Ursprünge des Ornaments

Andreas Hebestreit

Ursprünge des Ornaments. Zur Genealogie einer Symbolform

 

Vortrag, gehalten am Kolloquium der Schweizerischen Gesellschaft für Symbolforschung am 1.Oktober 2011

Wenn ich im Rahmen des Themas „Wiederholung“ über die Ursprünge des Ornaments schreibe, so ist klar, dass ich mich dabei ausschließlich auf das wiederholende, friesartige Ornament beziehen möchte.

Ornament ist (nicht immer, aber doch im Wesentlichen) Wiederholung. Irgendein graphisches Motiv oder ein visuelles Schema wird rhythmisch wiederholt. Und zwar, wie gleich noch anzufügen wäre – zumindest in der Theorie – endlos. Die Seele des Ornaments ist die Wiederholung. In dieser Form zählt das Ornament zu unserem ältesten Kulturbestand überhaupt. Es gibt kaum eine Kultur, die nicht ihre eigene Ornament-Sprache entwickelt hätte. Von den einfachsten Kerbschnitzereien bis zu den kompliziertesten geometrischen Mustern. 

Das Ornament ist somit ein globales Phänomen. Fast schon eine anthropologische Universalie. Wenn man nun Kultur versteht als ein wiederholtes Zurückgreifen auf bestimmte Vorstellungen, ein wiederholtes Anwenden bestimmter Begrifflichkeiten und Methoden und ein wiederholtes Bestätigen bestimmter Einrichtungen, die für eine Anzahl von Personen als angemessen und zweckdienlich gelten, dann stellt sich die Frage: Hat die Entstehung und der Umgang mit der Ornamentik seit frühester Zeit möglicherweise Denkmodelle geliefert für die Entwicklung von Kultur überhaupt? Wäre die repetitive Ornamentik also ein Symbol des Symbolischen – eine Art Metasymbol? 

Ich könnte jetzt fortfahren, indem ich einige Beispiele der ältesten Ornamentik vorstelle, aber auf diese Weise würde ich den Lesern das Entscheidende vorenthalten. Nämlich die Hintergründe, die zu dieser Ornamentik geführt haben. Um diese Hintergründe zu verstehen, ist es notwendig, zunächst einmal das Wort „Wiederholung“ ein bisschen wörtlicher auffassen als wir das sonst gewohnt sind. Der ursprüngliche Sinn der Wiederholung scheint nämlich tatsächlich ein „wieder Holen“ zu sein. Wenn meine Vermutung zutrifft und es sich bei dem Wort „Wiederholung“ um eine Lehnübersetzung von lateinisch repetitio handelt, dann wird das noch deutlicher.

Repetitio war der erneuerte Angriff. Das entsprechende Verb repetere heißt tatsächlich an erster Stelle nicht „wiederholen“, sondern sehr viel kämpferischer „wieder angreifen, wieder auf etwas losgehen.“ Dann auch „wieder aufsuchen, zurückholen, wiedergewinnen, wieder einführen“, und erst dann „wiederholen“. Die repetitio ist also eine Wiederholung, aber sie ist vor allem auch ein ausdrückliches Einfordern und ein nachdrückliches Verlangen. Das alles kommt nicht ganz von ungefähr. Wenn wir uns selber beobachten, dann stellen wir fest: Wiederholungen treten bei uns ganz spontan auf, wenn wir mit einer Dissonanz konfrontiert sind. Einer Dissonanz zwischen dem, was wir haben oder vorfinden und dem, was wir wollen oder brauchen. Dann entstehen Spannungen und die werden manchmal abgebaut, indem man wiederholt auf den Tisch klopft.

Ohne dass wir uns dessen unbedingt bewusst sind, versuchen wir mit den vollzogenen Wiederholungsakten eine gemeinsame Formel zu finden, eine Synthese zwischen dem, was sich uns bietet und dem, was wir benötigen. Man könnte das auch als einen Prozess der Synchronisation bezeichnen. Mit den Wiederholungen schreiben wir den Dingen, den Erscheinungen, den Eindrücken einen Rhythmus vor. Einen Rhythmus, in dem wir leben können und mit dem wir die auf uns eindringende Wirklichkeit, diesen unablässigen fluxus gewissermaßen portionieren oder proportionieren können.

