Projektionen |
Disziplin | Feststellung | Fragen (Beispiele) | Einsichten | Modellgebrauch |
Symbolkunde, Ikonographie, u.ä. | Wir schreiben auffälligen Dingen in der Aussenwelt Bedeutung zu | Woran erkennen wir, dass ein Ding ein Symbol sein soll? Was löst das Ding aus? Wozu wird es gebraucht? | In den symbolischen Syllogismus gehen Basismetaphern und Kenntnis des Symbol-Dings ein. | Das Symbol-Ding (in der Aussenwelt) ist ein Modell für das Intendierte (ein geistiges Konzept). |
Erkenntnistheorie (Cassirer; Diskursanalyse; Konstruktivismus; Medialitätsforschung) | Polyperspektivität der Erkenntnis (interkulturell, interindividuell) | Durch welche hintergründigen Vorgaben (Präsuppositionen) wird die Erkenntnis mitbestimmt? | Nicht nur die kantischen Kategorien, auch: Sprache, kulturelle Patterns werden auf die Aussenwelt projiziert. | Das Konzept (Cassirer: »symbolische Form«) ist ein (apriorisches) Modell für das Ding in der Aussenwelt. |
Psychologie Sozialpsychologie | kognitive Verzerrungen, neurotische Fixierungen | Worin liegt der Krankheitsgewinn? (vgl. andere Abwehrmechanismen) Worin liegen die Beeinträchtigungen? | Innerpsychische Konflikte, im Widerspruch zum sozial Anerkannten werden auf äussere Objekte projiziert. | Das Konzept ist ein (apriorisches) Modell für das Ding in der Aussenwelt. |
Symbol: Das Modell hat die Funktion, etwas (aus verschiedenen Gründen: weil es den Sinnen nicht zugänglich ist; weil es durch Individuum oder Gemeinschaft nicht akzeptiert wird usw.) schwer Fassliches (wir sagen: das Explanandum, ein geistiges Konzept) anhand eines konkreten Dings (z.B. ein Tier, ein technischer Mechanismus, eine meteorologischen Erscheinung usw.) fassbar zu machen. Dabei hat das Ding in der Außenwelt unabhängig von seiner Indienstnahme als Modell ganz deutliche Züge, von denen einige dann zum Explanandum in Analogie gesetzt werden.
Projektion: Das ›Ding in der Außenwelt‹ ist nur vage differenziert, im Erkenntnisprozess bekommt es Konturen dadurch, dass wir apriorische, kulturell erworbene Konzepte darauf projizieren.
Graphik zum Zusammenwirken der beiden Dimensionen:
(Graphik von P.Michel)
Projektion und Symbol: Das vom Projizierenden Erkannte wird von ihm – weil es ja seine ins Auge springenden Eigenschaften dessen Psyche verdankt – als bedeutungsgeladen erfahren: Es wird als Symbol wahrgenommen.
Die Psychologie kann als Spezialfall der Erkenntnistheorie aufgefasst werden – kognitive Verzerrungen sind der Normalfall, sie können aber auffällig werden – : Gewisse unliebsame Elemente (unerträgliche Eigenschaften, Gedankeninhalte, Gefühle, Sehnsüchte und Wünsche des Individuums oder der Gemeinschaft, die mit gesellschaftlichen Normen in Konflikt stehen / für die man sich schämt / die man sich nicht zuzugeben getraut) werden auf Menschen(gruppen), Lebewesen oder auch sonstige Objekte abgebildet, ihnen zugeschrieben, in diese verlagert, so dass sie als von aussen kommend erkärt werden können und so besser bewältigt werden können. Es handelt sich um einen Abwehrmechanismus zur Bewältigung der Negativanteile der eigenen Persönlichkeit und zur Aufrechterhaltung der Stabilität der Person.
Bildspender für den Vorgang ist die Laterna Magica (bzw. der moderne Dia-Projektor), wo ein Bild auf eine weiße Leinwand ›hinausgeworfen‹ und erst dort erkennbar wird, wozu die Leinwand ihrerseits nichts beiträgt. – Das dem unvoreingenommenen Betrachter als diffus Erscheinende wird vom Projizierenden als konturiert erkannt. Der Projizierende ist sich dieses Mechanismus nicht bewusst, er hält das von ihm auf der Projektionsfläche Erkannte für einen objektiven Gegenstand, sonst könnte der Vorgang ja keine selbstwertsteigernde (oder -erhaltende) Funktion haben.
