicht.

Das Bild (S.571) zeigt das Innere des Gefängnisses mit den gelösten Ketten.

Und wiederum zwei eher unpassende Figuren als Rahmen.
Kontext > https://haab-digital.klassik-stiftung.de/viewer/image/1561179264/602/

 

❑ Randleisten, die genaue Zitate von Fabel-Illustrationen enthalten, stehen in diesem Totentanz – Zusammenhang? Ein Beispiel (S.55):

Zu: O HErr/ Ich leide Noth und Gewalt

Die eine Maus packende Katze oben rechts könnte zur Szene passen, wo der Tod den Straßen-Räuber ergreift. — Aber die Szene aus dem Gastmahl von Fuchs und Storch unten rechts? (Bei der Einladung setzt der Fuchs dem Storch die Speisen in einer flachen Schüssel vor, so dass dieser sie nicht essen kann. Bei der Einladung des Storchs setzt dieser dem Fuchs die Speisen in einem halsigen Gefäß vor; Phaedrus I,26):

Theatrum mortis humanæ tripartitum: I. pars. Saltum mortis. II. pars. Varia genera mortis. III. pars. Pœnas damnatorum continens. Figuris æneis illustratum. Das ist: Schau-Bühne deß Menschlichen Todts in drey Theil … mit schönen Kupffer-Stichen geziehrt und an Tag gegeben durch Johannem Weichardum Valvasor, Saltzburg: Johann Baptista Mayr 1682.
> https://gdz.sub.uni-goettingen.de/id/PPN796912483

Darauf hat aufmerksam gemacht:

Martin Germ, Aesop’s Fables in Disguise: a Creative Interpretation of Gheeraerts’s Illustrations for De warachtighe fabulen der dieren in Two Early Publications by Johann Weichard Valvasor, in: Etudes Epistémè 31/2017
Digital > https://journals.openedition.org/episteme/1697
oder > https://doi.org/10.4000/episteme.1697

 

❑ Das Book of Hours ›The Dunois Hours‹ (ca. 1439/1450) ist prächtig mit pflanzlich-ornamentalen Randleisten verziert. Auf dieser Seite stehen mitten drin Szenen, die sich auf das Hauptbild beziehen: Den Hirten auf dem Feld (Lukas 2, 8–16) erscheinen Engel am Himmel, dann ziehen sie zur Krippe mit dem Jesuskind:

British Library Yates Thompson MS 3, Fol. 81 verso
> http://www.bl.uk/manuscripts/FullDisplay.aspx?ref=Yates_Thompson_MS_3

 

❑ In der »Physica Sacra« von Johann Jacob Scheuchzer (1672–1733) dienen die Randleisten oft dazu, die naturwissenschaftlichen (auch technologischen oder numismatischen) Details darzustellen, die der Text entwickelt, während die Bildtafel das biblische Geschehen darstellt, von dem er ausgeht.

Beispiel: Bei der Besprechung der Ägyptischen Plagen (Exodus 8,2–14) kommt Scheuchzer auf die Frösche zu sprechen, die auf den Wink Aarons erscheinen. Anlässlich dieser Stelle zeigt er die Entwicklung des Froschs vom Ei über die Kaulquappe zum adulten Tier; er legt dar, dass dies zu den übernatürlichen Wundern gehört. In der Randleiste stellt er die Entwicklungsstadien des Amphibs dar. Der Text verweist mittels Ziffern auf die Bilder.

Tab. CXXV: Ranarum Forma et metamorphosis – Frösch-gestalt und Verwandlung

Bilder auf der Tafel und im Rahmen von Johann Melchior Füssli; Zierrat im Rahmen von Johann Daniel Preissler; Kupfer von I[ohann] G[eorg] Pinz.

Kupfer-Bibel, in welcher die physica sacra, oder geheiligte Natur-Wissenschafft derer in Heil. Schrifft vorkommenden natürlichen Sachen, Deutlich erklärt und bewährt von Joh. Jacob Scheuchzer […]. Anbey zur Erläuterung und Zierde des Wercks in künstlichen Kupfer-Tafeln ausgegeben und verlegt durch Johann Andreas Pfeffel; Augsburg und Ulm: Ch. U. Wagner, 1731–1735.
> http://www.e-rara.ch/zut/content/pageview/2963181

Literaturhinweise:

Paul Michel, Batrachotheologia. Über Frösche und Wunder bei Johann Jakob Scheuchzer, in: LIBRARIVM, Zeitschrift der schweizerischen bibliophilen Gesellschaft II 1996, S. 129–145.
> https://www.e-periodica.ch/digbib/view?pid=lib-006:1996:39::147#147

Jochen Hesse, «Zur Erlaeuterung und Zierde des Wercks»: Die Illustrationen der Kupferbibel «Physica Sacra», in: Urs B. Leu (Hg.), Natura Sacra. Der Frühaufklärer Johann Jakob Scheuchzer, Zug: Achius 2012, S. 105–128.


Bilder am Rand

(Das lässt sich selbstverständlich nicht exakt trennen vom vorherigen Abschnitt.)

 

❑ Bereits die Tapisserie (genauer: Embroidery) von Bayeux (2. Hälfte des 11.Jhs.) ist mit Rändern ausgeschmückt, in denen sich viele phantastische Tiere tummeln.

> https://de.wikipedia.org/wiki/Teppich_von_Bayeux#Der_vollständige_Teppich
> http://anglosaxon.archeurope.info/index.php?page=view-the-bayeux-tapestry

(hier als Beispiel # 19 – die #-Zahlen beziehen sich auf am Teppich angebrachten)

Sehr häufig sind in den Randzonen (nebst anderen Gestalten) einem Greifen gleichende ›Fabelwesen‹ gestickt, die zeitgenössisch bereits in der Bauplastik vorkommen:

Der Greif hat durchaus symbolische Bedeutungen, vgl. Géza Jászai, Artikel »Greif«, in: Reallexikon zur Deutschen Kunstgeschichte (2015) > https://www.rdklabor.de/w/?oldid=93556 — aber wenn er in Scharen am Rand auftritt?

Sodann gibt es aber auch realistische Szenen, z.Bsp. Hunde, die Vieh treiben (#7); pflügende Bauern (#10); Aal-Fang (#17); Pfeile schießende und gefallene Krieger (#56 – #58); der Komet über und eine Vision der feindlichen Schiffe unter der Szene mit der Krönung Harolds (# 33).

Kommentiert die Szene aus der Fabel (Phaedrus I,4), wo der Fuchs dem Raben den Käse ablistet (zwischen #4 und #5, vor: hic Harold mare navigavit) die Geste eines Mannes, der Harald Godwinson zum Besteigen der Schiffe in Richtung Normandie auffordert – wo er dann in Gefangenschaft gerät ?

Hinweis: Simone Bertrand, La Tapisserie de Bayeux…, Zodiaque 1966.

 

❑ Das Book of Hours of Engelbert of Nassau (ca. 1470–1490) ist am Rand reich verziert mit realistisch genau dargestellten Blumen und Insekten.

Bodleian Library, Oxford. Ms. douce 219, Folio 57 recto
> Digitalisat hier

Alphonso Psalter, formerly known as ›The Tenison Psalter‹ (circa 1284–1316)
British library Add MS 24686, Fol. 13r
> http://www.bl.uk/manuscripts/FullDisplay.aspx?ref=Add_MS_24686

Passt das Bild zum Kontext?

Psalm 6: Miserere mei domine quoniam infirmus sum, sana me, Domine, quoniam conturbata sunt ossa mea. Et anima mea turbata est valde; sed tu, Domine, usquequo ? convertere, Domine, et eripe animam meam ; salvum me fac propter misericordiam tuam. — Erbarme mich meiner, oh Herr, denn ich bin schwach; heile mich, Herr, denn meine Gebeine zittern, und meine Seele ist sehr bestürzt, aber wie lange? Wende dich, Herr, und errette meine Seele, hilf mir um deiner Barmherzigkeit willen!

«Les Epistres et les Euvangiles de tout l'an,... translatées de latin en françois selon l'ordonnance du Messel à l'usage de Paris». (XIVe siècle)
BNF manuscrits, NAF 4508, Fol. 152r
> https://gallica.bnf.fr/ark:/12148/btv1b8446943w

Lutrell Psalter (1325–1340) British Museum Add MS 42130

Text auf der Seite = Psalm 106 (Vulgata) / 107 (MT) 28–33, ein Danklied für die übers Meer Reisenden: 29 Et statuit procellam ejus in auram, et siluerunt fluctus ejus ...28 Sie schrien zum HERRN in ihrer Bedrängnis und er führte sie heraus aus ihren Nöten, 29 er machte aus dem Sturm ein Säuseln und es schwiegen die Wogen des Meeres. …

Man blättere das Digitalisat durch! (Ikonograph. Beschreibung auf der Startseite)
> http://www.bl.uk/manuscripts/FullDisplay.aspx?ref=Add_MS_42130

 

❑ Die Randzeichnungen im Gebetbuch Maximilians I. sind diesbezüglich besonders problematisch. Einige passen genau zum Kontext, andere sind der reichen Phantasie von Albrecht Dürer entsprungen.

Hier ist das Gebet Psalm 91 (Vg. 90) Qui habitat, u.a mit dem Text: Er beschirmt dich mit seinen Flügeln. … Fallen auch tausend zu deiner Seite, … so wird es doch dich nicht treffen … Dazu passend die brutale Kampfszene:

Das Gebetbuch Kaiser Maximilians; der Münchner Teil mit den Randzeichnungen von Albrecht Dürer und Lucas Cranach d. Ae.; Einführung von Hinrich Sieveking, München: Prestel 1987.

Magdalena Bushart, Die Randzeichnungen im Gebetbuch Kaiser Maximilians I., in: Franz Nikolasch (Hg.),Symposium zur Geschichte von Millstatt und Kärnten Millstatt 2006, S.99–114.

Bernhard Seidler, Kühlen Kopf bewahren! Albrecht Dürers Darstellungen der Versuchung des Heiligen Antonius und ihre medizinischen Implikationen (2018) https://doi.org/10.1515/9783110605389-010

 

❑ Johann Arndt spricht im IV. Buch seiner »Bücher vom wahren Christenthum« von den sechs Tagwerken der Schöpfung; in IV,5 von er Erschaffung vom Meer und Wassern und von den Früchten des Meers. In der späten, von Adam Struensee 1708–1791 überarbeiteten Ausgabe wird das Kapitel mit einem Emblem (Nr.42) versehen:

Das Motto Es redet mit furchtbarer Macht | Von dem, der es in Schranken gebracht bezieht sich auf den erbaulichen Text:

Betrachte, kleiner Mensch, wie unbegreiflich groß,
wie unergründlich tief ist nicht des Meeres Schoos!

der dann aber auf die unzählbaren Wallfischheere und andere Nahrungsmittel fokussiert, welche die Netze füllen und wofür der Mensch dem Schöpfer dankbar sein soll.

Interessant in unserem Zusammenhang ist der einleitende Text: Das wallende und brausende Meer. Am Rande sind verschiedene Seemuscheln, um den Reichtum der Wasser, so wie ein Schiff auf dem Meer, um die Schiffahrt anzuzeigen.

Johann Arndts […] Sechs Bücher vom wahren Christenthum nebst desselben Paradisgärtlein. Mit neuinventirten Kupfern und Erklärungen derselben, wie auch neu dazu verfertigten Gebetern und einer Vorrede herausgegeben von D. Adam Struensee, Königl. Dänischem Oberconsistorialrath und Generalsuperintendenten der Kirchen und Schulen in den Herzogthümern Schleswig und Holstein […], Halle: J. J. Gebauer 1760.

 

❑ Hier scheint der ornamentale Rahmen mit den Wasser-Motiven gut zum Thema des Bildinneren zu passen: Le Déluge – Der Sündflusz – De Sonvloet:

Derselbe Rahmen wird auch verwendet für

• Hero und Leander (Tafel XXXVII): hero durchschwimmt allnächlich den Hellespont, bis er irregeführt ertrinkt

• Die Danaiden, die vergeblich ein Fass mit Wasser füllen (Tafel LIX)

Neueröfneter Musen-Tempel mit 60 auserlesenen Bildern/ welche das Allermerkwürdigste aus den Fabeln der Alten vorstellen/ ausgezieret: gezeichnet und in Kupfer gestochen durch Herrn Bernard Picart le Romain, und andere Kunstreiche Männer; Mit Deutlichen Erklärungen und Anmerkungen...: nebst einer Vorrede [von] Christoph Gottlieb Stockmans, Amsterdam: Zacharias Chatelain, 1733.
> http://digitale.bibliothek.uni-halle.de/id/2921318
> http://digi.ub.uni-heidelberg.de/diglit/picart1754

 

❑ Auch Bild-Elemente, die sich ikonographisch genau bestimmen lassen, können Ornament sein.

Die Szene, da Regulus einen Drachen tötet (vgl. http://www.symbolforschung.ch/Drachen Livius.html) ist von einem Rahmen umgeben, in dem mythologische Figuren aufscheinen, die mit dem Bildinhalt keinerlei Zusammenhang haben (Darstellungen davon findet man im Web x-mal.):

links: Um den Riesen Antaios zu besiegen, der mit dem Kontakt zur Erde (seine Mutter Gaia) immer wieder neue Kraft schöpft, hebt Herakles ihn empor und kann ihn so erwürgen. Quelle: Apollodor II,v,11 ≈ 2,115

rechts: Die von Apollo verfolgte Nymphe Daphne lässt sich von ihrem Vater (den Flussgott Penëus) in einen Lorbeerbaum verwandeln. Quelle: Ovid, Metamorphosen I, 545ff.

Titus Livius/ Vnd Lucius Florus/ Von Ankunfft und Ursprung des Römischen Reichs/ der alten Römer herkommen/ Sitten/ Weißheit/ Ehrbarkeit/ löblichem Regiment/ Ritterlichen Thaten/ Victori vnnd Sieg/ gegen jhren Feinden […], Straßburg: Rihel 1574. – In späteren Auflagen andere Rahmung!


Titelbilder

Als zu Beginn des 15.Jhs. ein Bücher-Markt entstand, und damit Konkurrenz und das Bedürfnis, die eigenen Erzeugnisse als solche hervorzuheben, wurden einprägsame Titelblätter kreiert, die als Blickfang dienten. Unübersehbar viele...

••• Hier ein Blatt zu einem Buch von Johann Eck, das in Augsburg 1519 bei Grimm & Wirsung erschien (Quelle: wikicommons):

Der Rahmen wurde von den Verlegern – für die der Petrarcameister gearbeitet hatte ! – um 1519 bis 1522 für verschiedene Bücher verwendet.