Zusammenfassend dürfen wir sagen: Der Sinn des Wiederholens ist die Auflösung einer Spannung, die Ausgleichung oder Versöhnung einer Dissonanz. Das iterative Verhalten ist ein ganz elementares Mittel zur Krisenbewältigung. Da läge es eigentlich nahe, sich das Anwachsen der Wiederholungsmuster beim Menschen, beginnend beim rituellen Bereich, mit einem Anwachsen seiner Spannungen und Probleme zu erklären. Man könnte dann sagen: Das Ornament als symbolische Ausdrucksform der Wiederholung erklärt sich aus einer Anhäufung von Dissonanzen, mit denen sich der Mensch seit jeher konfrontiert sah. Gerade wenn wir an das große Interesse denken, dass das aufkommende Industriezeitalter dem Ornament gewidmet hat, klingt das ganz plausibel.

Owen Jones (1809–1874), The Grammar of Ornament, London 1856.


Aber so einfach ist es eben doch nicht. Die Wiederholung kann zwar durchaus dazu dienen, Dissonanzen zu glätten, auszugleichen oder zu beseitigen, aber das Ornament als symbolischer Ausdruck dieses Wiederholungsverhaltens ist nicht einfach aus einer Häufung von Dissonanzen hervorgegangen. (Sonst könnte man auch sagen, die Aspirin-Tablette sei aus einer Häufung des Kopfwehs entstanden.) Wir dürfen nicht in den Fehler verfallen, die menschliche Entwicklung ausschließlich biologisch zu sehen, wenn es sich doch tatsächlich vor allem um ein kulturelles Phänomen handelt. Wenn wir aber von Kultur sprechen, dann schließt das ein, dass wir Symbole vor uns haben. Der Besitz von und der Umgang mit Symbolen ist das spezifische Merkmal des Menschen. Symbole entstehen aber immer erst, wo ein sozialer Körper involviert ist.

Wir müssen also, wenn ein Wiederholen als Symbol Form annehmen soll, eine Problemstellung und eine Dissonanz namhaft machen, die tatsächlich einen ganzen sozialen Körper in seiner Gesamtheit betroffen, beschäftigt und auf die Probe gestellt hat. Worin könnte diese so elementare Dissonanz bestanden haben? Das ist die eine Frage.

Und dann gibt es da gleich noch einen zweiten Aspekt bei der Sache, der oftmals unbeachtet bleibt: Wir dürfen nicht auf die Annahme verfallen, ein Symbol entstehe in erster Linie, weil wir selber irgendeiner Erklärung oder Bestätigung bedürften. Weil wir uns ein Erklärungsmuster oder ein ideeles Leitbild wünschen o.ä. Das ist eine in manchen Kreisen verbreitete Auffassung, die aber viel zu kurz greift. Nach dieser Auffassung ist die Aufgabe jeweils gelöst, wenn man sagen kann, dass A in Wirklichkeit B bedeutet, und C in Wirklichkeit D. Also zum Beispiel die Farbe Rot das Blut und die Farbe Grün die Hoffnung.


Zu einem Symbol gehört aber mehr als nur eine Bedeutung; zu einem Symbol gehört jeweils die Notwendigkeit und der Wille, anderen etwas mitzuteilen. Ein Symbol entsteht primär als Mitteilung, und zwar als Mitteilung an die anderen. Erst wenn das, was da im Symbol zum Ausdruck gebracht wird, auch tatsächlich bei einem Empfänger ankommt, wenn der Ausdruck also (bei anderen) zum Ein–druck wird, und daraus wiederum eine Art Rückmeldung an uns resultiert, dürfen wir von einem Symbol sprechen. Erst dann kann das Symbol auch eine Bestätigung, eine Erklärung oder eine Regel für uns selber sein. Wenn von der Entstehung von Symbolen die Rede ist, müssen wir uns also immer die Frage stellen: Wo sind die Empfänger? Wo sind die Leute, an die sich das Symbol richtet, und welche Frage sollte auf diesem Wege beantwortet werden, welche Dissonanz sollte mit dem Symbol allenfalls aufgelöst werden?