Die Laterna magica:
Johann Christoph Sturms, Phil. Nat. & Math. P. P. Mathesis Juvenilis, Das ist: Anleitung vor die Jugend zur Mathesin, Th. 1: welchem beigefügt ist ein Vorschlag, wie die Mathesis in die Gymnasia und gemeine Schulen, und alle derselben Classes, so gar vor Knaben, die erst zu lesen anfangen, zu der Jugend grossen Nutzen, einzuführen ist, Nürnberg: Hoffmann / Streck, 1702 — Zweiter Theil 1705.
Bild: Glasdia für eine Laterna Magica (19. Jh.)
Es ist die Frage, wie eng oder weit man den Begriff der ›Projektion‹ fassen möchte.
Eine enge (psychoanalytische) Definition basiert auf einem Seelen-Modell, das konfligierende Instanzen (Es, Über-Ich), aus dem Konflikt entstehende Unlust, Abwehrmechanismen zur Auferhaltung der Ich-Stärke, unbewusste Akte (den des Projizierens selbst), einen Krankheitsgewinn annimmt.
Eine weite Definition (anthropologische) basiert auf einem auslösenden Moment (z.B. die Erfahrung von Leere mit etwas Konkretem füllen müssen oder wollen; vgl. Blumenbergs Ansatz, referiert von D. Lier) und einem kreativen Moment (vgl. das Referat von S. Richebächer).
Die Mitte hält eine (poetologische) Definition, die ausgeht von einer kritischen Situation des Redenden, die ein kommunikatives Problem verursacht bzw. einem extremen Wunsch, der ebensowenig direkt ausdrückbar ist; die Zensur wird umgangen, indem das zu Sagende in einen anderen, unanstößigen Weltbereich transponiert wird.
Das tut die Allegorie ebenfalls (griechisch allegoréo ›etwas anders ausdrücken‹). Nun sollen aber Allegorie und Projektion nicht homonym verwendet werden (Ockhams Razor!). Vielleicht kann man so differenzieren:
Die Allegorie gewinnt ihre argumentative Überzeugungskraft dadurch, dass es möglichst viele Passungen zwischen der Bildwelt und der Sachwelt (z.B. Mühle, Jagd, Schachspiel) gibt. – Der semantische Sprung zwischen den beiden Welten ist Autor wie Publikum einsichtig.
Die Projektion dagegen gelingt am besten, wenn die Projektionsfläche möglichst wenig differenziert ist: Kleckse, Wolken, die Mondoberfläche eignen sich vorzüglich. Soll das Deutungsangebot eine Person sein, so wählt man mit Vorteil eine wenig profilierte Gestalt aus der Vorzeit (Arminius, vgl. das Referat von I. Tomkowiak). – Das projektive Verfahren soll dem Publikum möglichst verschleiert werden (wird es im Sinne der Psychoanalyse vor dem Hervorbringer selbst!).
Bild: Justinus Kerner (1786–1862), Klecksographie.
Quelle: http://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/3/32/KernerKlecksographie.png
Vgl. das Digitalisat: http://diglit.ub.uni-heidelberg.de/diglit/kerner1890
SOKRATES/PLATO verwendet einen Projektionsmechanismus als Modell in seinem Höhlengleichnis. Die projizierten Bilder sind Täuschungen, von deren Unechtheit der daran Gewöhnte sich kaum abbringen lässt. (»Staat« 514a-517a; Zusammenfassung von Thomas Fleischhauer; Schriften zur Symbolforschung Band 8, 1992, S. 12f.)
Stellen wir uns ein grosses unterirdisches Gewölbe vor, zu dem ein langer, abschüssiger Gang hinabführt. Diese Höhle liegt so weit im Erdinnern, dass kein Sonnenstrahl bis zu ihr gelangen kann. Hier unten sitzen Menschen. Hinter ihnen – erhöht und in einiger Entfernung – brennt ein Feuer, dessen Widerschein die vor ihnen liegende Wand erhellt, das sie aber selbst nicht sehen können. Sie sind nämlich seit ihrer Geburt so gefesselt, dass sie nicht imstande sind, sich umzudrehen und das zu betrachten, was sich in ihrem Rücken abspielt. Zwischen dem Feuer und den Gefangenen zieht sich eine niedrige Mauer hin. Hinter der Mauer führt ein Weg entlang, auf dem Leute gehen, die Statuen von Menschen und Tieren sowie sonstige Gerätschaften tragen und miteinander reden. Die vorbeigetragenen Gegenstände ragen über die Mauer hinaus. Die Träger selbst bleiben verborgen, doch dringen ihre Stimmen bis zu den Gefangenen. Diese sehen also nur die Schatten der Dinge, die vorbeigetragen werden. Da sie nichts anderes kennen, werden sie die Schatten für wirkliche Wesen (tà ónta) halten und die Stimmen ihnen zuschreiben.