••• Aber aufgepasst: Nicht alle ornamental so ähnlich aussehenden Illustrationen sind Dekor:

Paolo Giovio, Le vite dei dodeci Visconti Prencipi di Milano. Tradotte per M Lodovico Domenichi. In Milano: Gio. Battista Bidelli 1626 u.ö.

Es sind hier keine ornamental drapierten Schlangen, die Menschen verschlingen; im Gegenteil: Sie speien sie aus. Es handelt sich um das heraldische Motiv der Sforza / Visconti - Familie:

Andrea Alciato, Emblemata, Ausgabe Paris 1534
Kommentar > https://www.emblems.arts.gla.ac.uk/alciato/emblem.php?id=A34b001

••• Einen Scherz erlaubt sich der Gestalter eines Zwischentitels im Buch von

Filippo Buonanni [1638–1725], Ricreatione Dell'Occhio E Della Mente Nell'Osservation' delle Chiocciole, Proposta a'Curiosi delle Opere della Natura, Roma: Varese 1681.

Die anthropo-(besser: gynaiko-)morph wirkende Figura auf dem Titelblatt zum vierten Teil: Si esprimono i Cusci de' Testacci, nella Parte seconda descritti ist zusammengesetzt aus Muschelschalen, die das Thema der Bildtafeln sind.
> https://gdz.sub.uni-goettingen.de/id/PPN638954959 (Bild Nr. 433:)

••• Und selbstverständlich sind die Tiere auf dem Titel einer Aesop-Ausgabe auch nicht reines Ornament. Sie warten nur darauf, im Buch ‘in action’ wieder gefunden zu werden.

Æsop’s Fables with his life: in English, French and Latin. Newly translated. Illustrated with one hundred and twelve sculptures […] by Francis Barlow. London: Printed by H. Hills jun. […] 1687.
> https://collections.britishart.yale.edu/catalog/orbis:12849223


Initialen

Haben die eingefügten Bilder einen Zusammenhang mit dem sie umgebenden Text?

❑ ≠

Beginn des Psalters. Initiale B des Texts Beatus vir qui non abiit in consilio impiorum, et in via peccatorum non stetit, et in cathedra pestilentiae non sedit; sed in lege Domini voluntas ejus, et in lege ejus meditabitur die ac nocte. Glückselig der Mann, der nicht nach dem Rat der Bösen geht und nicht auf dem Weg der Sünder steht und nicht auf dem Stuhl der Pestilenz sitzt, sondern am Gesetz des Herrn seine Lust hat und über seinem Gesetz Tag und Nacht sinnt.

Tripartitum Psalterium Eadwini (The Eadwine Psalter) Fol. 6 recto
Trinity College, Cambridge
> https://mss-cat.trin.cam.ac.uk/viewpage.php?index=1229

❑ ≠

Paulus Diaconus (vor 800), »Historia Langobardorum«. British Library, Royal MS 13 A XXII; (4th quarter of the 11th century; Mont Saint-Michel, Western France)
> http://www.bl.uk/manuscripts/FullDisplay.aspx?ref=Royal_MS_13_A_XXII

Initiale S zum Text: Septemtrionalis plaga quanto magis ab aestu solis remota est et nivali frigore gelida, tanto salubrior corporibus hominum et propagandis est gentibus coaptata; sicut econtra omnis meridiana regio, quo solis est fervori vicinior, eo semper morbis habundat et educandis minus est apta mortalibus.

Je weiter der nördliche Himmelsstrich von der Hitze der Sonne entfernt und von Eis und Schnee kalt ist, um so gesunder ist er für die Körper der Menschen und begünstigt die Völkervermehrung, wie umgekehrt alles mittägliche Land je näher es der Glut der Sonne liegt, immer voll Krankheiten und zur Hervorbringung eines tüchtigen Menschenschlages weniger geeignet ist. Daher kommt es, dass so große Völkermassen im Norden geboren werden und nicht mit Unrecht wird jener ganze Landstrich vom Tanais bis zum Sonnenuntergang mit dem allgemeinen Namen Germania bezeichnet …

❑ ≠

Gregor, »Moralia in Job«; Dijon, Bibliothèque municipale, Ms. 173 (Cîteaux, 1.Drittel des 12.Jhs.), Fol. 29 recto
Digitalisiert bei > http://patrimoine.bm-dijon.fr

Quamvis omnem scientiam atque doctrinam scriptura sacra sine aliqua comparatione transcendat … (Lib XX, 1): Die heilige Schrift übertrifft alle Wissenschaft und Lehre nicht nur durch den Inhalt, sondern auch durch die Darstellungsweise …

 

❑ ≠

The ›Second Winchester Bible‹ Bodleian Library MS. Auct. E. inf. 1 (12th century, middle to end); Folio 304 recto: Beginn des Buchs Hiob: Vir erat in terra Hus nomine Iob et erat vir ille simplex et rectus ac timens Deum et recedens a malo
> https://medieval.bodleian.ox.ac.uk/catalog/manuscript_520

 

❑ ≠

Cotton MS Tiberius C VI (3rd quarter of the 11th century – 2nd half of the 12th century) Fol. 60recto
> http://www.bl.uk/manuscripts/FullDisplay.aspx?ref=Cotton_MS_Tiberius_C_VI

Initiale D zum Text Psalm 38 (MT 39): Dixi custodiam vias meas ne peccem in lingua mea custodiam os meum silentio donec est impius contra me – Ich habe mir vorgenommen: Ich will mich hüten,dass ich nicht sündige mit meiner Zunge; ich will meinem Mund einen Zaum anlegen…

 

❑ ≠ Das Passionale von Weissenau (Fondation Martin Bodmer; Cod. Bodmer 127) enthlt viele augestaltete Initialen, z.B.

> https://www.e-codices.unifr.ch/en/list/one/fmb/cb-0127

Vgl. den Aufsatz von Solange Michon, Le bestiaire enluminé du Passionaire de Weissenau, in: Unsere Kunstdenkmäler 1989/4, S. 384–392.

 

❑ +

In Psalm 21 (Vulgata) ruft der Betende, ein unschuldig Verfolgter, den Herrn um Hilfe an und beschreibt seine böswilligen Widersacher als Tiere (= Ps 22; deutsch hier in der Einheitsübersetzung):

13 Circumdederunt me vituli multi; tauri pingues obsederunt me.
14 Aperuerunt super me os suum, sicut leo rapiens et rugiens.
17 Quoniam circumdederunt me canes multi;
22 Salva me ex ore leonis, et a cornibus unicornium humilitatem meam.

Im Albani-Psalter (12. Jahrhundert; Dombibliothek Hildesheim) wird Vers 13 (Mich umgeben mächtige Stiere, Büffel umringen mich) in die Initiale D des Beginns des Psaltertexts (Deus, Deus meus respice in me: quare me dereliquisti?) integriert:

https://de.wikipedia.org/wiki/Buch_der_Psalmen#/media/Datei:Psalm_21_Initial_D.jpg

 

❑ +

Hier könnte die Zügelung des Monstrums in der Initiale Q einen Bezug zum Text haben:

Psautier de Corbie (Angfang 9.Jh.) BM Amiens Ms18 Fol. 46 recto
> https://gallica.bnf.fr/ark:/12148/btv1b8452190t/f99.item

Quid gloriaris in malitia potens misericordia Dei tota est die (Psalm 51,3 [Vg]) — Was rühmst du dich der Bosheit, der du mächtig bis in der Ungerechtigkeit? Vers 7: sed Deus destruet te in sempiternum terrebit – Doch wird dich Gott verderben auf immer …

 

❑ +

Beginn der (lat./dt.) Benediktinerregel Engelberg, Stiftsbibliothek, Cod. 72 (1250–1276). Die Initiale A des ersten Worts der Regel: Ausculta, o fili praecepta … ist interpretierbar:

Engelberg, Stiftsbibliothek, Cod. 72 > https://www.e-codices.unifr.ch/de/bke/0072/1v

Links außen kniet ein Mönch, angeschrieben mit Chuono, vermutlich der Übersetzer / Schreiber des Codex. Der unter dem A stehende Abt Waltherus abbas zeigt den Codex einem Engel zur Bestätigung. Rechts steht eine Nonne (Engelberg angeschlossen war das Frauenkloster St.Andreas). Einzig die das A tragenden nackten Gestalten sind nicht klar interpretierbar; dass die eine vom Abtsstab gepiekt wird, deutet darauf, dass es zu überwindende Sünden sein könnten.

Nach: Richard Fasching in: Christian Kiening / Martina Stercken (Hg.), SchriftRäume. Dimensionen von Schrift zwischen Mittelalter und Moderne, Zürich: Chronos 2008, S.288.

 

❑ ≠ / +

Bei diesem Beispiel scheint der bildliche Bezug zum Text und das Ornamentale (wieder so ein Q-Schwanz!) miteinander verquickt:

Passionale (ca. 1125/1130), pars aestivalis; Württembergische Landesbibliothek Cod.bibl.fol.56; Folio 101 recto: Martyrium des Matthäus.

 

❑ Das Book of Kells (Dublin, Trinity College, Cod. 58) strotzt von solchen Initialen sowie Füllseln am Zeilenanfang und Zeilenende; man blättere das vorzügliche Digitalisat durch!
> https://digitalcollections.tcd.ie/concern/works/hm50tr726?locale=en

••• Beispiel: Fol. 45 recto mit dem Beginn des Paternoster

••• Ein Spezialfall ist der Beginn des Matthäusevangeliums (Fol. 34 recto) mit dem Text zu Matthäus 1,18: Christi autem generatio sic erat: … (übers.: Mit der Abstammung Christi verhielt es sich so: …) wobei in Anlehnung an den griechischen Evangelien-Text Τοῦ δὲ Ἰησοῦ Χριστοῦ ἡ γένεσις οὕτως ἦν drei — aus den griechischen Buchstaben Chi (Χ) und Rho (ρ) und (grammatikalisch unmöglich) dem lateinischen Genitiv-i gebildete — Initialen stehen.
Χ und ρ hier gelb nachgezeichnet, unten rechts auf der Seite: generatio:

Winzig finden sich u.a. diese Details (hier grün und blau hervorgehoben):

• Grünes Rechteck: Zwei Mäuse packen ein rundes, gemustertes Ding, das aussieht wie eine Oblate oder ein Vollmond; dahinter hocken zwei Katzen, denen ihrerseits Mäuse etwas einzuflüstern scheinen. "Dissimilium societas" – Oder christlich tief-sinnig bedeutsam?

• Blaues Oval: Ein Otter hat einen Fisch gepackt. – Nun ist seit der Väterzeit das griechische Wort für "Fisch": ΙΧΘΥΣ ein Akrostichon für Christus: Χριστός [Christus] Θεού [Gottes] Υιός [Sohn] Σωτήρ [Erlöser]); vgl. https://www.rdklabor.de/wiki/Fisch_I --- bei III A

Aber dass dieser "Fisch" von einem Otter gefressen wird? Niedergestiegen zur Hölle und dann auferstanden?

Suzanne Lewis, Sacred Callygraphy. The Chi Rho Page in the Book of Kells, in: Traditio 36 (1980), pp. 139–159.
> https://www.jstor.org/stable/27831075

The Book of Kells. Reproductons … With a Study of the Manuscript by Françoise Henry, London: Thames and Hudcon 1974.


Zeilenfüller

Beliebt sind kleine schmale Mönsterchen, die am Zeilenende dafür sorgen, dass ein ›Blocksatz‹ zustande kommt:

Psautier de Peterborough; Koninklijke Bibliotheek van België, ms. 9961-62
> https://opac.kbr.be/LIBRARY/doc/SYRACUSE/16428696


Ikonographisch präzis bestimmbare (nur scheinbar ornamentale) Details

Hier würde Panofskys Begriff ›disguised symbolism‹ passen. Man spricht auch von ›hidden symbolism‹.

 

••• Beispiel: Susanna im Bade wird von den beiden Alten belästigt (Daniel Kapitel 13)

Der (deuterokanonische) Bibeltext spricht deutlich von der Liebesbrunst der beiden:

8 Die beiden Ältesten sahen sie täglich kommen und umhergehen; da regte sich in ihnen die Begierde nach ihr. — et videbant eam senes quotidie ingredientem et deambulantem et exarserunt in concupiscentiam eius
10 Beide hatten wegen Susanna Liebeskummer — erant ergo ambo vulnerati amore eius
20 »wir brennen vor Verlangen nach dir«:— in concupiscentia tui sumus

Das Bild hier zeigt die Szene – der pfeilschießende Amor als Brunnenfigur ist kein Ornament, sondern drückt die Begierden der beiden Alten aus:

Johann von Schwartzenberg, Das Buochle Memorial/ das ist ain angedänckung der Tugent, Augsburg 1534, Fol. CXII.

Auch auf diesem Bild schießt Amor einen Pfeil ab – und der geht gewaltig daneben, wie die Geschichte dann darlegt:

Tobias Stimmer (1539–1584) und Christoph Murer (1558–1614) (vgl. das ligierte kombinierte Monogramm unten links, für beide typisch am Ende des 16.Jh.) in:

D. Martinus Luther. Aus dem Exemplar / welches bey lebzeiten D. Luthers seligen/ zu Wittemberg / Anno etc. 45 außgangen / getrewlich nachgetruckt. Getruckt zu Tübingen / bey Georgen Gruppenbach / Anno 1591.
> http://digital.wlb-stuttgart.de/purl/bsz351584676

Matthias Scheits (a. 1630 – ca. 1700) gestaltet dann den Wasserspeier üppig aus, so dass er beinah zu einem selbständigen Bildteil wird, der mit der zu illustrierenden Szene nichts zu tun hat; er wird zum Ornament:

Luther-Bibel Lüneburg: Sterne 1672

https://digitale.bibliothek.uni-halle.de/vd17/content/titleinfo/12189849

Vgl. den Artikel von Lothar Freund, »Amor, Amoretten«, in: Reallexikon zur Deutschen Kunstgeschichte, Bd. I (1935), Sp. 641–651.
> https://www.rdklabor.de/w/?oldid=88733

••• Beispiel: Die Geschichte von David und Bathseba (II. Reg. = 2.Samuel, Kapitel 11), ist häufig dargestellt, v.a. in bebilderten Bibeln.

❑  Bathseba im Bade; König David, sie betrachtend. David trägt als König eine Krone. Er schaut vom Balkon seines Palasts herunter, das entspricht der Bibel (Vers 2).

Hans Sebald Beham, Bibla Germanica, Egenolff 1534.