Im Fall des Symbols „Ornamentik“ müssen wir nun allerdings zeitlich weit zurückgehen. Nach einer heute weitgehend akzeptierten Auffassung hat der Mensch 99 % seiner Vergangenheit als Jäger und Sammler verbracht. So etwas prägt. Bitte behaften Sie mich hier nicht auf ein genaues Wann und Wo. 2,5 Millionen (!) Jahre trennen uns vom ersten Gebrauch von Werkzeugen beim Homo habilis. Die ersten Spuren von Kunst und möglicherweise Religion fallen in die Mitte der letzten Eiszeit und sind somit zwischen 60- und 40‘000 Jahre alt. Garten- und Feldbau und damit verbreitete Sesshaftigkeit kennen wir hier in Mittel- und West-Europa erst seit rund 7000 Jahren.

Wo in diesen immensen Räumen ließe sich nun jene große soziale Dissonanz erkennen, die wir soeben angesprochen hatten? Und wo wären die Menschen, die da durch allfällige Ornament-Symbole angesprochen werden sollten? – Unbestreitbar ist Folgendes: Es waren während vielen Jahrtausenden kleine Gruppen, und es waren weit verstreut operierende Gruppen. Auf dem Gebiet des heutigen Frankreich lebten vor zehntausend Jahren kaum mehr als 55'000 Menschen. Also etwa so viele wie heute allein in der Stadt Belfort wohnen. Die daraus resultierende Dissonanz in diesen Kleingruppen war aber die vorherrschende Asymmetrie im Geschlechterverhältnis. Das ist eine einfache statistische Tatsache. Je größer eine konkret vorhandene Gruppe/Population, desto ausgeglichener wird das Zahlenverhältnis zwischen Männern und Frauen, Söhnen und Töchtern. Je kleiner eine Gruppierung, also eine Familie, Sippe oder Horde, desto unausgeglichener oder asymmetrischer ist es in der Regel. Mal gibt es hier zu viele Söhne, mal gab es dort zu viele Töchter.

Diese Asymmetrie zwischen den Geschlechtern war nun aber ein enormes Problem für die Aufzucht des Nachwuchses in vorwiegend konjugalen, monogamen Formen. Man darf sogar sagen: Wenn es unseren Vorfahren nicht gelungen wäre, dieses Problem zu lösen, wären wir heute nicht da. Die Menschheit hätte sich nicht in einem ausreichenden Maß vermehren können. Die isolierte Gruppe von schätzungsweise maximal zwei Dutzend Menschen war auf die Dauer nicht lebensfähig. In der Populationsbiologie gibt es eine Regel, wonach für das kurzfristige Überleben einer Art mindestens 50 Exemplare nötig seien, für das längerfristige Überleben aber 500 Exemplare. Es gibt aber auch Stimmen, wonach eine wesentlich höhere Zahl von Beteiligten nötig sei. 

Das also war die große Dissonanz, mit der die Jäger und Sammler der Eiszeit konfrontiert waren. Glücklicherweise ist man aber auf die Lösung gekommen. Diese bestand in einem gegenseitigen oder wechselseitigen Zugestehen von Heiratskandidaten und insbesondere von Heiratskandidatinnen. Die Ethnologen sprechen hier auch von Nupturienten und Nupturientinnen. Über die Bedeutung dieses Wechselns war sich die Anthropologie wohl schon seit längerem im Klaren. Nach Überzeugung eines namhaften Ethnologen hat das Nach-außen-Heiraten, auch Exogamie genannt, für die Anthropologie etwa den gleichen Stellenwert wie die Schwerkraft für die Physik.