Illustration von Ambrosius Humm (30.10.1924–20.11.2018)
Stellen wir uns weiter vor, dass einer dieser Gefangenen von seinen Fesseln befreit und gezwungen wird, sich umzudrehen. Das Licht des Feuers wird ihn schmerzlich blenden. Er wird, nach den ihm jetzt direkt sichtbaren vorbeigetragenen Gegenständen gefragt, in seiner Bestürzung zunächst dazu neigen, ihre Schatten für wirklicher zu halten, sind sie ihm doch vertrauter. Wenn ihn dann jemand durch den langen Gang aus der Höhle hinauszieht, wird er draussen, vom Sonnenlicht geblendet, am Anfang auch nicht etwas von dem erkennen können, was ihm jetzt als Wirklichkeit vorgeführt wird. Mit der Zeit werden sich jedoch seine Augen an die Helligkeit gewöhnen, und er wird nach und nach die Schatten, die Dinge selbst, den Himmel – zunächst in der Nacht, darauf bei Tage – ansehen können. Am Ende wird er das Wesen der Sonne, die alles hervorgebracht hat, am Leben erhält und dessen Wahrnehmung erst ermöglicht, erkennen können. Jetzt wird er sich selber glücklich schätzen, die Lage seiner ehemaligen Mitgefangenen aber wird ihn dauern.
Stellen wir uns schliesslich vor, dass dieser ehemalige Gefangene den langen den Weg hinab in die Höhle wieder zurückgeht. Da er sich im Dunkeln nur sehr schlecht zurechtfindet, wird er ›keine gute Figur machen‹, wenn es – wie hier unten üblich – darum geht, die Schatten an der Wand zu bestimmen und vorherzusagen, welche ihrer verschiedenen Formen als nächste erscheinen wird. Die Gefangenen werden den Aufstieg ans Tageslicht, von dem er ihnen erzählt, für nicht lohnend erachten und ihn, falls er ihre Fesseln zu lösen versucht, überwältigen und töten, wenn sie nur können.
Der Homo-mensura-Satz von PROTAGORAS (ca. 481–411; Diels/Kranz, Fragmente der Vorsokratiker)
Jetzt in der Variante bei Giambattista VICO (1668–1744, »Scienza Nuova«, I. Buch, 2. Abteilung). Satz 1: Der Mensch macht infolge der unbegrenzten Natur seines Geistes, wo dieser sich in Unwissenheit verliert, sich selbst zur Richtschnur des Weltalls. … Satz 2: Es ist eine andere Eigenschaft des menschlichen Geistes, dass die Menschen, wo sie sich von fernen und unbekannten Dingen keinen Begriff machen können, diese nach den ihnen bekannten und gegenwärtigen Dinge beurteilen.)
Francis BACON (1561–1626) zeigt im »Novum Organum« (Aphorismen 38 bis 62) mit seiner Idola-Lehre auf, wie Projektionen den Blick verfälschen. Als idola bezeichnet er falsche Begriffe (notiones falsae), Voreingenommenheiten, die den einzelnen Menschen oder eine Gemeinschaft oder das ganze Menschengeschlecht derart mit Beschlag belegt haben, dass sie die Erkenntnis verstellen.
Der Text Bacons Im WWWeb:
englisch: http://www.constitution.org/bacon/nov_org.htm oder
http://ebooks.adelaide.edu.au/b/bacon/francis/organon/chapter1.html
lateinisch: http://www.thelatinlibrary.com/bacon/bacon.liber1.shtml
Ausschnitt engl./dt. als PDF hier
Unter den Ideologiekritikern der Moderne ist Ernst TOPITSCH (1919–2003) zu nennen, der Heilslehren als Projektionen auffasst, wobei er nach verschiedenen Modellen (biomorphe, soziomorphe und technomorphe) gliedert. Vom Ursprung und Ende der Metaphysik, Wien: Springer 1958; 2. Aufl. München: dtv 1972.
Erkenntnistheorien, die mit dem Konzept der Projektion arbeiten, stehen in Gegensatz zu empiristischen Abbild-Theorien und stehen in der Nähe konstruktivistischer Theorien. Sie anerkennen ›kognitive Verzerrungen‹ als zur condicio humana gehörig (ja feiern sie sogar, wie in der Postmoderne).
Ein eher harmloser Fall von Projektion liegt vor, wenn wir am nächtlichen Sternenhimmel – der von sich aus keine Strukturen hat (was vielleicht moderne Astronomen in Abrede stellen würden), die Waage, die Fische, den Großen Bär (bzw. Großen Wagen), den Zentaur ›erkennen‹:
Von der Zufallsverteilung der Sterne zur den Stern-Bildern – Aus: Rupert Riedl, Biologie der Erkenntnis: Die stammesgeschichtlichen Grundlagen der Vernunft (1979), 1988 als dtv 10858; Abb.6.