❑  Hier der Holzschnitt, geschnitten von Christoph van Sichem d.Ä.:

aus: Flauij Josephi / des Hochberühmten Jüdischen Geschichtschreibers / Historien vnd Bücher Von alten Jüdischen Geschichten […] Straßburg: Theodosius Rihel 1611.

Neben David steht eine Harfe; das übliche Attribut Davids, der König Saul mit Saitenspeil ermuntert hat (1. Samuel 16, 14ff.) und als Dichter und Sängers des Psalters gilt, vgl. das Bild in der Zürcher Bibel 1531:

Der Brunnen bei der badenden Bathseba ist mit einem ••• Eroten geziert, ein Hinweis auf den verliebten Blick Davids; hier vergrößert:

❑  Dass David sündigte, als er Bathseba begehrte und ihren Ehemann Uria in den Tod schickte, wird von Tobias Stimmer (1539–1584) möglicherweise dadurch herausgestellt, dass er (rechts unten) einen ••• Affen bei der Szene zuschauen lässt.

Neue Künstliche Figuren Biblischer Historien, Basel 1576.

Der Affe kommt in der Bibel in dieser Szene nicht vor. Ist er ein amüsantes Detail? Der Affe gilt als töricht, auch als Sünder, und das könnte ein Hinweis auf David sein.

Zum Vergleich Frau Venus (mit Esel und Affe) fesselt Narren, aus: Sebastian Brant, »Narrenschiff«, Kapitel 13 Von buolschafft, wo Frau Venus u.a. Affen mit sich führt – hier aus der lat. Übersetzung »Stultifera nauis«, Augsburg 1497: De amore venereo

Alles über Affen bei Horst W. Janson, Apes and ape lore in the Middle Ages and Renaissance, (Studies of the Warburg Institute 20), London 1952.

❑ Matthäus Merian (1593–1650) baut die Szene dekorativ aus. Der Garten des Palastes ist prächtig dekorativ ausgestattet. Was soll die alte Frau, die Bathseba ein ••• Kästchen mit Münzen (?) anbietet? Im Bibeltext heißt es nur, dass David Boten zu Bathseba schickt.

Icones biblicæ præcipuas sacræ scripturæ historias eleganter & graphice repræsentantes. Biblische Figuren/ darinnen die Fürnembsten Historien/ in Heiliger und Göttlicher Schrifft begriffen/ Gründtlich und Geschichtsmessig entworffen […] Straßburg/ In verlegung Lazari Zetzners Seligen Erben 1625ff.

❑ Melchior Küsel gestaltet die Szene 1679 ebenfalls üppig. Zwei gigantische Säulen, die einen Himmels- und einem Erdglobus tragen, stehen im Hof des Palasts. Ein Konglomerat verschiedener Vorstellungen:

Icones Biblicae Veteris et Novi Testamenti. Figuren Biblischer Historien Alten und Neuen Testaments – Proprio aere aeri incisae, et venales expositae a Melchiore Kysel, Augustano. Impressum: Augustae Vind. anno Christiano MDCLXXIX.

• Die Säulen ähneln den Säulen Jachin und Boas, die gemäß 1.Könige 7, 15ff. aber erst von Davids Sohn Salomon vor dem Tempel errichtet wurden. (Hier eine spätere Darstellung:)

Biblia ectypa. Bildnußen auß Heiliger Schrifft deß Alten Testaments, […] ... hervorgebracht von Christoph Weigel in Regensburg 1697.

• Allenfalls könnte die Imprese von Philippus III. Rex Hispaniae, Indiae Et Siciliae [1578–1621] hineinspielen, wo der Himmelsglobus und der Erdglobus allegorisch gedeutet werden:

Et patri et Patriae (Sowohl für den Vater [Gott] als auch für das Vaterland) – Das wäre auf den Sänger der Psalmen und König des Großreichs von Juda und Israel anwendbar.

Aus: Salomon Neugebauer, Selectorum Symbolorum Heroicorum Centuria Gemina, Francofurti: Iennis, 1619 > http://diglib.hab.de/drucke/405-quod-2s/start.htm

• Der Hof mit den antiken Säulen und Stauten eirnnert an das Speculum Romanae Magnificentiae = Della Valle Museum:

Haec visuntur Romae, in horto Card. a Valle, eius beneficio, ex antiquitatis reliquiis ibidem conservata

Kupfer nach Maarten van Heemskerck (1498–1574) 1553
> https://www.britishmuseum.org/collection/object/P_1871-1209-4637

••• Moses vor dem brennenden Dornbusch – mit einer Schlange am Boden

Historiae celebriores Veteris Testamenti iconibus repraesentatae et ad excitandas bonas meditationes selectis Epigrammatibus exornatae. Nürnberg, Chr. Weigel 1708; 2.Auflage 1712. (Bilder gestochen von Ch. Weigel nach Caspar, Jan und P. Luyken, A. F. Meloni und P. Decker)

Das Bild zeigt Moses vor dem brennenden Dornbusch, in dem sich der Bote Gottes (Exodus 3,1–6) zeigt. Der die Schafe weidende Moses hat wie befohlen die Schuhe ausgezogen, und er verhüllt sein Gesicht. Die Darstellung ist häufig,
vgl. http://www.enzyklopaedie.ch/dokumente/gottesbilder.html#Dornbusch

Seltsamerweise kriecht vor Moses hier eine Schlange. Die kommt in der erwähnten Bibelstelle nicht vor. Ein Parergon? – Moses ist auch sonst mit Schlangen beschäftigt: Bald nach dieser Episode fragt er den Herrn, wie er den Ägyptern zu verstehen geben kann, dass er ihm erschienen sei; dieser lässt ihn den (Hirten-)Stab auf die Erde fallen, worauf er zu einer Schlange wird usw. (Exodus 4,1–5) – das tut Moses dann vor dem Pharao zur Beglaubigung (Exodus 7,8–13); und auch dazu hat diese Bibel zwei Seiten weiter das entsprechende Bild:

Sodann ist die auf einer Stange angebrachte eherne Schlange das Heilmittel für diejenigen, die sie anschauen (Numeri 21,6–9).

Die scheinbar unpassend im Bild zu Exodus 3,1–6 placierte Schlange verweist demnach auf andere Taten von Moses.

••• Der Hirsch im Wald bei Elias

Elias/Elija prophezeit eine Dürre, weil Israel den Baalen huldigt. Er selbst verzieht sich in an den Bach Chrith, wo der Herr ihm Raben schickt: Unnd die Rappen brachtend jm brot und fleisch des morgens und des abents/ und er tranck des bachs. (1.Könige [Vulgata: 3 Reg.] 17 hier nach dem Text der Zürcher Bibel 1531)

Chistoph Murer (1558–1614) verwendet die Szene zur Veranschaulichung der Aussage, dass Gott die Seinen nicht in Not lässt. Die späteren Verwender der Radierung setzten dazu den Titel Exempel der fürsehung Gottes. Providentia Dei:

XL EMBLEMATA miscella nova. Das ist: XL underschiedliche Außerlesene Newradierte Kunststuck: Durch Weiland den Kunstreichen und Weitberuempten Herrn Christoff Murern von Zürych inventiret unnd mit eygener handt zum Truck in Kupffer gerissen; An jetzo erstlich Zuo nutzlichem Gebrauch und Nachricht und allen Liebhabern der Malerey in Truck gefertiget/ vnd mit allerley dazu dienstlichen aufferbaulichen Reymen erkläret: durch Johann Heinrich Rordorffen/ auch Burgern daselbst. Gedruckt zuo Zürych bey Johann Ruodolff Wolffen. Anno M.DC.XXII. Emblem Nr. XXXI
> http://dx.doi.org/10.3931/e-rara-10598

Im Hintergrund im Wald erkennbar: ein Hirsch und auf dem Baum ein Eichhörnchen. Ornamentale Zugabe?

• Der Hirsch im Hintergrund: Elias sitzt an einem Bach, und so dürfte einem bibelkundigen – oder die Kantate op. 42 von Mendelssohn kennenden – Betrachter einfallen der Psalmvers 42 [Vg. 41],2: Wie der Hyrtz schryet nach den wasserbächen/ also schreygt mein seel zuo dir o Gott. (1531). Wäre sehr passend. — Vgl. den Artikel »Hirsch« von P. Gerlach im Lexikon der christlichen Ikonographie, Band 2 (Freiburg 1970), Sp. 286–289.

• Das Eichhörnchen kommt in der Bibel nicht vor. In der zeitgenössischen Emblematik finden sich keine zur Hauptszene direkt passende Symbolik. Allenfalls:

Das Eichhhörnchen muss die stacheligen Kastanien aufbrechen, um an den Kern heranzukommen: Joachim Camerarius, Symbola et emblemata, Band II (1595); Emblem LXXXXVII: Latet abdita.

Das Eichhörnchen hält seinen buschigen Schwanz über sich, um sich vor dem Regen zu schützen – so soll der Mensch widrige Umstände geduldig überstehen: Gabriel Rollenhagen, Nucleus Emblematum, Band I (1611); Emblem 26: Durabo.

••• Zerbrechende Statuen am Wegrand – ein Parergon?

Es gibt mehrere Bilder der Flucht von Maria mit dem Jesuskind und Joseph nach Ägypten – als Erfinder scheint jeweils Marten de Vos (1532–1603):

Kupfer von Jan Sadeler > https://philamuseum.org/collection/object/79971

Vita, Passio, et Resurrectio Iesu Christi
> https://nds.museum-digital.de/object/21223

Die Flucht nach Ägypten erwähnt Matthäus 2,13 — Aber was bedeuten die am Baum montierten herunterfallenden Statuen?

Im Pseudo-Matthäusevangelium heisst es – aber erst bei der Ankunft in Ägypten – Als die seligste Maria mit ihrem Kindlein den Tempel betreten hatte, geschah es, dass sämtliche Götterbilder zur Erde stürzten, so dass sie alle gänzlich umgestürzt und zerbrochen auf ihrem Angesicht lagen.

Konrad von Fußesbrunnen [1182 urkundl. erwähnt], »Die Kindheit Jesu«, (Ausgabe von Hans Fromm und Klaus Grubmüller, Berlin: de Gruyter 1973) Vers 1978ff.:

die gote stiezen her zetal
nâch ein ander ûf den esterich,
si muosten aller ie gelich
ze stückelinen brechen,
als ob si solden sprechen:
"sit der wäre got ist komen,
nu hat ende genomen
unser valschiu gotheit..."

Im Stundenbuch des Herzogs von Bedford (ÖNB) ereignet sich der Götzensturz wie im Text erwähnt in einer Tempelarchitektur:

Eine andere Deutung findet man auf dem Bild von Jacob Jordaens (1593–1678) pinxit / Paulus Pontius (1603–1658 ) sculpsit. Die herunterfallende Statue hält eine auffallend große Kugel in der Hand:

> https://artsandculture.google.com/entity/m04186gh?hl=de

Bildunterschrift: In Pharios Christus vehitur: Cito lapsat Adonis. Quid mirum? Tenebrae, sole oriente, labant. ≈ Christus wird nach Ägypten getragen; rasch fällt Adonis herunter. Ist das ein Wunder? Wenn die Sonne aufgeht, wanken die Finsternisse. (Adonis [vgl. Atôn] galt in der Antike auch als Sonnengott. Christus im Anschluss an Maleachi 3,20 bzw. 4,2 als Sonne der Gerechtigkeit.)

Ob der Pastor im Religionsunterricht damals das Detail im Bild erklärt hat?

Die Biblische Geschichte ... Für katholische Volksschulen. Mit 110 Abbildungen, von I[gnaz] Schuster [1813–1869], 1858, S. 145.

Vgl. den Artikel von Wolfgang Augustyn, "Flucht nach Ägypten", in: Reallexikon zur Deutschen Kunstgeschichte, Bd. IX (2001), Sp. 1352–1432 (dort auch Abb.28)
> https://www.rdklabor.de/w/?oldid=89172

 

••• Eine muntere Gesellschaft bei einem Imbiss – sonst nichts?

Adam van Noort (1562–1641) inv. / Adriaen Collaert (ca.1560–1618) sc.
> https://www.britishmuseum.org/collection/object/P_F-1-95

Aber die Bildunterschrift weist darauf hin, dass hier die Fünf Sinne personifiziert sind, die wir als Geschenk annehmen dürfen (ohne sie im einzelnen zu charakterisieren): Accipe homo quœ quinque ferunt tibi munera sensus ..... Die Tätigkeiten und Attribute weisen die 5 Sinne aus:

  • der Sehsinn mit Spiegel, Fackel, Adler
  • das Gehör mit Laute und Hirsch (Der Hirsch hört die Hunde des Jägers, wenn er die Ohren spitzt. Die alte Zoologie sagt: Er freut sich über den Gesang des Jägers, hört begierig zu und wird so erspäht und erlegt.)
  • der Geschmack mit Früchtekorb und Weinkelch
  • der Geruch mit duftenden Blüten
  • der Tastsinn (den testet der Mann an der Schulter der Dame) – Dient die Schildkröte unten rechts als Gegenbeispiel, d.h. Unempfindlichkeit wegen ihres Panzers?

"Colorit"

Weder als Ornament noch als Symbol im engeren Sinne kann man diese Erscheinung bezeichnen: Ein Bild-Element wird mit für das von ihm Dargestellte charakteristischen (z.B. zeittypischen) Attributen ausgestattet. Dabei erfolgt aber kein "semantischer Sprung" (Ausdruck von H.Lausberg) in eine andere Welt-Sphäre. In der semiotischen Terminologie (nach Ch. S. Peirce) handelt sich um einen "Index". Man könnte auch sagen: die bildnerischen Elemente sind für das Dargestellte symptomatisch, sie geben das "Colorit" ab. Ohne die Philosophie von E.Husserl oder R.Carnap zu bemühen könnte man auch im landläufigen Sinn von der "Gegebenheitsweise" in der dargestellten Lebenswelt sprechen.

Ein Beispiel-Paar soll dies anhand der Elemente Gebäudeformen; Kleidung/Rüstung erläutern.

Titi Liuij deß aller Redsprechsten vnd Hochberhümptesten Geschichtschreibers/ Rhömische Historien/ jetzund mit gantzem fleiß besichtigt/ gebessert vnd gemehret […]. Getruckt in der Churfürstlichen Statt Meyntz/ druch Junis Schöffers seligen Erben im Jare M.D.L.VII. [1557]. — Holzschnitt eines unbekannten Graphikers auf Fol. cxxxviij.

Die Gebäude sehen noch "gotisch" aus; und die Krieger tragen die Gewänder von zeitgenössischen Landsknechten.