Nun ist der exogame Austausch von Nupturientinnen von der Idee her zweifellos sehr einfach und logisch. So einfach und so logisch, dass man leicht übersieht, dass es dabei auch eine große Schwierigkeit gibt und die steckt in der Umsetzung dieser einfachen Idee. Denn man musste den Austausch, respektive die Bereitschaft zu einem exogamen Austausch erst einmal kommunizieren. Mit allen Mitteln. Und das war gar nicht so einfach. Eine Botschaft, die da lautet:

„Wir würden euch eine von unseren Töchtern überlassen, wenn ihr versprecht, dass ihr uns in ein paar Jahren ebenfalls eine Tochter schicken werdet“

enthält einen Konjunktiv und ein Futurum. Und ob es in diesen Sprachen, sofern überhaupt vorhanden, bereits ein Futurum oder einen Konjunktiv gab, scheint eher zweifelhaft. Zudem gab es in den Verständigungssystemen der weit voneinander operierenden Gruppen wahrscheinlich große semantische Differenzen. Wir dürfen aber mit Konrad Lorenz davon ausgehen, dass die phonetischen Sprachen, so weit vorhanden, durch eine ihnen vorausgegangene sublinguistische Kommunikation ergänzt wurden. Mit anderen Worten: Das, was es da zu kommunizieren gab, musste vor allem, wenn nicht gar ausschließlich in Form von Zeichen kommuniziert werden. Man musste diesen anderen Gruppen deutlich machen, dass man etwas von ihnen wollte, aber auch, dass man ihnen etwas anzubieten hatte. 

Wenn wir nun versuchen, das, was damals mitgeteilt werden musste, in eine reine Zeichensprache zu übersetzen, dann sähe das so aus: Eine Pfeil-Linie geht von uns weg: (Respektive: Kommt auf uns zu.)

Schräg nach vorne in die Diagonale weisend. Will sagen: „Wir haben euch etwas anzubieten.“ – „Wir überlassen euch eine Nupturientin.“ Daran unmittelbar anknüpfend eine Pfeil-Linie, die zu uns zurückkommt. Will heißen: Ihr schickt uns dafür bei der nächsten Gelegenheit – wenn bei uns Bedarf dafür auftritt - eine Nupturientin zurück.


Damit hätten wir als dieses ganz einfache „Geht-von-uns-weg-kommt-zu-uns-zurück“-Zeichen, dieses an sich so unscheinbare Häkchen, das man im englischen und französischen Sprachbereich auch als Chevron bezeichnet. Aber das Entscheidende ist nun, dass es nicht bei diesem einmaligen Gehen und Kommen bleiben darf, sondern dass das fortgesetzt wird. So lange als möglich und am besten auf ewig.

In der steinzeitlichen Praxis sieht das dann so aus:

oder so:

 

 

Nun wird man vielleicht einwenden: Das ist ja eine ganz schöne Idee, aber wie will man das beweisen? – Beweisen kann man das in dem Moment, wo sich zeigen lässt, dass diese Zick-Zack-Linien ursprünglich nicht auf einen Satz entstanden sind, sondern dass sie nach und nach als eine Art Notat angestückt und verlängert worden sind. Nicht nur zu verschiedenen Zeiten, sondern auch von verschiedenen Personen. Und dieser Nachweis scheint, wie mikroskopische Untersuchungen zeigen, tatsächlich gelungen zu sein. Betrachten wir einmal dazu einmal diesen flachen Kalkstein, der auf die Zeit 11'000 – 9000 v.Chr. datiert wird.

Man hat nachweisen können, dass dieser Stein nach und nach bearbeitet worden ist.

Das Chevron-Zeichen ist also nicht in einer einzigen Sitzung entstanden, sondern es wurde von Fall zu Fall angestückt oder angesetzt. Als eine Mitteilung an die anderen, aber auch als eine Gedankenstütze für die eigene Gruppe. Indem das Chevron-Zeichen aber wiederholt wurde, entstand etwas qualitativ Neues. Eine Art Ur-Ornament, dessen Botschaft lautet: An diesem Austauschsystem, an diesem Vorgehen des Hinübergehens und Herüberkommens wollen wir gemeinsam unbedingt festhalten. So wird und so soll es immer weitergehen. Nebenbei bemerkt: Die Urbedeutung des deutschen Wortes „gemeinsam“ scheint „wechselseitig“ gewesen zu sein.