›Der edle Wilde‹ (›the Noble Savage‹) ist eine Projektion der Europäer, mit der sie ein Umkehrbild ihrer eigenen korrupten Moral den kaum bekannten indigenen Völkern überstülpten. Vgl. die Forschungen zum Fremdstereotyp, zur sog. Imagologie, z.B. Urs Bitterli, Die ›Wilden‹ und die ›Zivilisierten‹. Grundzüge einer Geistes- und Kulturgeschichte der europäisch-überseeischen Begegnung, München: Beck 1976; 3. Auflage 2004.
Bild aus: Sebastian MÜNSTER, »Cosmographey«, Basel: Henricpetri 1588 (der Holzschnitt bereits in der lat. Ausgabe 1552).
Dritte Buch Americae, darinn Brasilia/ durch Johann Staden von Homberg auss Hessen, auss eigener erfahrung in Teutsch beschrieben. Item Historia der Schiffart Ioannis Lerij in Brasilien, welche er selbst publiciert hat, jetzt von newem verteutscht, durch Teucrium Annaeum Priuatum, C. Vom Wildern vnerhörten wesen der Innwoner, von allerley frembden Gethieren vnd Gewächsen, sampt einem Colloquio, in der Wilden Sprach. Franckfurt 1593.
> https://digi.ub.uni-heidelberg.de/diglit/bry1593bd3
Ein grauenhaftes Beispiel ist der Streit um das ›Blutgericht‹ von Verden. Karl der Große soll im Jahr 782 viertausendfünfhundert aufständische Sachsen haben enthaupten lassen. In den dreißiger Jahren entspann sich ein Streit unter ideologisch bewegten Gelehrten, ob das ein historisches Faktum sei. Kaiser Karl ist Projektionsfläche für christliche wie nationalsozialistische Positionen. Aufsatz dazu von P.Michel (als PDF) hier .
XENOPHANES (fl. 540/37; Fragmente der Vorsokratiker) sagt: Die Äthiopien behaupten, ihre Götter seien stumpfnasig und schwarz, die Thraker, blauäugig und blond. — Wenn die Rinder und Rosse und Löwen Hände hätten und malen könnten und Bildwerke schaffen wie Menschen, so würden die Rosse die Götter rossähnliche, die Rinder rinderähnliche, und sie würden solche Statuen bilden, ihrer eigenen Körpergestalt entsprechend. Damit ist impliziert, dass die Götter anthropomorphe Projektionen sind.
Auch wenn FEUERBACH das Wort nicht benutzt, ist seine Auffassung der Religion nahe bei einem Konzept von Projektion; F. nimmt an, der Mensch setze die ihn beseelenden, bestimmenden, beherrschenden Elemente, denen er keinen Widerstand entgegensetzen kann in ein andres, von ihm unterschiedenes Wesen und verehre sie darin. Andrea Klages, Religion als ›Projektion menschlicher Sinnhaftigkeit in die öde Leere des Universums‹. Die Religionskritik Feuerbachs im Kontext der Neuzeit (THEOS – Studienreihe Theologische Forschungsergebnisse, Bd. 67) Hamburg: Kovács 2005.
Das Argument bekommt bei NIKOLAUS VON KUES (1401–1464) eine andere argumentative Pointe. Die Kritik an den anthropomorphen Gottesbildern mündet nicht ein eine Ermunterung zum Atheismus, sondern fordert auf zu einer apophatischen (d.h. Gott alle Attribute absprechende) Theologie:
»De visione Dei«, Kapitel VI: De visione faciali [Ausschnitt]
Visus tuus, domine, est facies tua. Qui igitur amorosa facie te intuetur, non reperiet nisi faciem tuam se amorose intuentem, et quanto studebit te amorosius inspicere, tanto reperiet similiter faciem tuam amorosiorem; qui te indignanter inspicit, reperiet similiter faciem tuam talem; qui te laete intuetur, sic reperiet laetam tuam faciem, quemadmodum est ipsius te videntis. Sicut enim oculus iste carneus per vitrum rubeum intuens omnia, quae videt, rubea iudicat et, si per vitrum viride, omnia viridia, sic quisque oculus mentis obvolutus contractione et passione iudicat te, qui es mentis obiectum, secundum naturam contractionis et passionis.
Homo non potest iudicare nisi humaniter. Quando enim homo tibi faciem attribuit, extra humanam speciem illam non quaerit, quia iudicium suum est infra naturam humanam contractum et huius contractionis passionem in iudicando non exit. Sic, si leo faciem tibi attribueret, non nisi leoninam iudicaret, et bos bovinam et aquila aquilinam.