Ein typisches Beispiel für diese Illustrationsweise sind die Holzschnitte in der Vergil-Ausgabe von Sebastian Brant (Straßburg 1502)
> http://digi.ub.uni-heidelberg.de/diglit/vergil1502

Wie antike Kostüme, Rüstungen usw. aussahen, lernte man bei Bernard de Montfaucon (1655–1741), L’antiquité expliquée et représentée en figures, Paris: Delaulne 1719ff.

Die Begebenheiten des Prinzen von Ithaca, oder: Der seinen Vater Ulysses suchende Telemach, Auß dem Französischen des Herrn von Fenelon in Deutsche Verse gebracht […] durch Benjamin Neukirch, Onolzbach: J.V. Lüders / Anspach: Huthoffer, 1727/1739. – Band I, pag. 145.

Im Hintergrund erscheint ein Turm wie die Trajanssäule; der Helm des Helden könnte von Montfaucon (Bild rechts) inspiriert sein:

   


Ornamentales im Bild-Inneren – oder doch bedeutsam?


••• Sphinx auf Thronwangen

Das erste Bild der deutschen Übersetzung von Ciceros »Cato major de senectute« = Büchlein von dem Alter (Erstausgabe 1522; Neudruck 1531) zeigt die drei Diskussionsteilnehmer Scipio, Laelius, Cato; letzterer auf einem Sessel, der mit einer skulptierten Wange – ein phantastisches Mischwesen darstellend – versehen ist. – Ein hübsches Ornament.

Des hoch berümpten Marci Tullii Ciceronis büchlein von dem Alter, durch herr Iohan Neüber ... vsz dem latein inn Teütsch gebracht, Augspurg: S. Grymm, 1522.
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https://www.digitale-sammlungen.de/de/view/bsb00048290?page=1
(Holzschnitt des sog. Petrarcameisters)

Wieder abgedruckt in: Officia M. T. C. Ein Buoch/ So Marcus Tullius Cicero der Römer/ zuo seynem Sune Marco. Von den tugentsamen ämptern vnd zuogehörungen eynes wol vnd rechtlebenden Menschen/ in Latein geschriben/ Welchs auff begere Herren Johansen von Schwartzenbergs &c. verteütschet/ …. Augspurg: Heynrich Steyner 1531.

In der Übersetzung von Petrarcas »de remediis« II,28 wird gezeigt, wie ein Patrizier vom König den Amtsstab entgegennehmen darf. Die schneckenförmige, in ein Phantasiewesen auslaufende Thronwange ziemt sich für einen Herrscher als Möbel-Ornament nicht übel.

Franciscus Petrarcha, Von der Artzney bayder Glück / des guten vnd widerwertigen […]. Augspurg: H. Steyner MDXXXII.

In »de remediis« I,92 ist das Thema die Nichtswürdigkeit von Ehren und Glorie. Obwohl der Papst in Petrarcas Text nicht genannt wird, zeigt das Bild den mit der Tiara gekrönten Papst inmitten von Kardinälen, Bischöfen und anderen Würdenträgern. Merkwürdig ist in diesem Kontext die Thronwange: die Skulptur einer Sphinx.

- Die konzeptionelle Vorlage für die Sphinx / Sphynx dürfte im Buch Esopi appologi sive mythologi cum quibusdam carminum et fabularum additionibus Sebastiani Brant, [Basel 1501] zu finden sein. (Brant ist auch sonst oft der Inspirator der Bilder.) Da heißt es: Die Sphinx ist ein ungeheuerliches Lebewesen in Äthiopien, das zur Familie der Affen gehört, ein dunkles Fell und zwei Brüste hat und einem Menschen ähnlich sieht. Die Dichter lassen sie Antlitz und Brust einer jungen Frau, Vogelfedern und Löwentatzen haben.

- Als formale Vorlagen für die Sphinx standen damals ornamentale typographische Füll-Leisten zur Verfügung. Das British Museum kennt solche Probeabzüge aus den 1520er Jahren:

https://www.britishmuseum.org/collection/object/P_1919-0616-47 (hier ein Ausschnitt)

Hier mehr zur Symbolik der Sphinx als PDF

Hier fragt sich, ob diese Figur eine symbolische Bedeutung hat. Sinnstiftend wäre

  • entweder das monströse und verderbliche Scheusal Sphinx, von der (wie oben erwähnt) S. Brant 1501 spricht. (Die Holzschnitte des Petrarcameistesrs sind vor 1523 entstanden, also zur Zeit harter Auseinandersetzungen zwischen den Protestanten und den Altgläubigen; und das Buch kennt Kritik am Papsttum.)
  • oder das, was der Kirchenvater Clemens von Alexandrien (ca.150 – ca. 215) meinte: Deshalb stellen auch die Ägypter vor den Tempeln die Sphinxbilder auf, um damit anzudeuten, dass die Lehre von Gott voller Rätsel und schwer verständlich sei, vielleicht aber auch um anzuzeigen, dass man die Gottheit lieben und fürchten muss, und zwar lieben, weil sie gegen die Frommen mild und gütig ist, fürchten aber, weil sie gegen die Gottlosen unerbittlich gerecht ist; denn die Sphinx weist auf das Bild eines wilden Tieres und auf das eines Menschen hin. (Stromata V, v, 5) — Freilich wurde dieser griechische Text erst 1550 ediert.

Allerdings auf einem nur zwei Jahre später erschienenen nicht signierten Holzschnitt: Hier wird ein vor dem Papst um Dispens Bittender gewarnt, er möge nicht lügen. Da kann nicht eine symbolische Verunglimpfung des auf dem Sphinxen-Thron Sitzenden gemeint sein:

Das Büchle Memorial, das ist ein angedänckung der Tugend, von herren Johannsen vonn Schwartzenberg jetzt säliger gedächtnuss, etwo mit Figuren und reimen gemacht; in: Der Teütsch Cicero, Augsburg: Steiner 1534. Fol. CXXVI verso
> http://daten.digitale-sammlungen.de/bsb00029340/image_1

Exkurs:

• Tatsächlich sind ähnliche Throne später ausgegraben worden; allerdings sind die Thronwangen eher Darstellungen von (ähnlich aussehenden) Chreubim (vgl. auch die Ausstattung des Tempels 1 Könige 6,23–28):

Thron mit schützenden Keruben (Elfenbein; Megiddo; 13./12. Jh.). Aus: Othmar Keel / Christoph Uehlinger, Götter, Göttinnen und Gottessymbole (QD 134), Freiburg 5. Aufl. 2001, Abb. 65. > https://doi.org/10.5167/uzh-41088

Martin Metzger, Königsthron und Gottesthron. Thronformen und Throndarstellungen in Ägypten und im Vorderen Orient im dritten und zweiten Jahrtausend vor Christus und deren Bedeutung für das Verständnis von Aussagen über den Thron im Alten Testament Kevelaer : Butzon & Bercker / Neukirchen-Vluyn : Neukirchener Verl., 1985; 1. Band: Text; 2. Band: Bildtafeln. Der Thron aus Meggido hier Band I, S. 260ff, Bild 1181 als Sphingenthron.

• Bei Abraham Kyburz (1704-1765) sitzt der hochgeehrte König Salomon auf einem solchen Thron. Hier die Szene, wo David (1.Chronik 28,11ff.) seinen Vater Salomo den Plan für den Tempel vorlegt:

Catechetische Kinder-Bibel, Oder Heilige Kirchen- und Bibel-Historien / Jn einem ordentlichen Zusammenhang, nebst einfaltigen Rand-Fragen, reichlichen Lehren und Gottseligen Betrachtungen sonderlich zum Dienst und Nutzen der lieben Jugend herausgegeben von einem Aufrichtigen Kinder-Freund, Bern: bey Joh. Bondeli seel. Wittib. 1744; S.251
> https://www.e-rara.ch/sikjm/content/titleinfo/2990356

• Jesus wird von Pilatus geführt und angeklagt. (Bilddeutung gemäß Kontext in deiser Bibel)

Pilatus befindet Jesus zunächst für unschuldig, möchte in freilassen (Paschafest-Amnestie: der Statthalter hatte die Gewohnheit, dem Volk einen Gefangenen loszugeben (Mt 27,15ff; Mk 15,6ff: Joh 18,38ff). — Dann aber verurteilt Pilatus Jesus zum Tod, um dem Volk Genüge zu leisten und um des Kaisers Freund zu bleiben (Joh 19,12ff)

Der Thron in dieser Bibel 1545 hat als Wange so eine zweinaturige Sphinx – ob damit auf den Sinneswandel von Pilatus angespielt wird?

Oder – vgl. die Krone auf dem Haupt – ist das die Szene, wo Jesus dem König Herodes vorgeführt wird?

Die gantze Bibel, das ist, Alle Bücher allts unnd neüws Testaments / den ursprünglichen Spraachen nach auffs aller treüwlichest verteütschet. […] Getruckt zuo Zürich bey Christoffel Froschouer, im Jar als man zalt 1545. (Zentralbibliothek Zürich Signatur RRg 34)

• Auf diesem Kupferstich von Maarten de Vos (invent.; 1532–1603) & Iacob de By (sculp.) ist (gemäß Bildlegende) König Herodes dargestellt. Herodes befragt Jesus, aber dieser antwortet nicht, worauf Herodes ihn verspottet (Luk 23,8ff.)

Aus der Serie Vita, Passio, et Resurrectio Iesu Christi varijs Iconibus à celeberrimo pictore Martino de Vos expressa … (vor 1603?)
> https://nat.museum-digital.de/object/801495

Jost Amman setzt Scipio in seiner Livius-Illustration auf einen solchen Thron in der Szene, wo er die Braut des Allucius freigibt:

Der Holzschnitt zuerst zu Livius »ab urbe condita« XXVI, 50 = im Jahr der Stadt 544

Von Ankunfft vnd Ursprung deß Römischen Reichs / der alten Römer herkommen / Sitten/ Weyßheit/ Ehrbarkeit/ löblichem Regiment / Ritterlichen Thaten. Jetzund auffs neuw auß dem Latein verteutscht/ und mit ordentlicher verzeichnuß der fünemsten Historien/ Jarrechnung/ kurtzer Liuischen Chronica/ und Register/ in den Truck verfertiget Durch Zachariam Müntzer. Mit schönen Figuren geziert/ … Frankfurt/Main: Raab / Feyrabend / Han 1568.

Hier aus: Neuwe liuische Figuren, Darinnen die gantze Römische Historien künstlich begriffen und angezeigt […], Franckfurt am Mayn: Georg und Weygand Han 1573.

Livius: Scipio war nach der Eroberung von Neukarthago eine schöne Frau als Gefangene zugefallen. Als Scipio sie nach ihrer Herkunft fragte, erfuhr er, dass sie mit Allucius, … verlobt sei. Darauf ließ der Feldherr ihre Eltern und ihren Bräutigam zu sich kommen, versicherte ihnen, dass … er ihr die Freiheit schenken wolle. Als Gegenleistung forderte er von Allucius, ein Freund des römischen Staates zu werden. Die kostbaren Geschenke, die ihm die Eltern des Mädchens angeboten hatten, wies er zurück und übergab sie dem jungen Paar als Brautgeschenk.

Aulus Gellius, »Noctes atticae« VII, viii, 6 zitiert freilich einen Geschichtsschreiber, der über die Sittenhaftigkeit Scipios anders urteilt und berichtet, dass er die gefangene Jungfrau ihrem Vater nicht zurückgegeben, sondern sie für sich zu ergötzlichem Liebesspiel bei sich behalten habe.

Kaum vorstellbar, dass Jost Amman diese zwei Aspekte von Scipio kannte und deshalb seinen Thron mit der zweilichtigen Gestalt der Sphinx ausstattete …

 

• In dieser bebilderten Bibel sitzt Saul auf einem solchen Thron; seltsamerweise die Skulptur zwischen den Beinen! Saul ist zwar Israels erster König, wird aber (1.Samuel 15) verworfen und dann auch von einen bösen Geist verstört; also auch eine etwas zwielichtige Figur.

Die Szene, da David ihm das abschlagene Gaupt des Goliath übergibt.

Jan Philipszoon Schabaelje (1585?-1656), Den Grooten Figuer-Bibel […]. Historiae Sacrae Novi Testamenti elegantissimis iconibus expressae a variis huius ac superioris seculi pictoribus atque sculptoribus / Prentbijbel met voorstellingen uit het Oude en Nieuwe Testament, Amsterdam 1646.
> https://www.rijksmuseum.nl/en/collection/RP-P-1982-306

• Hier sitzt der Bösewicht Eglon auf einem ähnlichen Thron; man könnte – weil die Graphiker dieser Bibel öfters historische Elemente verwenden – von Colorit sprechen:

Eglon, König der Moabiter, war 18 Jahre lang einer der Unterdrücker Israels. Der Linkshänder Ehud wurde vom HErrn dazu ausersehn, ihn umzubringen. Mit einem unter dem Mantel verborgenen Schwert begab sich Ehud zu Eglon und tötete ihn, als er unter dem Vorwand geheimer Botschaft mit dem König allein gelassen war. (Richter 3, 12–30).

Cassell’s Illustrated Family Bible, London / New York: Cassell, Petter & Calpin, 1860. — Daraus in > Illustrirte Pracht-Bibel oder die ganze Heilige Schrift ..., Verlag der Englischen Kunst-Anstalt von A. H. Payne, Leipzig/Dresden [erschlossen: 1862].

Vgl. Karl-August Wirth, Artikel "Ehud und Eglon" in: Reallexikon zur Deutschen Kunstgeschichte, Bd. IV (1956), Sp. 885–893 > https://www.rdklabor.de/w/?oldid=88799

Vgl. Heinz-Dieter Neef, Artikel "Eglon" > https://www.bibelwissenschaft.de/stichwort/16884/

• Seit der Barockzeit werden die Sphinxe gern als Ornament verwendet:

Johann Andreas Pfeffel, Güldene Aepfel in silbernen Schalen: das ist Worte geredet zu seiner Zeit über 400. Sinnbilder von allerley Zeiten und Umständen des menschlichen Lebens, Augspurg: Detleffsen 1746.

• Auf dem Titelkupfer eines ägyptologischen Buchs prangt eine Sphinx – die dann freilich im Buch selbst gar nicht vorkommt:

Richard Pocockes … Beschreibung des Morgenlandes und einiger anderer Länder. Der erste Theil von Egypten, Erlangen: Verlag des Stifthauses 1754.
> https://www.digitale-sammlungen.de/de/view/bsb11062211?page=6
Ausgabe 1791 > http://dx.doi.org/10.25673/78902

Richard Pococke (1704–1756) hat auf seinen Reisen in Ägypten wohl keine solche Sphinx gefunden. Sie dürfte von einer spätantiken Münze abstammen, vgl.

https://ikmk.smb.museum/object?lang=de&id=18202449&view=rs

Also keine mimetische Abbildung, sondern ein Ornament.