Dieser Stein aus dem Azilien ist sehr alt, aber er ist keineswegs der älteste Beleg. Es gibt Älteres. Zum Beispiel diese wellenförmigen Linien auf Lehmuntergrund aus der Höhle von Gargas.

Noch häufiger sind die mit Wellen- oder Zickzack-Linien geritzten oder bemalten Steine und Knochen.

Besonders aufschlussreich ist aber vor allem diese Darstellung,

wo man wirklich sieht, worum es geht. Manchmal werden die Chevrons nicht miteinander verkettet, sondern gewissermaßen aufgestapelt.


So wie wir diese Wellen- oder Zickzack-Linien jetzt lesen, sind es eigentliche Einladungen zu Bündnissen, Aufforderungen zu Übereinkünften, Verpflichtungen zu bindenden Verträgen, zu Verfassungsschriften, die von jetzt in alle Ewigkeit gelten sollen.

Lassen wir die Eiszeit hinter uns und nähern wir uns allmählich dem Neolithikum. Was wir von der Jungsteinzeit mit Sicherheit wissen, ist, dass sie durch den Ackerbau charakterisiert wird. Diese Leute lebten erstmals in Langhäusern, die in besonders fruchtbaren Gebieten, namentlich in Flusstälern zusammen kleine Siedlungsgemeinschaften bildeten. So viel zu dem, was wir über die Neolithiker wissen. Was wir über sie vermuten, das ist vor allem, dass es häufig Begegnungen zwischen den bereits Sesshaften und den noch nomadisierenden Jägern und Sammlern gegeben haben muss. Manche dieser Begegnungen waren zweifellos feindseliger Art, aber sicherlich nicht alle. Zu diesem Problemkreis gibt es derzeit immer noch Symposien, auf denen heftig diskutiert wird. Der allgemeine Tenor scheint aber zu sein, dass es einen lebhaften Austausch gab. Und zwar nicht nur einen Austausch von Nupturientinnen, sondern einen generellen Austausch von Ritualen, Techniken, Objekten und Nahrungsmitteln, begleitet von Erfahrungen, Erzählungen, Gedanken, Gefühlen und wahrscheinlich auch Musik. Das sind keine bloßen Vermutungen, das ist ablesbar. Und zwar ablesbar an einem Erzeugnis, das dieser Kultur zugleich den Namen eingebracht hat. Man nennt diese Leute, deren Kultur sich praktisch von der ungarischen Tiefebene bis in die südlichen Niederlande und ins Pariser Becken erstreckte, nämlich die Linearband-Keramiker. Diese  Keramik sah z.B. so aus:


Wie man sieht, haben die Linearbandkeramiker das Problem, die Unbegrenztheit des Austauschs zu kommunizieren, auf eine geradezu geniale Weise gelöst. Hier gibt es weder Anfang noch Ende. Das Ornament läuft rund. Indem sie ihre Keramik auf diese Weise dekoriert haben, schufen sie die endlose Wechselseitigkeit in ihrer bislang überzeugendsten und wohl auch haltbarsten Form. Einer der prominenteren Experten auf dem Gebiet der Linearbandkeramiker, der Engländer Alasdair Whittle, verkündete unlängst: “Die radikale Hypothese lautet, dass die Linearbandkultur Ausdruck eine Ethik der Kooperation und Integration repräsentiert.“ Professor Whittle hat sich dabei nicht auf die Ornamente bezogen, aber ich glaube, diese Ornamente dürften seine Aussage vollumfänglich stützen.

Aber auch in der etwas später zu datierenden Megalith-Kultur in Westeuropa fehlt es nicht an diesen Zick-Zack-Ornamenten.