O domine, quam admirabilis est facies tua, quam si iuvenis concipere vellet, iuvenilem fingeret et vir virilem et senex senilem. Quis hoc unicum exemplar verissimum et adaequatissimum omnium facierum ita omnium quod et singulorum et ita perfectissime cuiuslibet quasi nullius alterius concipere posset?
deutsche Übersetzung von Dietlind und Wilhelm Dupré (1967): Dein Blick, Herr, ist Dein Angesicht. Wer Dich also mit liebevollem Gesicht betrachtet, findet nichts anderes, als dass Dein Gesicht ihn liebevoll ansieht; und je mehr er sich bemüht, Dich mit größerer Liebe anzublicken, umso liebevoller wird er Deinen Blick finden. Wer Dich feindselig ansieht, wird Dein Antlitz ebenfalls sehen. Wer Dich fröhlich betrachtet, wir Dein Antlitz von Freude erfüllt sehen, so wie es das seine ist, das Dich anblickt. So glaubt das leibliche Auge, das durch ein rotes glas blickt, dass alles rot sei, was es sieht, oder alles grün, wenn es durch ein grünes blickt. Genauso beurteilt jedes geistige Auge, das in Verschränkung und Leidenschaft verstrickt ist, Dich, den Gegenstand des Geistes, der Natur seiner Verschränkung und seiner Leidenschaften entsprechend.
Der Mensch kann nicht anders als nur menschlich urteilen. Wenn er Dir ein Antlitz zuspricht, so sucht er es nicht ausserhalb der menschliche Eigengestalt, da sein Urteil innerhalb der menschlichen Natur verschränkt ist. Und das Gebundensein an diese Verschränkung verlässt er nicht beim Urteilen.Genauso würde auch ein Löwe, wenn er Dir ein Gesicht zuschriebe, es für nichts anderes als ein löwenartiges, ein Rind für das eines Rindes und ein Adler für das eines Adlers halten.
O Herr, wie bewundernswert ist Dein Antlitz, das ein Jüngling, wollte er es erfassen, sich als das eines Jünglings, ein Mann als das eines Mannes und ein Greis als das eines Greises vorstellen würde. Wer könnte dieses einzige, wahrste und genaueste Urbild aller Gesichter erfassen, das ebenso das aller wie das jedes einzelnen ist und das das Urbild in so vollkommener Weise jedes einzelnen ist, als ob es das keines anderen sein könnte.
Der ganze lat. Text von »De visione Dei« im WWWeb — englische Übersetzung (PDF)
Kampf zwischen Engel und Teufel, die einen Menschen am Opferstock zu beeinflussen suchen. Basler Meister um 1450; aus: 100 Meisterzeichnungen des 15. und 16. Jhs., aus dem Basler Kupferstichkabinett, Auswahl und Text von Hanspeter Landolt, Basel 1972; Nr. 2.
Thomas Rowlandson after James Dunthorpe: »The hypochondriac surrounded by doleful spectres«, 1788. Quelle: Wikimedia s.v.
1846 wurde in Boston die erste Äthernarkose öffentlich vorgeführt; die Methode setzte sich schnell durch. Als Nebeneffekt entsteht beim Patienten während einer Phase des Einatmens von Äther eine perturbation profonde: les sujets tombent dans une sorte de contemplation béate qui ressemble à la fois à l’ivresse der à l’extase. Die Narkotisierten haben Halluzinationen.
Auf dem Bild hat Yan’ Dargent (1824–1899) die inneren Vorgänge neben der Person, die sie erlebt, visualisiert:
Rêve d’un éthérisé aus: Louis Figuier, Les Merveilles de la Science ou description populaire des inventions modernes. Paris 1870; tome II, s.v. Étherisation (Text dazu auf S. 667ff.)
Erasmus, »Lob der Torheit«, Kap. 38 erörtert verschiedene Arten von Wahn (insania). Hier die zweite Art:
Auch jener Argiver war gar nicht auf den Kopf gefallen: der saß tagelang im leeren Theater allein und lachte, klatschte und belustigte sich, in der Einbildung lebend, man spiele dort die wunderbarsten Stücke, während die Bühne doch leer war. Er stellte im Leben sonst seinen Mann,
»ein lieber Freund, ein rücksichtsvoller Gatte,
Begriff es, wenn ein Knecht gesündigt hatte,
Und tobte nicht, fand er den Wein getrunken.«
Als ihn die besorgten Verwandten durch Arzneien geheilt hatten und er wieder völlig bei sich war, haderte er mit ihnen:
»Zu Tode habt ihr mich kuriert, ihr Lieben,
Die ihr mir jetzt den Wahn habt ausgetrieben
Und mir geraubt, was einst mein Glück gewesen.«
Er hatte recht: sie selbst waren auf dem falschen Wege und hatten eher eine Nieswurzkur nötig als er, da sie vermeinten, einen beglückenden, holden Wahn wie ein schlimmes Leiden mit heilsamen Tränklein vertreiben zu müssen.Erasmus, »Lob der Torheit«, Kap. 38 (Übersetzung von Alfred Hartmann, 1929) mit Zitat aus Horaz, Epist. II,ii, 128ff.