• Umgekehrt: "Ent-ornamentalisierung"

Hendrik Goltzius (1558–1617): Portrait des Malers Hans Bol (1534–1593)


> https://www.britishmuseum.org/collection/object/P_O-6-54

Die geflügelten Putti oben (links: mit Lupe vor einem Globus und Zeichenstift auf Büchern sitzend) stehen wohl für die Kunstfertigkeit beim graphischen Gewerbe. — Die beiden Sphinxen sind sicherlich einem Ornamentrahmen entlaufen, sie sollen aber wahrscheinlich durch die Beigaben (links: geometrische Instrumente / rechts Malerpalette und Pinsel) als Personifikationen der Geometrie und der Malkunst gedeutet werden.

Zum Vergleich: Porträt von Dietrich Meyer, Aetatis Suæ 62 Anno 1633, gezeichnet von seinem Sohn Rudolf Meyer (1605–1638). Hier sind die Sphinxen am Rand rein ornamental:

> https://doi.org/10.7891/e-manuscripta-50786

••• Landschaft im Hintergrund – verschiedene Varianten

In der mittelalterlichen Tafelmalerei gab es den Goldgrund; die Figuren waren mithin freigestellt. Dann (vgl. Giotto, Simone Martini) kamen naturalistische Ausblicke auf.

❑  Hintergrundlose Bilder findet man nur selten in Holzschnitten vor 1500.

König David und Urias (2. Samuel 11) von Hans Holbein in: Historiarum veteris Testamenti Icones ad vivum expressae, Lugdunum, 1538

Die Graphiker hatten einen horror vacui und füllten den Raum aus:

❑  ornamental, z.B. auf dem Zwischentitel zum Buch der Vögel im Ortus Sanitatis, Mainz: Jacob Meydenbach 1491: http://daten.digitale-sammlungen.de

(Es braucht einfach Häuser, damit die Störche dort nisten können...)

❑  realistisch-bedeutsam, z.B. wenn die Heilige Ursula in Köln eintrifft. Die Stadvedute mit dem im Bau befindlichen Dom wird im Buch auch sonst präsentiert:

Die Cronica van der hilliger Stat van Coellen. […] hait gedruckt Johan Koelhoff Burger in Coellen [1499]
> https://archive.org/details/diecronicavander

❑  symbolisch: In dieser Bilderbibel zeigt Jost Amman (1539–1591) den Apostel Petrus, der einem Boten einen seiner Briefe übergibt.

Neuwe Biblische Figuren/ deß Alten vnd Neuwen Testaments/ geordnet vnd gestellt durch den fürtrefflichen vnd Kunstreichen Johan Bockspergern von Saltzburg/ den jüngern/ vnd nachgerissen mit sonderm fleiß durch den Kunstverstendigen vnd wolerfahrenen Joß Amman von Zürych. […]. Getruckt zu Franckfurt am Mayn/ durch Georg Raben/ Sigmund Feyerabend/ vnd Weygand Hanen Erben M.D.LXIIII.1564 (Auf dem Brief das Monogramm S F des Formschneiders Sigmund Feyerabend.)

Im Hintergrund erscheint ein merkwürdiges Gebäude mit einer Kuppel. Insofern als man in der früheren Zeit annahm, dass Petrus in Rom unter Nero gekreuzigt wurde, könnte ein Bauwerk Roms intendiert sein.

Vgl. Christfried Böttrich, Artikel "Petrus" in
> https://www.bibelwissenschaft.de/stichwort/53872/

Und: Apokrpyhe Petrusakten Kap. 33–41

(Die Kuppel des Petersdoms war 1564 noch nicht fertiggebaut.) Am wahrscheinlichsten ist der Bezug zum Tempietto di Bramante (1502) in San Pietro in Montorio (die Memorialanlage der Kreuzigung Petri !), von dem es bereits Abbildungen gab (links):

  

(conjecturam meam, quando aliud non possum, proponam...)

IACOBVS ANDROVETIVS DV CERCEAV = Jacques Androuet du Cerceau (1515–1585) Qvoniam Apvd Veteres Alio Strvctvrae Genere Templa Fvervnt Aedificata ... : Aliqvot Templorvm Antiqvo More Constrvctorvm Exemplaria […| Avreliae [Orléans] 1550.
> http://digital.wlb-stuttgart.de/purl/kxp1672192692

> https://archive.org/details/iacobvsandroveti00andr/page/n11/mode/1up
(In diesem Buch sind mehrere römische Kuppelbauten abgebildet, die Amman als Inspiration dienen konnten.). (Freundlicher Hinweis von P. Bichsel)

In der Bibelillustration von Virgil Solis (1514–1562) aus dem Jahr 1560 ist im Hintergrund der Szene mit dem einen Brief absendenden Petrus ebenfalls eine Stadt dargestellt – ist hier die Trajanssäule in Rom gemeint? — Oder schlicht der Typus einer Stadt?

❑ ❑ Hier ein Beispiel für eine Minimalopposition:

Das Emblem Mutuum auxilium zeigt, wie sich ein Blinder und ein Lahmer wechselseitig helfen, indem der Blinde den Lahmen auf den Rücken nimmt und dieser beiden den Weg zeigt:

Die beiden Figuren sind ›freigestellt‹.

Andrea Alciato, Emblematum Libellus, Paris 1534, pag. 26

Spätere Ausgaben von Alciatos Emblembuch haben diese Variante:

Die Landschaft im Hintergrund ist beliebig; sie hat eine wirklichkeits-erzeugende Funktion.

In demselben Emblembuch eine ähnliche Szene, wo ein Jugendlicher einen alten Mann auf dem Rücken trägt:

Zum Thema Pietas filiorum in parentes zeigt dieses Bild den seinen Vater Anchises aus der brennenden Stadt Troja tragenden Aeneas. Der landschaftliche Hintergrund ist mithin nicht zufälliges Ornament; auch der Ausblick aufs Meer nicht, denn darüber flüchten die Trojaner ja dann... (Vergil, Aeneis II,707ff.; Ovid, Metamorphosen XIII,623ff.)

Emblemata Andreae Alciati ... : postremo ac ultimo ab ipso authore recognita, imaginibusq[ue], vivis ac lepidis denuo artificiosissime illustrata. Adiecta sunt insuper perelegantia ac docta epimythia seu affabulationes, in quibus emblematum amplitudo & quae in iis dubia vel obscura sunt, perspicue declarantur, Francofvrti ad Moenvm, apvd Georgivm Corninum, sumptibus Sigismundi Feyerabendt & Simonis Huteri, 1567.

Dass diese Szene dargestellt ist, erweist sich aus der Parallele in Geschichtswerken:

Neu-eröffneter historischer Bilder-Saal: das ist, kurtze deutliche und unpassionirte Beschreibung der Historiae universalis, von Anfang der Welt biss auf unsere Zeiten […] in mehr als 1000 Kupfferstücken gar kennlich fürgestellet … Erster Theil: Enthaltend die Geschichten von Anfang der Welt, biss auf die Geburt Jesu Christi und bald darauf erfolgten Todt Käysers Augusti, Nürnberg: Johann Leonhard Buggel, 3.Auflage 1703; Seite 8–9.

• Ergänzung: Die Bepflanzung am Rand im folgenden Emblem mit demselben Thema ›der Blinde und der Lahme‹ ist nicht ornamental, kein Parergon:

Der alte Baum hilft der Weinrebe, die von selbst nicht aufrecht stehen kann, dazu. — Eine Parallele zum Hauptthema.

Proscenium vitæ humanæ, sive Emblematvm Secvlarivm, Ivcvndissima, & artificiosissima varietate Vitæ Hvmanæ & seculi huius deprauati mores, ac studia peruersissima. Versibvs Latinis, Germanicis, Gallicis & Belgicis ita adumbrantium […] Weltliche lustige newe Kunststück/ der jetzigen WeltLauff fürbildende […] Durch Joan. Theodorum de Bry, Franckfurt: Fitzer 1627.
> http://diglib.hab.de/drucke/xb-6550/start.htm

Das Motiv kommt in der Emblematik auch gesondert vor. Der Weinstock wird vom Lorbeerbaum gehalten; der Lorbeer bringt zwar den Menschen keine Nahrung, aber durch diese Hilfeleistung vermag der Weinstock seine Früchte hervorzubringen:

Vierhundert Wahl-Sprüche und Sinnen-Bilder, durch welche beygebracht und außgelegt werden die angeborne Eigenschafften, wie auch lustige Historien und Hochgelährter Männer weiße Sitten-Sprüch. Und zwar Im 1. Hundert: Von Bäumen und allerhand Pflanzen. […] Vormahls durch den Hochgelährten Hn. Ioachimum Camerarium In Lateinischer Sprach beschrieben[…], Maintz: Bourgeat 1671. Emblem Nummer 37. [Erstausgabe 1590]

Auch hier ist die fruchttragnde Weinrebe, die sich um einen Baum rankt, kein Ornament, sondern besagt allegorisch, dass im Ehestand gegenseitige Hilfe herrschen soll:

Matthäus Holtzwart, Emblematum Tyrocinia, sive picta poesis Latinogermanica, das ist eingeblümete Zierwerck oder Gemälpoesy innhaltend allerhand Geheymnußlehren durch kunstfündige Gemäl angepracht und poetisch erkläret, Nun erstmals inn Truck kommen, Straßburg: B.Jobin 1581.
> http://diglib.hab.de/drucke/t-355-helmst-8f-2/start.htm?image=00093

❑  Bedeutsame Landschaft im Hintergrund einer biblischen Szene

1. Beispiel: Der Wunderbare Fischzug Petri (Luk. 5,1–11 und Joh. 21, 1–11) wird beispielsweise im 1. Drittel des 12. Jhs. so dargestellt:

Evangelistar, Bayerische Staatsbibliothek Clm 2939
> https://nbn-resolving.org/urn:nbn:de:bvb:12-bsb00035435-7

In einem Plenar 1488 sieht die Szene so aus:

Ewangelj mit der glos vnnd Epistl’ teutsch über das gantz iar allenthalben darbey der anfang; der psalm; vnnd die collect ainer yedlichen meß; nach ordnung der christlichen kirchen, Straßburg: Thomas Anshelm 1488.
> https://mdz-nbn-resolving.de/bsb00030611

Konrad Witz verlegt die Szene auf dem Bild des Petrusaltars (1444) an den Genfer See:

Im Hintergrund ist das Panorama erkennbar, das man vom Ufer der Stadt Genf aus sieht: Les Voirons – Le Môle – Mont Blanc – Salève.

Die Landschaft ist hier nicht einfach ein beliebiger Bild-Hintergrund, sondern will vermutlich sagen: Die Wunder Jesu sind nicht historische einmalige Begebenheiten in Palästina, sondern ereignen sich immer wieder in der Gegenwart und ganz in der Nähe, hic et nunc.
Vgl. > http://www.enzyklopaedie.ch/dokumente/Funktionen.html

Wolfgang Augustyn, Fischzug, wunderbarer […], in RDK IX (1990), Sp. 305–396
> https://www.rdklabor.de/w/?oldid=88759

Anhang:

Und was bedeuten die drei Fischreiher auf dem Bild zu diesem Thema bei Raffael?

Hier in der Kopie von Nicolas Dorigny (ca. 1658 – 1746) 1719 (Victoria and Albert Museum, London) > https://www.wga.hu

> https://de.wikipedia.org/wiki/Datei:Petri_Fischzug_Raffael.jpg

2. Beispiel: Maria und Joseph mit dem kleinen Jesus auf der Flucht nach Ägpyten (Matthäus 2,13f.) ist eine häufig dargestellte Szene. (Vgl. Wolfgang Augustyn, Flucht nach Ägypten, in: RDK
IX (2001), Sp. 1352–1432 > https://www.rdklabor.de/w/?oldid=89172 )

Afbeeldingen der voornaamste historien, soo van het Oude als Nieuwe Testament; door verscheide van de geestrykste en vermaardste tekenaars en plaatsnyders seer kunstig afgebeeld: uitgegeven door Nicolaus Visscher, met privilegie [ca. 1700]

Auf dem Altarbild in der Chapelle Sainte-Apolline in Villars-sur-Glâne (Kanton Freiburg/ Schweiz) wandern die drei biblischen Gestalten an der Chapelle Sainte-Apolline vorbei:

Bilder aus > https://de.wikipedia.org/wiki/Kapelle_Sainte-Apolline

Danke für den Hinweis an unser Mitglied R.Z. in V.

❑ Umgekehrt: Bedeutsame biblische Szene im Vordergund eines Landschaftsbilds

Von den Augsburger Künstlern Johann Wilhelm Baur und Melchior Küsel gibt es eine Reihe von Stadt(-Teil-)Ansichten aus Italien; darunter diesen Prospect der Burgen, Wasserfahl, und Vestung, eine Meyl v. Lucca:

Ioannis Guilielmi Baurn Iconographia complectens in se passionem, miracvla, vitam Christi vniversam nec non prospectvs rarissimorvm portvvm, palatiorvm, hortorvm, historia... Avgvstae Vindelicorvm: Melchior Kysell 1682. – Teil III (Dank an A.M. in B. für den Hinweis!)

Die Vedute zeigt den Ponte della Maddalena, auch genannt Ponte del Diavolo (Teufelsbrücke), die mittelalterliche Brücke über den Serchio.

Vorne ein nebensächliches Detail, das das Landschaftsbild etwas belebt? Dann hätten die Zeichner auch zwei menschliche Fischer mit einem Hund darstellen können.

Mit den Figuren vorne wird angespielt auf die Geschichte im Buch Tobie 6,1ff. : VND Tobias zoch hin / vnd ein Hündlin lieff mit jm. Vnd die erste Tagereise bleib er bey dem wasser Tygris. Vnd gieng hin / das er seine Füsse wüssche / Vnd sihe / ein grosser Fisch fuhr eraus / jn zu verschlingen. Fur dem erschrack Tobias / vnd schrey mit lauter stimme / vnd sprach / O Herr / er wil mich fressen. Vnd der Engel sprach zu jm / Ergreiff jn bey den Flosfeddern / vnd zeuch jn heraus. Vnd er zog jn auffs land / da zappelt er fur seinen füssen usw. (Lutherbibel 1545). — Hier sind die drei bereits unterwegs zum erblindeten Vater von Tobias, der dann mit der Fischgalle geheilt werden wird. Detail:

Macht die Szene eventuell eine Sinn-Offerte: ›So heilt der HErr uns überall und noch heute!‹ ?

••• Bildimmanente Weiterführung eines Motivs?