Nach Auskunft der Fachleute ist das Wellen- oder Zickzack-Motiv in der megalitischen  Kultur der iberischen Halbinsel absolut dominierend.  Diese im Südwesten angetroffenen Schieferplättchen werden auf die Zeit zwischen 3500 und 2000 v.Chr. datiert. Gefunden hat man davon über Tausend.


Schließlich gibt es da noch die ausgeprägten Zick-Zack-Ornament in den irischen Megalith-Gräbern. Hier geht es längst nicht mehr nur um die Exogamie, hier geht es um das Leben schlechthin, also um das ewige Leben der Verstorbenen und der Ahnen, die ihrerseits das Leben der Sippe oder des Stammes gewährleisten oder beschützen sollen.

Kultur heißt, sich willentlich und bewusst in gewisse, regelmäßig wiederholte Abläufe oder Prozesse hineinbegeben und selber zu ihnen beitragen. Dazu habe gibt es sehr schöne Ritzzeichnung aus der Hallstatt-Zeit.

Man sieht da, wie sich die Menschendarstellung dem Ornament, genauer dem Chevron-Ornament angepasst oder eingefügt hat. Sich in das Ornament einfügen, heißt, nach den Gesetzen einer Gemeinschaft leben, heißt Kultur annehmen. Es geht ja auch längst nicht mehr nur um das gegenseitige Stellen von Nupturientinnen, es geht um den Austausch schlechthin, um das Prinzip der Gegenseitigkeit. Wie diese Idee dann formal abgewandelt wird, kann  hier natürlich nur ganz kurz angedeutet werden.

Nun stellt das, was wir da als Grundmuster erkennen, nichts Gegenständliches dar, sondern es repräsentiert eine Idee, ein Vorgehen, ein Konzept. Man könnte auch sagen: ein Gesetz. Es ist also kein Piktogramm, sondern es ist ein Ideogramm.

Aber das heißt natürlich nicht, dass man diese archaischen Zickzack-Linien nicht auch als Piktogramme sehen kann. Wenn man sich das richtig überlegt, muss man sogar sagen: Man kann dieses Ideogramm nicht nur als Piktogramm sehen, man muss es sogar als Piktogramm sehen. Denn wenn wir uns auf etwas beziehen, das für unsere Gemeinschaft den Charakter eines unumstößlichen Gesetzes haben soll, dann muss das betreffende auch eine eingängige, verständliche und demzufolge möglichst anschauliche Bezeichnung haben, einen eingängigen Namen. (Lex …) Es gibt da verschiedene Möglichkeiten. Manche  Leute haben diese Zickzacklinien als „Blitze“ gedeutet, andere als „Wasser“. Aber die naheliegendste Assoziation ist zweifellos die „Schlange“

Hier kann natürlich nicht der Ort sein, wo wir uns generell mit der Symbolik der Schlange auseinandersetzen. Das ist ein viel zu umfassendes Thema, dem ich eine besondere Studie gewidmet habe. Ich möchte hier nur einige wenige Punkte eingehen, weil sie eben indirekt auch als Beweis meiner These dienen können. Zunächst und vor allem: Das absolut Erstaunlichste am Symbol der Schlange ist doch, dass sie überhaupt in so vielen Mythologien rund um die Welt eine positive Wertung besitzt. Denn wenn wir diese Tiere als das betrachten, was sie rein zoologisch sind, lässt sich kaum irgendein positiver Aspekt erkennen. Selbst wenn man einmal von ihrem Gift absieht, bleibt die Schlange ein ausgesprochen fremdartiges, unheimliches Lebewesen. Und trotzdem wird die Schlange in zahllosen Mythologien durchaus positiv bewertet. Nun, ich vermute, Sie ahnen bereits, woher diese positive Wertung der Schlange kommt. – Die Schlange wird als lebendiges Ideogramm gesehen für eine grundlegende, dem Menschen (über-) lebensnotwendige Wechselseitigkeit.