Illustration aus »Lob der Narrheit«, St.Gallen: Egli und Schlumpf 1839, gegenüber S. 109.
In der psychoanalytischen Theorie Sigmund und Anna FREUDs gilt Projektion als eine Art des »Abwehrmechanismus«: Negative, unerträgliche Selbstanteile (Aggressionen und andere Triebimpulse) werden abgespalten und nach außen projiziert; durch eine solche Externalisierung werden innere Konflikte in der Außenwelt inszeniert, und das innerpsychische Gleichgewicht kann aufrecht erhalten werden. J. Laplanche / J.-B.Pontalis, Das Vokabular der Psychoanalyse, (frz. Original 1967), Frankfurt 1973 (suhrkamp taschenbuch wissenschaft 7), s.v..
Die Analytische Psychologie nach Carl Gustav JUNG versteht unter Projektion das Zuschreiben von in der eigenen Psyche angelegten Archetypen an Personen oder Objekte außerhalb des Ichs. Projektion des Schattenarchetyps, d.h. verdrängter eigener Eigenschaften, Wünsche und Taten – vor allem solcher, die mit gesellschaftlichen Normen in Konflikt stehen, oder für die sich der Projizierende schämt.
Sogenannte ›projektive Tests‹ (am berühmtesten ist der RORSCHACH-Test) verwenden diesen Mechanismus für die psychologische Diagnostik, indem sie von dem, was die Versuchsperson / bzw. der Patient in den an sich bedeutungslosen Tintenklecks hineinprojizieren, auf dessen seelische Verfassung zurückschließen. Hermann Rorschach, Psychodiagnostik. Methodik und Ergebnisse eines wahrnehmungsdiagnostischen Experiments (Deutenlassen von Zufallsformen), Bern 1921.
Kein Bild dazu, denn »Psychologen legen Wert darauf, dass die Bilder nicht öffentlich gezeigt werden, damit eine Beeinflussung des Tests durch Vorwegnahmen (zudem oft Falschinformationen, die etwa im Internet oder in „Testknackerbüchern“ kursieren) vermieden wird.« (wikipedia s.v.)
Es gibt verschiedene Gestaltungsformen unserer Wunschphantasien, Sehnsüchte und Ängste: Utopien, Zeitreisen, Schlaraffenländer, Paradiese, Apokalypsen, Höllen.
»Der Mensch projiziert sein […] Verlangen nach sozialer Gerechtigkeit in den Kosmos; und wenn aus entfernten Räumen der erhabene Widerhall seiner eigenen Stimme zu ihm zurückkehrt und Bestrafung der Schuldigen verheißt, dann schöpft er daraus Mut und Zuversicht.« Eric Robertson Dodds, Die Griechen und das Irrationale, (engl. 1951), Darmstadt: wbg 1970, S. 20.
Das Paradies bzw. die Hölle sind in der Bibel nicht deutlich beschrieben (Paradies: Gen 2,10–14; Hölle: erst apokryph im 1. Henochbuch, Kap. 21) und können somit ausstaffiert werden für Darstellung von kulturellen Zuständen oder für die Abstrafung unliebsamer Gegner (in den sich vielleicht eigene Ängste oder Wünsche spiegeln). Adolf Doren, Wunschträume und Wunschzeiten, in: Vorträge der Bibliothek Warburg 1924/25, hg. Fritz Saxl, Leipzig/Berlin: Teubner 1927, S. 158–205. — Martin Müller, Das Schlaraffenland. der Traum von Faulheit und Müßiggang, Wien: Brandstätter 1984.
Die Unterwelt im 6. Gesang von Vergils Aeneis; Vergil-Ausgabe des Sebastian Brant, Straßburg, Grieniger 1502; fol CCLXVIII verso.
Antonios der Große begann am Rande seines Heimatdorfes ein asketisches Leben. Um dem Zulauf der Menge zu entfliehen, verlegte er später seinen Sitz in die Libysche Wüste, in eine Nekropole. Wiederum folgte die ihn verehrende Menge nach, und er zog weiter auf einen Berg in die Einsamkeit. Im Alter von über 100 Jahren starb er (356). Sein Leben wurde von Athanasius beschrieben. Hier findet sich Kapitel 8 und Kapitel 9 die Episode vom vielgestaltigen Teufel, der ihn foppt und bedrängt.