Dass bei der Szene von Noah und seinen drei Söhnen (Genesis 9,18–29) ein Weinstock dargestellt ist, versteht sich; das ist kein Ornament (auch kein Symbol):

9,20 Noah, ein Ackerbauer, war der Erste, der einen Weinberg pflanzte. 21 Er trank von dem Wein, wurde davon betrunken und entblößte sich drinnen in seinem Zelt. 22 Cham sah die Blöße seines Vaters und erzählte davon draußen seinen beiden Brüdern.

Bild in der Schedelschen Weltchronik (1493), Fol. XV verso

Aber was tut der Geißbock / Widder / Hammel hier? (Tiersymbolik mit Bezug zur biblischen Szene? oder Parergon?)

[Andreas Osiander]: Catechismus oder Kinderpredig, [Nürnberg]: Petreus 1533.
> https://www.digitale-sammlungen.de/de/view/bsb00056255?page=1


Ästhetische Eigendynamik

Mitunter ›feiert‹ die ästhetische Produktivität über das vom Bildinhalt hinaus Verlangte. Am besten wird das speziell Artifizielle erkennbar, wenn der Bildinhalt durch Text und Tradition bestimmt ist.

Erstes Beispiel:

Melchior Küsel illustriert 1679 die Szene aus Matthäus 9,9ff.: Jesus ist in seinem Haus (!) beim Essen; da kommen viele Zöllner und Sünder und essen zusammen mit ihm und den Jüngern:

Die Wohnstätte des historischen Jesus muss man sich wohl anders vorstellen; aber warum soll man den Gottessohn nicht in einen Palast zeichnen? Indessen: Die Demonstration des Preziösen, des Kunstvollen scheint doch den stilistischen Ausschlag gegeben zu haben (Colorit).

Icones Biblicae Veteris et Novi Testamenti. Figuren Biblischer Historien Alten und Neuen Testaments – Proprio aere aeri incisae, et venales expositae a Melchiore Kysel, Augustano. Impressum: Augustae Vind. anno Christiano MDCLXXIX.

Zweites Beispiel:

Johann Ulrich Kraus illustriert die Geschichte von Susanna und den beiden Alten (Daniel Kapitel 13):

Dass Susanna im Garten ihres Mannes badet, steht im Bibeltext, aber Kraus illustriert die Szene, als befinde man sich einem barocken Park (Belvedere in Wien wurde erst ab 1714 gebaut !)

Historische Bilder-Bibel, welche besteht in Fünff Theil/ Als: Erster Theil/ der Patriarchen. Ander Theil/ der Richter in Israel. Dritter Theil/ der Könige in Jerusalem. Vierdter Theil/ der Propheten. Fünffter Theil/ der Apostel / [gezeichnet und in Kupffer gestochen von Johann Ulrich Kraussen], 1705; Tafel 111.

Drittes Beispiel:

FALSITAS – Die Falschheit (Gottfried Eichler 1715–1770 del.)

Des berühmten Italiänischen Ritters, Cæsaris Ripæ, allerleÿ Künsten, und Wissenschafften, dienlicher Sinnbildern, und Gedancken, Welchen jedesmahlen eine hierzu taugliche Historia oder Gleichnis beÿgefüget. Joh. Georg Hertel in Augspurg [vor 1761] — Nr. 127

Personifikation: Eine alte Frau mit der Maske einer jungen; mit Fischerrute (um die Fische im Wasser zu überlisten) in der Hand; begleitet von einem Panther (der mit seinem schönen Fell vortäuscht, dass er ein Raubtier ist; nach Cesare Ripa, s.v. Inganno); auch die beiden Krüge im Vordergrund werden eine Bedeutung haben.

Im Hintergrund – wie immer in diesem Buch – eine exemplarische Szene. Hier: Ein Mann ersticht einen anderen.

Abner* hat es nicht erwogen,
wird durch Ioabs Kuß betrogen.

*) Titel und Bildunterschrift sind insofern falsch, als nicht Abner von Joab heimtückisch ermordet wird, sondern Amasa; und ebenso falsch mit der rechten Hand:

2.Samuel 20,1–10 (= II Reg.): Joab sagte zu Amasa: Geht es dir gut, mein Bruder? und griff mit der rechten Hand nach dem Bart Amasas, um ihn zu küssen. 10 Amasa aber achtete nicht auf das Schwert, das Joab in der [linken!] Hand hatte, und Joab stieß es ihm in den Bauch, sodass seine Eingeweide zu Boden quollen.

Und die prächtige Portal-Architektur? Die Szene ist in der Bibel lokalisiert beim großen Stein in Gibeon. (Das zeichnen mehrere Illustratoren so.) G.Eichler dagegen bevorzugt immer üppige – aber bedeutungslose – architektonische Elemente.

Vgl. Gerlind Werner, Artikel "Falschheit", in: Reallexikon zur Deutschen Kunstgeschichte, Bd. VI (1974), Sp. 1374–1407. > https://www.rdklabor.de/w/?oldid=89140

Zur Tradition des Bilds vgl. Karsten Falkenau, Die "Concordantz Alt vnd News Testament" von 1550. Ein Hauptwerk biblischer Typologie des 16. Jahrhunderts illustriert von Augustin Hirschvogel, Regensburg 1999, S. 65 (zu Tafel 40a).

Viertes Beispiel:

• Im (zuerst in der Ausgabe Riga 1679) mit Emblemen angereicherten Buch von Johann Arndt steht dieses Bild:

Des Hocherleuchteten Theologi, Herrn Johann Arndts, Samtliche Sechs Geistreiche Bücher Vom Wahren Christenthum […]. Neue Auflag mit Kupferen, Samt Richtigen Anmerckungen, kräfftigen Gebätteren über alle Capitel, und einem sechsfachen Register, Zürich, in Bürcklischer Truckerey getruckt 1746. Emblem Nr. 24: Dennoch gerade.

Hier ist ein weites Trinck-Glaß über die Helffte mit Wasser gefüllet, in welches ein länglich gleiches Holtz gethan, welches aber im Wasser krumm und ungleich zu seyn scheinet, ob es gleich gerade ist und bleibet.
Hiemit wird angedeutet, daß, obgleich ein Christ, der aufrichtig wandelt, von der Welt getadelt, übel geurtheilet und gelästert wird, er dennoch derjenige bleibet, der er ist, ein frommer und rechtschaffener Chris
t […].

• In einer späteren Ausgabe wird dem Glas mit dem Holzstab unsinnigerweise eine volle Flasche beigesellt, was die zentrale Aussage verwischt und falsche Assoziationen wecken kann. Auch die Aussicht aus dem geöffneten Vorhang ist reines Parergon:

Erbauliche Sinnbilder. 56 Bilder mit Reimdeutungen und Bibelsprüchen entnommen den alten Ausgaben von Johann Arndt’s wahrem Christenthum. Neu gezeichnet von J. Schnorr, Stuttgart: Steinkopf 1855. [hier aus der Auflage 1876]


Mittelalterliche Bauplastik

 

Von der ästhetischen Leistung über Ornament zum Symbol:

Das Kapitell hat die ästhetische Aufgabe, nach unten zum runden Pfeilerschaft hin das Lasten, und nach oben – über den viereckigen Kämpfer – zum Gewölbe hin das Sich-Entfalten auszudrücken.

Die primitivste Form ist das sog. Würfelkapitell:

Im korinthischen Kapitell wächst der Akanthus aus dem runden Säulenschaft; die ›Helix‹ betont den Knauf / die Ecke oben unter dem quadratischen Kämpfer; und die Rose betont die Mitte. Solche Kapitelle wurden auch (ohne antike Vorlage?) im Mittellalter gemeisselt:

Großmünster Zürich, Sanktuarium

Mit dem Bild einer doppelschwänzigen Sirene gelingt es, den Kopf an die Stelle des Knaufs und die beiden Schwänze in die Fläche zu legen; die ästhetische Aufgabe ist perfekt erfüllt:

Saint-Dier d'Auvergne
> http://www.etudes-chapiteaux-romans.com/Brioude

Derselbe Effekt entsteht auch, wenn der Kopf an der Stelle der korinthischen Rose steht und die Schwänze quasi die Helix bilden:

Cathédrale Saint-Caprais Agen (Lot-et-Garonne)
> https://www.bildindex.de/document/obj20840569

Ein zeitgenössischer Betrachter konnte freilich die aus dem »Physiologus« bekannte Symbolik der Sirenen assoziieren:

Der Physiologus erzählte von den Sirenen […], dass die Sirenen todbringende Geschöpfe im Meere sind. Wie die Musen singen sie mit ihren Stimmen. Und wenn die Vorüberschiffenden ihre Weisen hören, stürzen sie sich in das Meer und kommen um. Sie haben aber die Gestalt eines Weibes bis zum Nabel; zur anderen Hälfte haben sie die Gestalt eines Vogels.

So hat jeder Mensch zwei Seelen, unbeständig in allen seinen Wegen. Es sind manche in der Kirche versammelt zwar mit dem Scheine eines gottseligen Wesens, aber seine Kraft leugnen sie. Und in der Kirche sind sie wie Menschen; wenn sie aber hinausgegangen sind, werden sie töten. Diese sind nun Ebenbilder der Sirenen […]

Aus einem Bestiar des 13.Jhs.:

> https://www.bl.uk/manuscripts/Viewer.aspx?ref=sloane_ms_278_fs001r

Auch diese Figur eines Löwen mit éinem Kopf und zwei Leibern (Großmünster Zürich, Portal) ist wohl kein ›Symbol für die Überwindung der Gegensätze‹, sondern dient der Ästhetik:

Bernhard von Clairvaux († 1153) ärgert sich in seinem Brief »Apologia ad Guillelmum Abbatem« ¶ 29, über solche entstellte Gestalten (wie sie die Cluniazenser in ihren Kirchen haben), ohne ihnen indessen eine symbolische Deutung zu unterstellen: Videas sub uno capite multa corpora, et rursus in uno corpore capita multa. ≈ Hier kann man unter einem Kopf viele Leiber sehen, dort wieder auf einem Körper viele Köpfe.

Darstellungen am Rand:

• Beispiel: Kapitelle im Kreuzgang des Zürcher Großmünsters (um 1200).

Aquatintablätter von Franz Hegi (1774–1850) in: Anton Salomon Vögelin, Der Kreuzgang beim Großen Münster in Zürich in: Mittheilungen der Antiquarischen Gesellschaft in Zürich, Erster Band Zürich, in Commission bei Meyer und Zeller [1841].

Im unteren Teil ist dargestellt: Delila schneidet dem Simson die 7 Locken ab (Richter 16, 4–20).

Delila (oder Dalila), die Geliebte Simsons, wird von den Philistern bestochen: Sie soll herausfinden, was seine übernatürliche Kraft bewirke. Drei Mal kann Simson sie davon abbringen, schließlich verrät er sein Geheimnis: Seine Kraft hängt davon ab, dass sein Haupthaar nie geschnitten wurde. Delila lässt ihn auf ihren Knien einschlafen und die sieben Locken abschneiden. Jetzt können ihn die Philister fesseln und blenden. – Der Bezug zwischen dem Bibeltext und dem Bild ist hinlänglich klar.

Aber was ist oben dargestellt? Wie bei den Buchseiten steht das phantasievolle Bild am Rand. Und auf anderen Kapitellen wie hier ?

Hier sind wir schon bei den Drôlerien.

 

Vom Symbolbild zum (Pseudo-)Ornament

Beim mittelalterlichen Kunstbetrieb ist stets mit Depravierungen* einer ursprünglich formal gut ausgebildeten Gestalt zu rechnen; Umformungen ins stilistisch Schlichtere, vom Realistischen ins Ornamentale über mehrere Stufen hinweg können weit vom urspünglichen Original fortführen. Schön hat das Zygmunt Swiechowski (1920–2015) aufgezeigt an einer Reihe von Darstellungen des letzten Abendmahls auf Kapitellen.

*) Damit soll keinesweges die unselige ›Theorie des gesunkenen Kulturguts‹ von Hans Naumann (1886–1951) repristiniert werden.

Das Kapitell in Payerne liegt punkto Ver-Ornamentalisierung dazwischen:

aus: Suisse Romane, Zodiaque, 2 éd. 1967.


Ornamentale Drôlerien

In vielen Fällen kann man kaum eine Symbolik zuordnen:

Aquamanile

Aquamanile bereits aus ottonischer Zeit, hier ein Beispiel aus dem Louvre:

Gargouille

Die spätgotischen Wasserspeier (frz. gargouille) an den Außenwänden von Kathedralen Hier aufgenommen von Eugène Viollet-le-Duc, Dictionnaire raisonné de l’architecture française du XIe au XVIe siècle (1854–68):

Wasserkännel

an Brunnen, hier aus Vitruvius, Des aller namhafftigisten unnd hocherfahrnesten/ Römischen Architecti/ unnd kunstreichen Werck oder Bawmeisters/ Marci Vitruvij Pollionis/ Zehen Bücher von der Architectur und künstlichem Bawen. ... Erstmals verteutscht/ unnd in Truck verordnet. Durch/ D. Gualtherum H. Rivium .... - Basel: Henricpetri [1614]

Miserikordien

An den aufklappbaren Sitzbrettern in (bes. gotischen) Chorgestühlen waren kleine Stützen angebracht, die den während der Messe lange Zeit zum Stehen verpflichteten Mönchen eine behelfsmäßige Sitzgelegenheit boten. — Auf der Unterseite finden sich aus Holz gefertigte Plastiken, nur selten erbaulichen, eher humorvollen Inhalts.
> https://en.wikipedia.org/wiki/Misericord

Aus St Laurence’s Church in Ludlow (Shropshire)
> https://www.misericords.co.uk/ludlow.html (auf dieser Website weitere Beispiele)

Christa Grössinger, The World Upside Down: English misericords. London: Harvey Miller 1997.

Songes drolatiques – pour la recreation des bons esprits

Die Zeichnungen von François Desprez (1525–1580) in: Les Songes drolatiques de Pantagruel, ou sont contenues plusieurs figures de l’invention de maistre François Rabelais: & derniere oeuvre d’iceluy, pour la recreation des bons esprits. A Paris : Par Richard Breton 1565. Digitalisat des ganzen Buchs > http://diglib.hab.de/drucke/39-geom/start.htm

Der Verleger Breton überließ in seinem Vorwort die Erklärung (declarer le sens mistique ou allegorique) der Holzschnitte dem Leser: celuy qui sera resuer de son naturel y trouuera dequoy resuer [rêver] … pour les bigaretez [Buntscheckigkeiten] qui y sont contenues. Die Inventionen würden sich auch für Maskeraden eignen … – Die gelehrten Kommentatoren im 19.Jh. versuchten diese Phantasiegestalten dann ernsthaft zu identifizieren, teils mit Figuren in Rabelais’ Text, teils mit zeitgenössischen lebenden Personen (z.B. Papst Julius II.)