Der belgische Ethnologe Claude Lévi-Strauss (1908–2009) wird gelegentlich mit dem Satz zitiert, die natürlichen (Tier- und Pflanzen-) Arten würden nicht deshalb (als kennzeichnende Symbole) gewählt, weil sie gut zu essen seien, sondern weil sie gut zu denken seien. Für uns heißt das an dieser Stelle: Die in der Schlange lebendig gewordene Schlangenlinie verweist auf das Hinüber und Herüber, das Geben und  Nehmen von Nupturientinnen zwischen exogamen Gruppierungen oder Sippen. Und dieser seit Urzeiten geübte und folglich (durch die Wiederholung) geheiligte Austausch ist gleichbedeutend mit dem Leben und Überleben der Spezies Mensch überhaupt. Ohne exogamen Austausch hätten sich die vereinzelt lebenden Gruppen von Jägern und Sammlern nicht in ausreichendem Maß vermehren können. Sie wären sehr bald einmal ausgestorben. „Wer aber die Schlange anschaut, der wird am Leben bleiben,“ heißt es sinngemäß an bekannter Stelle. (4.Mose, 21. 6-9)

Weil die Menschen diesem in den Schlangen- oder Zickzack-Linien sichtbar und kommunikabel gemachten Austausch ihr Dasein verdanken, wird auch klar, weshalb die Schlange z.B. in Australien als die große Ahnin verehrt wird. Eine Darstellung dieser australischen Ahnin macht sogleich deutlich, warum das so ist.

Aber auch die Griechen glaubten, dass zumindest ihre Königsgeschlechter auf Schlangen zurückzuführen seien.

Und diese Leute hatten, wie sich nun herausstellt, in gewisser Weise vollkommen recht. Wenn ein Ahne ein Wesen ist, dem wir unser Dasein verdanken, dann muss man sagen: Wir Menschen stammen zwar nicht von der Schlange ab, aber wir verdanken ihr gleichwohl unser Dasein. Wir sind da, weil unsere Vorfahren dem „Gesetz der Schlange“ oder der „Weisheit der Schlange“ gefolgt sind. – Wenn man so will, ist das die tiefere Wahrheit des Mythus.

Wenn wir dieses Schlangensymbol hier abschließend noch einmal in seine Bestandteile zerlegen, dann sind wir wieder beim einfachen Chevron-Zeichen.

Nach Auskunft einer in Zentralafrika wirkenden Linguistin bedeutet das Chevron-Zeichen die Verbindung und die Kommunikation mit den göttlichen und kosmischen Kräften. In vielen afrikanischen (Bantu-) Sprachen steckt in den Gottesnamen eine Wurzel, die „verbinden“ bedeutet, aber auch „verknoten“, „anknüpfen“ oder „verlängern.“

verbinden

zusammenfügen

verlängern

So bedeutet der Name des Gottes Kalunga – „Derjenige, der am besten verbindet“, der Name des Gottes Mulungu bedeutet wörtlich „Der zusammenfügt.“

Für die traditionelle Religionswissenschaft ist immer ganz klar und selbstverständlich, dass das hier angesprochene Verbinden ein Verbinden des Menschen mit der Sphäre des Göttlichen sein müsse. Und nichts anderes. Aber inzwischen hat es ja bekanntlich einen Soziologen namens Karl Marx gegeben und der hat gelehrt, dass es in einigen entscheidenden Fragen darauf ankomme, die Dinge auf die Füße zu stellen. Und wie sich jetzt herausgestellt hat, sind das buchstäblich Füße und zwar vorwiegend weibliche. Nämlich die Füße der Nupturientinnen, die von einer exogamen Sippe zur anderen hinüberwandern. Damit konjugal zusammengefügt werden kann, was dann in seinem Ergebnis de facto die Existenz dieser Sippe verlängert.

Ganz zum Schluss möchte ich  noch das absolut älteste Ornament vorstellen, das bis heute gefunden worden ist. Es ist  75’000 Jahre alt, stammt aus Südafrika und wie es aussieht, das wird jetzt vielleicht nicht mehr allzu sehr überraschen.

 

Literaturnachweise:

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