Als Folge der akedía, d.h. einer sich in der langen Einsamkeit einstellenden Mutlosigkeit, nach langen Entbehrungen, in einem lebensfeindlichen Klima, in der konturlosen Wüste erscheinen den Wüstenmönchen gelegentlich Dämonen oder gar der Leibhaftige. Von einer religionsphänomenologischen Warte aus könnte man diese Gestalten als Projektionen auffassen. Man unterstellt den Heiligen damit allerdings ein Innenleben...
Martin Schongauer (* um 1445/50 – 1491), Die Vision des hl. Antonius; Kupferstich
Olimpia in E.T.A. HOFFMANNs »Sandmann« als Projektion Nathanaels.
In der Belletristik beobachtet man öfters ›Hinausverlagerungen‹ von Emotionen in Nebenfiguren oder Personifikationen (vgl. z.B. den Kampf zwischen Löwe und Drachen in HARTMANNS VON AUE »Iwein«-Roman).
Das Aquatintablatt von Francisco DE GOYA (1746–1828): »El sueño de la razón produce monstruos«: Die Phantasie, verlassen von der Vernunft, erzeugt unmögliche Ungeheuer; vereint mit ihr ist sie die Mutter der Künste und Ursprung der Wunder. Stefan Nehrkorn, 78. Sitzung der Humboldt-Gesellschaft in Berlin am 16.03.99.
Carl Gustav JUNG hat die Arbeitsmethoden der Alchimisten als Projektion des seelischen Vorgangs der Selbstfindung aufgefasst. Ähnlich Henri-Charles Puech die mythologischen Vorstellungen im Manichäismus (Le Manichéisme, Paris 1949). Man kann diesen Gedanken wissenschaftsgeschichtlich verlängern: Die Leistung der modernen Naturwissenschaften besteht darin, sich von anthropomorphen Projektionen auf die ›Objekte‹ befreit zu haben.
Ein Seitenblick auf dieses Konzept von Robert Pfaller könnte sich lohnen. Interpassivität nennt er die Praxis, eigene Handlungen und Empfindungen an äußere Objekte, d.h. Menschen oder Dinge zu delegieren. Die Theorie der Interpassivität bezieht sich hauptsächlich auf den Bereich der Lustempfindungen, weshalb Interpassivität auch als ›delegiertes Genießen‹ definiert werden kann. Vgl. den Eintrag Interpassivität in der Wikipedia.
Die Technik der Laterna Magica, wo die Zuschauer in einem dunkeln Raum sitzen und nicht wissen, was da auf sie zukommt, hat offenbar immer schon angeregt, Dämonisches zu zeigen. Schon frühe technologisch orientierte Darstellungen enthalten solche Bilder (vgl. Kircher und Gravesande unten). Berühmt wurde dann Étienne-Gaspard Robertson (1763–1837) mit seiner »Phatasmagoria«.
aus: Athanasius Kircher, »Ars Magna Lucis et Umbræ«, 2. Auflage, Amsterdam 1671; Pars III, Problema iv: De Lucerna Magicæ seu Thaumaturgæ constructione = p. 768 sqq.
aus: Willem J. Gravesande (1688–1742), Mathematical Elements of Natural Philosophy confirm'd by experiments, London: printed for J. Senex 1737.
Second Volume, Book II. Chap. XVI. Of the Magic Lantern
> https://doi.org/10.3931/e-rara-11619
> https://www.e-rara.ch/zut/content/zoom/3527889
❏ ❏ ❏ Erstes Beispiel: Tea Tax Tempest
Um die folgenden Bilder zu verstehen, ist folgendes Hintergrundswissen nötig: Amerikanischer Unabhängigkeitskrieg (Loslösung der Dreizehn Kolonien in Nordamerika vom Britischen Empire 1775 bis 1783):
1774:
••• Ein Schabkunstblatt des irischen Kupferstechers John Dixon (1740?–1811) zeigt Chronos (geflügelt, die Sense am Boden) der sich auf einen Globus lehnt und mit einer Laterna magica ein Bild projiziert:
> https://nat.museum-digital.de/object/859504
> http://www.virtuelles-kupferstichkabinett.de/de/zoom/Invt Drawn & Engrav'd by J. Dixon. June 1774.
Unten ist zu lesen: THE ORACLE. Representing Britannia, Hibernia, Scotia, & America, as assembled to consult the Oracle, on the present situation of Public Affairs. Time acting as Priest. Dedicated to Concord.