Grotesken

Es gibt Publikationen, in denen die Bilder explizit als rein ornamental verstanden werden wollen, gleichsam autopoietisch erzeugt. Sie blühen in der Epoche des sog. ›Manierismus‹. Ein Meister war Hans Sebald Beham (1500–1550):

(Quelle: Wiki Commons)

Neuw Grotteßken Buch. Inventirt, gravirt und verlegt Durch Christoph Jamnitzer [1563–1618], Nürnberg 1610.
> https://archive.org/details/gri_33125008528032

Ein Problemfall

Von Antonio Lombardo († 1516) stammen die Entwürfe für ein Grab (eine Tumba = freistehendes Hochgrab) des Kardinaldiakons Giovanni Battista Zen[o] († 1501) in San Marco in Venedig. (Es soll 1519 fertiggestellt worden sein.)

aus: Heinrich Decker, Renaissance in Italien, Wien/München: Schroll 1967.

Vgl. > https://www.wga.hu/html_m/l/lombardo/antonio/zen3.html

Auf den viereckigen Schilden sind eindeutig Ornamente angebracht: weibliche Gestalten, die aus Blattranken herauswachsen, frontal gezeigt, mit symmetrisch ausgebreiteten Armen usw., wie wir sie aus der zeitgenössischen Kunst kennen.

Die Tumba ist umgeben von sechs weiblichen Figuren, die mit ihren erhobenen Armen nichts stützen, in der anderen Hand das Gewand halten. (Die nordöstlichen Figur hält ein undefinierbares Gebilde).

In den Kunstführern werden diese Gestalten meistens als "Allegorien der Tugenden" bezeichnet. Das kann aber nicht stimmen, denn die Tugenden treten immer zu siebent auf, und sie halten entsprechende Attribute in der Hand. Beispiel:

Utz Eckstein, Klag des Gloubens der Hoffnung und ouch Liebe …, Zürich: Froschower 1526.

In dieser Darstellung eines Grabmals eines Bischofs stehen die vier Kardinaltugenden am Rand; v.l.n.r.: Prudentia (mit Spiegel), Justitia (mit Wage und Schwert), Temperantia (gießt mäßig Wein ein), Fortitudo (mit zerbrochner Säule):

Georgius Camerarius / Crispijn van de Passe, Thronus Cupidinis. Venetiis: Sumpt. P.P. Tozzii: Ex typographia Sarcinea 1627.
> https://archive.org/details/emblemataamatori00came/page/190/mode/2up

(Eventuell hat so ein Emblem die Interpretationen angeregt.)

Vgl. zu den Tugenden auf Grabmälern (ohne Bildbeispiele) > http://requiem-projekt.de/datenbank/hilfe-faq/glossar-zur-suche/grabmaeler-tugenden/

Bertrand Jestaz, La chapelle Zen à Saint-Marc de Venise, d'Antonio à Tullio Lombardo, Wiesbaden/Stuttgart: Steiner 1986, (S. 142–160) kommt zum Schluss: C'est par pure convention qu'on en parle comme de "Vertus". (S.143)


Formales

Künstlerisch wertvolle unsymbolische Ornamente erscheinen vom 15. Jh. an, besonders üppig in der Spätantike, im Manierismus, Rokoko, im Jugendstil – auf Schmuckstücken, Gewändern, Vasen, Pokalen, Tafelaufsätzen, Bucheinbänden, Waffen, Möbeln, Friesen, Portalen, Säulen, Gewölben, Chorgittern, usw.

Ornamente zeigen gerne den Trägergrund flächenfüllend; sie erzeugen i.d.R. keinen tiefenräumlichen Eindruck. Sie tendieren zu rhythmischer Wiederholung und Symmetrie. (Dies sind aber keine Definitionsmerkmale.)

Otto Wagner, Majolika-Haus in Wien (1898/99), Türe des Aufzugs im Parterre (Foto PM)

Auffallend ist, dass in der Ornamentik viele Kompositwesen vorkommen – die man aber unterscheiden muss von (a) für realistisch gehaltenen ›Monstren‹ (z.B. bei Conrad Lycosthenes) und von (b) mythologisch-/symbolischen Wesen (z.B. äygptische Gottheiten). – Kompositwesen sind künstlerisch attraktiv und haben immer auch ein bisschen das Flair des Marginalen und Interessanten...

Lucas van Leyden  1528 (Quelle: nl.wikipedia)


Versteckte Symbolik bei scheinbar Ornamentalem

Die ›Zickzack-Linie‹ scheint rein ornamental zu sein, hat aber wahrscheinlich eine Bedeutung. Vgl. hier zu den ausfürhlichen Aufsatz von Andreas Hebestreit: »Ursprünge des Ornaments. Zur Genealogie einer Symbolform« auf der Subsite hier !


Mittelalterliche Polemik gegen (ornamentale) bildliche Darstellungen

 

Bernhard von Clairvaux (* um 1090; † 1153, »Apologia ad Guillelmum Abbatem« (nach 1117)

Aber wozu dienen in den Klöstern, vor den Augen der lesenden Brüder, jene lächerlichen Missgeburten, eine auf wunderliche Art entstellte Schönheit und schöne Scheusslichkeit? (mira quaedam deformis formositas, ac formosa deformitas)
Was bezwecken dort die unflätigen Affen, die wilden Löwen? Was die widernatürlichen Zentauren, die halbmenschlichen Wesen, die gefleckten Tiger? Was sollen die kämpfenden Krieger, die Jäger mit ihrem Horn?
Hier kann man unter einem Kopf viele Leiber sehen, dort wieder auf einem Körper viele Köpfe. Auf der einen Seite bemerkt man an einem Vierfüßler den Schwanz einer Schlange, auf der anderen an einem Fisch den Kopf eines Vierfüßlers.
Dort gibt es ein Tier zu sehen, vorne ein Pferd, die hintere Hälfte eine Ziege, hier wieder ein Hornvieh, das hinten als Pferd erscheint.
Mit einen, Wort, es zeigt sich überall eine so große und so seltsame Vielfalt verschiedener Gestalten, dass einen mehr die Lust ankommt, in den Marmorbildern statt in den Codices zu lesen, dass man eher den ganzen Tag damit verbringen möchte, diese Dinge eins nach dem anderen zu bewundern, statt über das Gesetz Gottes zu meditieren. Bei Gott, wenn man sich schon nicht dieser Albernheiten schämt, warum tut es einem nicht wenigstens um die Kosten leid? (si non pudet ineptiarum, cur vel non piget expensarum?)

in: Sämtliche Werke, lateinisch/deutsch, [aufgrund der Ausgabe von Jean Leclercq und H. Rochais, Rom 1957–1977], hg. Gerhard B. Winkler u.a., Innsbruck: Tyrolia 1990ff, Band 11, S. 137–204 (auch in Patrologia Latina 182, 526–540)

 

»Pictor in Carmine« (um 1200)

Dolens in sanctuario Dei fieri picturarum ineptias et deformia quedam portenta magi quam omamenta, optabam Si fieri posset mentes oculosque fideilum honestius et utilius occupare. Cum enim nostri temporis oculi non solum vana sed etiam profana sepius voluptate capiantur nec facile putaverim inanes ecclesie picturas hoc tempore posse penitus abrogari, presertim in cathedralibus et baptismalibus ecclesiis, ubi pubiice fiunt stationes, excusabilem arbitror indulgentiam, si vel eiusmodi picturis delectentur, que tanquam libri laicorum simplicibus divina suggerant, et literatos ad amorem excitent scripturarum. Siquidem, ut pauca tangamus de plurimis, quidnam decentius est, quid fructuosius, speculari circa Dei altarium aquilas bicipites, unius eiusdemque capitis leones quatuor, centauros pharetratos [mit einem Köcher ausgestattet], frementes acephalos [brüllende Kopflose], chimeram, ut fingunt logicam, fabulosa vulpis et galli diludia, simias tibicines [flötenblasende Affen] et onos liras Boetii [Harfe spielende Esel]; — vel certe contemplari gesta patriarcharum, legis cerimonias, presidia iudicum, typicos regum actus, certamina prophetarum, Machabeorum triumphos, opera Domini Salvatoris, et iam coruscantis evangelii revelata misteria?

Struck with grief that in the sanctuary of God there should be foolish pictures, and what are rather misshapen monstrosities than ornaments, I wished if possible to occupy the minds and eyes of the faithful in a more comely and useful fashion. For since the eyes of our contemporaries are apt to be caught by a pleasure that is not only vain, but even profane, and since I did not think it would be easy to do away altogether with the meaningless paintings in churches, especially in cathedral and parish churches, where public stations take place, I think it an excusable concession that they should enjoy at least that class of pictures which, as being the books of the laity, can suggest divine things to the unlearned, and stir up the learned to the love of the scriptures.

Lat. Text aus: Pictor in Carmine. Ein typologisches Handbuch aus dem 12. Jahrhundert. Nach der Handschrift des Corpus Christi College in Cambridge, Ms 300; hg. von Karl-August Wirth, Gebrüder Mann Verlag 2006 (Veröffentlichungen des Zentralinstituts für Kunstgeschichte, Band 17).

Der englische Text aus: M. R. James, ed. in: Archaeologia, Volume 94 (1951), pp. 141–166.


Symbol — Ornament — Zeugnis des göttlichen Schöpfers

Im Focus steht hier das Werk von Joris Hoefnagel (1542–1600), der – teils zusammen mit seinem Sohn Jacob (1573 – ca. 1632/35) – viele Bildwerke schuf; teils als Unikate (in Aquarellmalerei), teils als Kupferstich ediert.

Im aktuellen Zusammenhang ist das Werk von Interesse, weil es • teils rein ornamentale Elemente enthält, • teils ikonographisch / emblematisch verweisende, und • teils solche, die rein abbildende Funktion haben. (Diese ••• Typen entsprechen nicht den im folgenden mit (a) – (d) gennannten Werke, sondern lassen sich querdurch finden.) Eine wunderbare ›Gemenge-Lage‹.

Darstellung mit Nachweis von Quellen und Interpretationen: Thea Wilberg Vignau-Schuurman, Die Emblematischen Elemente im Werke Joris Hoefnagels, Leiden: Universitaire Pers 1969 (2 Bände). — Eine umfassende Würdigung der Werke: Thea Vignau-Wilberg, Joris and Jacob Hoefnagel. Kunst und Wissenschaft um 166, Berlin: Hatje Cantz 2017. — Vgl. die unten ad hoc genannten Studien.

 

(a) Missale Romanum, ÖNB Codex 1784 (entstanden 1581–1588; einzelne Blätter sind datiert, z.B. 1586)
> https://onb.digital/result/111055EE

Zum Fest Dominica resurrectionis Domini stehen in Kartuschen am Rand die typologischen Vorausdeutungen der Auferstehung; also biblische Ikonographie:

Fol. 318 (Ausschnitt)
Links: Jonas entsteigt dem Wal (vgl. Matthäus 12,38–42)
Rechts: Samson trägt die Türflügel von Gaza (Richter 16,2–3)

(b) Georg Bocskay (1510–1575) gestaltete zwei Schriftmusterbücher, die dann von Joris Hoefnagel illustriert wurden:

— Schiftmusterbuch im Kunsthistorischen Museum Wien, Kunstkammer, Inv.-Nr. 975 (illustriert 1591–1594)
> https://www.khm.at/objektdb/detail/87174/ (Zum "Durchblättern" auf das Icon mit den 2 Bildschirmen unten rechts klicken!)

• Als Beispiel daraus Fol. 85 (Ausschnitt; Kommentar a.a.O. 1969, Band I, § 395)

Rechts der Kranich, der mit dem Fuß einen Stein hält, der ihn herunterfallend weckt, wenn er einzuschlafen droht. – Das Tier bedeutet in der Emblematik die Wachsamkeit; hier ist er mit IVSTITIA angeschrieben. Mehr dazu auf dieser Website hier.

• Aus demselben Codex Fol. 14 (vgl. 1969, Band I, § 309ff.): Eine Gemengelage von zum Inhalt passender Illustration und Ornament.

Der von Bocskay vorgegebene Text beginnt mit einem Zitat aus Augustinus, »De doctrina Christiana« IV,5: Sicut sumenda sunt amara salubria, ita semper uitanda est perniciosa dulcedo. ≈ Wie man aber oft auch ein bitteres Heilmittel nehmen muß, so muß man auch immer eine verderbliche Süßigkeit meiden. (Die Fortsetzung stammt wahrscheinlich aus einem Predigttext.) — Der Text endet mit einem Zitat von Hieronymus (in Josue præfatio): hoc idem litteris flagitet, et nos ad patriam festinantes, mortiferos sirenarum cantus surda debeamus aure transire. Hier sind todbringenden Gesänge der Sirenen genannt, vor denen wir zum Vaterland Eilende mit tauben Ohren vorbeigehen sollen.

In der Bandrole oben: homo <in der Vorlage: vir> fugiens non moratur lyrae strepitum ≈ Ein Mann, der zu entgehen sucht, achtet nicht auf das Klingen einer Lyra (Erasmus Adagia I, x, 38) Erasmus, Adagia heutzutage bequem zugänglich in der lateinisch-deutschen Gesamtübersetzung von Claude-Eric Descœudres, Basel: Schwabe Verlag 2012.

Unten: Johannes 11, 25 Ego sum resurrectio et vita: qui credit in me, etiam si mortuus fuerit, vivet. et omnis qui vivit et credit in me, non morietur in aeternum. 1. Korinther 10,32 (in Erasmus’ Übersetzung 1516?) Tales estote, ut nullum praebeatis offendiculum. neque iudeis neque grecis ecclesiae dei.

* In der Kartusche prägnent ein Leier spielendes Meerweib und ein an einer Klippe zerborstenes Schiff (sowie weitere dazu passende realistisch dargestellte Details). Das erinnert an Odysseus, der sich die Ohren verstopft, um vom Gesang der Sirenen nicht betört zu werden und Schiffbruch zu erleiden usw. (Homer, Odyssee, 12. Buch). Das Vorbeifahren an den Sirenes voluptatis wurde oft allegorisch ausgelegt (a.a.O .§ 312ff.).

* Die Umrahmung: zwei phantastische Figuren, halb Fisch, halb Frau, mit Attributen (Tamburin, Spiegel, Haarsträhnen): ins Smbolische übergehendes Ornament.

 

— »Mira Calligraphiae Monumenta« (1561/62; von Hoefnagel 1592–1596 illustiert) mit einem Anhang: das Alphabet; aufbewahrt im J. Paul Getty Museum
   > https://www.getty.edu/art/collection/object/103RWD

    Joris Hoefnagel, Georg Bocskay. Mira Calligraphiae Monumenta. Kommentiert von Lee Hendrix / Thea Vignau-Wilberg. Berlin 2020.

Als Beispiel für eine rein ornamentale Darstellung hier aus dem gotischen Minuskel-Alphabet (im zweiten Teil des Codex) die Buchstaben r/s:

(c) Joris Hoefnagel fertigte (1591–1599; Vorläufer bereits 1575?) eine Serie von nach den vier Elementen gegliederten Tierdarstellungen an:

Ignis: Animalia rationalia et insecta
Terra: Animalia quadrupedia et reptilia
Aqua: Animalia aquatilia et cochiliata
Aer: Animalia volatilia et amphibia

Online-Edition > National Gallery of Art Washington; Gift of Mrs. Lessing J. Rosenwald

Hier als Beispiel aus Animalia aquatilia et cochiliata, Tafel 13:

Die Fische sind bei Conrad Gessner ausgebüxt (Nachweise bei Lee Hendrix 1984, Appendix II):

      

Fischbuoch: das ist ein kurtze, doch vollkommne Beschreybung aller Fischen so in dem Meer und süssen Wasseren, Seen, Flüssen oder anderen Bächen jr Wonung habend, sampt jrer waren Conterfactur, zuo Nutz und Guotem allen Artzeten, Maleren, Weydleüten und Köchen gestelt, insonders aber denen so ein Lust habend zuo erfaren und betrachten Gottes wunderbare Werck in seinen Geschöpfften, erstlich in Latin durch den hochgeleerten und natürlicher Künsten wolerfarnen Herren D. Cuonradt Gässner beschriben; yetz neüwlich aber durch D. Cuonradt Forer zuo grösserem Nutz allen Liebhaberen der Künsten in das Teütsch gebracht. Getruckt zuo Zürych bey Christoffel Froschower im Jar als man zalt M.D.LXIII.
> http://dx.doi.org/10.3931/e-rara-5026

Das Entscheidende ist indessen nicht, woher Hoefnagel die Vorlagen hat, sondern (wie bei Gessner; in der Quellenangabe fett hervorgehoben), dass hier ein physikotheologisches Interesse an der präzisen Darstellung erkennbar ist. Diese Bewegung (wiederum Gessner:) – den schöpffer durch die geschöpfft lernen erkennen – beginnt in der zweiten Hälfte des 16.Jhs. die Naturwissenschaft zu beflügeln: Je präziser ein Geschöpf erkundet wird, desto mehr erkennt man die Weisheit seines Schöpfers.

Genaue Naturbeobachtung und realistische Darstellung ist nicht (nur) ein stilgeschichtliches Phänomen ("trompe l’œil"), sondern beruht auf dem Konzept, dass "die lebendige Natur als Manifestation der Allmacht und Güte Gottes betrachtet wird." (Thea Vignau-Wilberg a.a.O. 1994, S.32).

Das Verhältnis von Geschöpf zum Schöpfer ist kein symbolisches, sondern zeichentheoretisch als "symptom-haft" zu charakterisieren (in der Terminologie von Ch.S.Peirce: Index).

Im Missale (a) = ÖNB Codex 1784 Fol. 402recte sind illusionistisch gemalt: zwei Pflanzen und fünf Insekten und eine Schnecke; in der Kartusche steht, dass alle Kreaturen den Namen des HErrn loben:

O Domine atque Deus, nostrorum sancte parentum,
Collaudant nomen cuncta creata tuum.
Caelum, terra, fretum, fontes, et flumina et in se
Hæc ingens mundi machina quidquid habet.

Derselbe Text in (d) = Archetypa, Tafel IV,12
> https://www.biodiversitylibrary.org/item/234192#page/107/mode/1up

Literatur: Marjorie Lee Hendrix, Joris Hoefnagel and the Four Elements: A Study in Sixteenth-century Nature Painting, Diss. Princeton University, 1984.

(d) Joris und Jacob Hoefnagel publizieren 1592 eine Kupferstich-Folge von vier mal 12 Bildtafeln mit sehr präzisen Darstellungen von Pflanzen, Insekten und auch einigen Weich- und Wirbeltieren. Seltsamerweise sind diese nicht mit ihren Namen angeschrieben, sondern die Tafeln enthalten jeweils ein Motto und eine Subscriptio wie ein Emblem.

Archetypa studiaque patris Georgii Hoefnagelii, Francofurti ad Mœnum, Ann. sal. XCII. Ætat. XVII.
> https://hdl.handle.net/2027/gri.ark:/13960/t70w4hg53?urlappend=%3Bseq=1
> https://www.biodiversitylibrary.org/item/234192#page/5/mode/1up

Reprint mit Transliterationen, Übersetzungen der Texte und Bestimmung der Lebewesen: Archetypa studiaque patris Georgii Hoefnagelii 1592. Natur, Dichtung und Wissenschaft in der Kunst um 1600 = Nature, poetry and science in art around 1600, hg. Thea Vignau-Wilberg, München: Staatliche Graphische Sammlung 1994.

Hier als Beispiel die Tafel IV,3:

Das Motto: Nihili coaxatio. In actione consistit Virtus (Gequake um nichts. Im Handeln besteht die Tugend.)

Die Subscriptio ist betitelt mit Aenigma (Rätsel *) und beschreibt das Leben des Froschs, der unterm Schilf den Winter überlebt und im Frühling wieder lebendig wird: <Visaque> [richtig vitaque] vere novo rediviva, recurrit in artus.

Der ganze Vierzeiler Vox mihi rauca radit, sum arrula lingua […] stammt aus Hadriani *Ænigmatum Libellus im Anhang des Emblembuchs von Hadriani Iunii medici Emblemata. Antuerpiae: Ex officina Christophori Plantini 1565.

Dieses Verhalten des Frosches wird als Hinweis auf die Auferstehung des Menschen nach dem Tod verwendet von Matthäus Holtzwart, Emblematum Tyrocinia, Straßburg: B.Jobin 1581 (Emblem LXX): Resurrectio carnis.

Auch in dieser Publikation stehen viele Texte, die den Schöpfer in den kleinsten Kreaturen loben, beispielsweise bei Tafel I,1: Sprechet zu Gott: Wie wunderbar sind Deine Werke! (Psalm 65 [Vg.],3). — Bei Tafel III,9: […] ex operibus manducti admiremur artificem (lasst uns, durch die Werke geleitet, den Werkmeister bewundern!)


Hermeneutischer Exkurs

Das hier Skizzierte hat eine philosophische Dimension in der Erkenntistheorie, die – im Gegensatz zu einem naiven Sensualismus – das Zusammenwirken von sinnlichen und kategorialen (in der Terminologie von Husserl) oder hyletischen und noetischen (Cassirer, Symbol. Formen III, 232ff.) Komponenten postuliert.

Je nach der Vorgabe des Betrachtenden wird derselbe Linienzug (nicht zufällig wählen wir den von W. Hogarth in »Analysis of Beauty«)

aufgefasst als Ausdruck von etwas

• Ornamentalem

• Physiognomischem (z.B. eine Körperform)

• Mathematisch-Gesetzlichen (Relationen in zweidimensionaler Darstellung z.B. Sinuskurve der Tageslängen im Lauf des Jahrs).

So wird ›die Bedeutung‹ erzeugt einerseits durch formale Angebote des Bilds, anderseits durch Vorgaben des Verfertigenden / Betrachtenden und deren Wissen.


Hinweise zur Suche

»Endlich, was läßt sich nicht alles allegorisieren! Man nenne mir das abgeschmackteste Märchen, in welches ich durch Allegorie nicht einen moralischen Sinn sollte legen können!« (G. E. Lessing, Fabeln, 1759)

»Im Auslegen seid frisch und munter! Legt ihr’s nicht aus, so legt was unter.« Goethe, Zahme Xenien 2)

Eine Deutung sollte immer auf einer möglichst zeitgenössischen Quelle beruhen, nicht auf vagen Vermutungen. Zur Deutung von Bildern, bei denen man eine Symbolik vermutet, denen aber keine Erklärung beigegeben ist, …

• zieht man ähnliche Bilder aus dem zeitgenössischen Umfeld bei, die eine Beschreibung enthalten (z.B. aus Emblembüchern, Bilderbibeln);

• versucht man – wenn man durch Erkunden des einschlägigen Wortfelds ein erfolgverheißendes Such-Wort errät – in damaligen Lexika oder Kommentarwerken Deutungen aufzutreiben: Beizug von Bild-Text-Verbünden in Enzyklopädien, Bestiarien, illustrierten Bibeln, mythologischen Handbüchern, Emblembüchern usw. (vgl. die Quellenübersicht hier und hier und hier: RDK).

• Dabei gibt es nähere oder weitere Bezüge (sind klassisch-antike Quellen denkbar oder christliche mit dem Hintergrund der patristisch-mittelalterlichen Bibelauslegung?)

• Dabei ist der Kontext des zu deutenden Bilds einzubeziehen (Ort, wo das Bild angebracht ist, Verwendungszusammenhang, soziale Funktion).

• Schwer herauszufinden ist, ob der Auftraggeber die symbolische Deutung kannte; man kann aber unterstellen, dass ›gebildete‹ Betrachter eine solche assoziierten.

• Mitunter ist nicht offensichtlich, dass ein realistisch dargestelltes Bildelement symbolisch gemeint ist; die Bedeutung kann aber auch verdeckt oder versteckt sein: »Concealed or disguised symbolism«. (Panofsky).

• Je mehr man als Interpret weiss und in Quellen findet, desto wahrscheinlicher wird die Deutung eines (vorderhand als Ornament angenommenen) Details als bedeutungstragend, symbolisch....

Freilich ist immer zu bedenken, was Albrecht Dürer schrieb:

Dan ein guter maler ist jndwendig voller vigur. Vnd obs müglich wer, daz er ewiglich lebte, so het er aws den jnneren ideen, do van Plato schreibt, albeg etwas news durch die werck aws tzwgissen.

Entwürfe zur Einleitung in das Lehrbuch der Malerei (1512) in der Londoner Handschrift British Library Add MS 5230


Generelle Literaturhinweise

(in chronologischer Folge)

• Owen Jones (1809–1874) Grammar of Ornament. Illustrated by Examples from Various Styles of Ornament. One Hundred Folio Plates. London: Day & Son (1856)
> https://archive.org/details/grammarornament00Jone

ders., Grammatik der Ornamente, illustriert mit Mustern von den verschiedenen Stylarten der Ornamente in hundert und zwölf Tafeln, 4°, London: Day & Son / Leipzig [o.J.].
> https://digi.ub.uni-heidelberg.de/diglit/jones1856

• Albert Fidelis Butsch, Die Bücherornamentik der Renaissance. Eine Auswahl stylvoller Titeleinfassungen, Initialen, Leisten, Vignetten und Druckerzeichen hervorragender italienischer, deutscher u. französischer Officinen aus der Zeit der Frührenaissance, Leipzig: Hirth 1878.
> https://www.zvdd.de/dms/load/met/?PPN=PPN631983082

• Alfred Lichtwark, Der Ornamentstich der deutschen Frührenaissance nach seinem sachlichen Inhalt, Berlin: Weidmann 1888.
> https://archive.org/details/derornamentstich00lich

• Hans Wolff, Die Buchornamentik im 15. und 16. Jahrhundert (= Monographien des Buchgewerbes 5). 2 Bände, Verlag des Deutschen Buchgewerbevereins, Leipzig 1911/13.

• Erwin Panofsky, Early Netherlandish Painting, 2. Auflage, Cambridge / Mass. 1964, darin S. 140ff.: »Concealed or disguised symbolism«

• Rudolf Berliner, Ornamentale Vorlageblätter des 15. bis 18. Jahrhunderts [Textband plus 22 Mappen], Leipzig: Klinkhardt & Biermann Verlag 1925/26. – 2., wesentl. erw. Aufl. zusammen mit Gerhart Egger 1981. — 1710 Illustrationen bis zum Jugendstil !

• Peter Meyer, Das Ornament in der Kunstgeschichte. Seine Bedeutung und Entwicklung, Zürich: Schweizer Spiegel Verlag 1944. [85 Seiten]

• Rosy Schilling (1888–1971), Artikel "Drolerie" in: Reallexikon zur Deutschen Kunstgeschichte, Bd. IV (1955), Sp. 567–588 > https://www.rdklabor.de/w/?oldid=89042

• Günter Bandmann, Ikonologie des Ornaments und der Dekoration, in: Jahrbuch für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft 4/1958–1959, S. 232–258.

Jurgis Baltrušaitis, Réveils et Prodiges. Le Gothique Fantastique, Paris: Colin 1960.

• Lilian M. C. Randall, Images in the Margins of Gothic Manuscripts, Berkeley 1966. — Ca. 250 Handschriften verschiedener Thematik gesichtet; 739 Bilder abgedruckt; Motiv-Register auf 190 Folioseiten. — Nur fehlen leider die Kontextualisierungen der Bilder auf den Seiten der Handschriften.

• Carsten-Peter Warncke, Die ornamentale Groteske in Deutschland 1500–1650, Berlin: V.Spiess 1979 (Quellen und Schriften zur bildenden Kunst Band 6); 2 Bände. — Vorzügliche Einleitung; 1’301 Bildbeispiele.

• Janet S. Byrne, Renaissance Ornament Prints and Drawings, Metropolitan Museum of Arts 1981.
> https://archive.org/details/RenaissanceOrnamentPrintsandDrawings

• Christine Jakobi-Mirwald, Text – Buchstabe – Bild. Studien zur historisierten Initiale im 8. und 9. Jahrhundert, Berlin: Reimer 1998.

• Isabelle Frank / Freia Hartung (Hgg.), Die Rhetorik des Ornaments, München 2001. (14 Aufsätze; Digitalisat hier)

• Christof Metzger, Daniel Hopfer – ein Augsburger Meister der Renaissance: Eisenradierungen, Holzschnitte, Zeichnungen, Waffenätzungen, München 2009.

• Anna Degler, Parergon. Attribut, Material und Fragment in der Bildästhetik des Quattrocento, Brill / Fink 2015. (324 S.; mit ausführlicher Diskussion des Theoriediskurses seit der Antike)

• Ein weiterer Fall ist auf unserer Website besprochen.


Erste Fassung online im Juni 2020; letzte Ergänzungen November 2023 — PM

Dank an Andreas M. in. B. für viele Hinweise!

Bitte um ein Mail an > https://www.ds.uzh.ch/p/michel