Das Bild stellt mithin den friedlichen Zug eines Königs gegen (undeutlich charakterisierte) Bösewichter dar. Zuschauer:innen sind die drei britischen Reiche, wobei die Frau in der Mitte etwas fassungslos-aufgelöst dreinschaut. Besonders interessiert am Bild ist ein Eingeborener aus Amerika. Tempus orakelt also im März 1773 noch: Es wird gut ausgehn.
••• The Tea-Tax-Tempest, ebenfalls von John Dixon:
> https://www.metmuseum.org/art/collection/search/390689 (vergrößerbar)
Auf dem hier projizierten Bild wird hier ein Kampf gegen Britannien (rechts mit den drei heraldischen ›Leoparden‹) dargestellt; eine Personifikation mit einem Joch in der Hand liegt bereits am Boden.
Jetzt ist eine der drei zuschauenden Damen links durch eine Dunkelhäutige ersetzt. Offenbar sind jetzt die vier Erdteile gemeint. Der ganze Erdkreis schaut zu.
1778 kopiert der deutsche Kupferstecher Carl Gottfried Guttenberg (1743–1790) das Bild von Dixon mit dem Titel The Tea-Tax Tempest, or the Anglo-American Revolution. (wie üblich seitenverkehrt)
> https://philamuseum.org/collection/object/10359
> https://de.m.wikipedia.org/wiki/Datei:Tea_Tax_Tempest.jpgDas projizierte Bild ist wiederum abgändert: Es zeigt in der Mitte eine dampfende oder gar explodierende Teekanne, die auf einem von einem Hahn mit einem Blasbalg angefachten Feuer kocht. Der Bezug zur Tee-Steuer wird jetzt deutlich. Wofür steht der Hahn? Historischer Hintergrund evtl.: Frankreich hat sich am 6.2.1778 mit den 13 Kolonien im Kampf gegen Großbritannien verbündet. Britische Soldaten mit den drei Leoparden auf der linken und amerikanische Soldaten (der vorderste mit indianischem Warbonnet) auf der rechten Seite.
Unten am Bild sind als Anhängsel gezeigt: links Aufstand der Niederlande gegen die Spanier (AUTODAFÉ – Holland 1560); der Löwe mit den Pfeilen in den Pfoten steht für Hollands Befreiung — rechts (TELL – Switzerland 1206): der Tellenschuss im Kampf gegen die die Eidgenossen okkupierenden Habsburger.
Der Aufstand der Amerikaner gegen die Briten wird mithin legitimiert.
1783 wird das Bild nochmals kopiert: THE TEA-TAX-TEMPEST oder OLD TIME with his MAGICK-LANTHERN, Publ. March 12 1783
> https://www.metmuseum.org/art/collection/search/389004
Chronos – 1783 bereits in der Rolle eines Historiographen – spricht (wobei der Bezug zum Bild nicht überall klar ist): There you see the little Hot Spit Fire Tea pot that has done all the Mischief - There you see the Old British Lion basking before the American Bon Fire whilst the French Cock is blowing up a Storm about his Ears to Destroy him and his young Welpes – there you See Miss America grasping at the Cap of Liberty – There you see The British Forces be yok'd and be cramp'd flying before the Congress Men – There you see the thirteen Stripes and Rattle-Snake exalted – There you see the Stamp'd Paper help to Make the Pot Boil – There you See &c &c &c
Unten rechts ein aufgeschlagenes Buch mit der Szene des Tellenschusses.
Die Komposition hat mehrere Bild-Sphären:
(Mit bestem Dank an Andreas M. in B. für viele Hinweise).
❏ ❏ ❏ Zweites Beispiel: Der Karikaturist Balthasar Anton Dunker (1746–1807 in Bern) zeichnete diese Karikatur:
Kurze Erklärung der im moralisch-politischer Kurier enthaltenen Thatsachen — Das Jahr 1800 in Bildern und Versen
> https://books.google.ch/books?id=2cLe7vXFwxkC&redir_esc=y
Der die Laterna Magica bedienende Johann Caspar Lavater (1741–1801) ist deutlich im Profil erkennbar; hier in einer Radierung von Johann Heinrich Lips:
Nach Hinweisen von Marie-Louise Schaller, Annäherung an die Natur: Schweizer Kleinmeister in Bern 1750–1800, Bern: Stämpfli 1990; zu Bild 294. (Dank für weitere Tips und eine Fotografie des Radierung an Andreas M. in B.!)
HAMLET: Do you see yonder cloud that’s almost in shape of a camel?
LORD POLONIUS: By the mass, and ’tis like a camel, indeed.
HAMLET: Methinks it is like a weasel.
LORD POLONIUS: It is backed like a weasel.