Symboliken der Zeit

Übersicht:

 

✖✖✖ Antike Gottheiten der Zeit

✖✖✖ Umsetzung in Räumliches

✖✖✖ Abgrenzbare Phasen, Stufen

✖✖✖ Die Zeit ist unwiederbringlich

✖✖✖ Triumph der Zeit

✖✖✖ Eile mit Weile!

✖✖✖ Ouroboros

✖✖✖ Zyklische Geschichtsvorstellung

✖✖✖ Occasio am Schopf packen!

✖✖✖ Die Zeit entdeckt die Wahrheit

✖✖✖ Die Geschichte arbeitet gegen die Zeit

✖✖✖ Die Zeit zerstört Kunstwerke

✖✖✖ Zeit-Reise

✖✖✖ Endlichkeit des Lebens

✖✖✖ Jahrringe in Bäumen

✖✖✖ Zeitkreis

✖✖✖ Blick auf die Uhr als Ansporn

✖✖✖ Die Zeit selbst hat ein Ende!

✖✖✖ Überlegungen zur Zeit in der Philosophie

✖✖✖ Kleine Anthologie von Zeit-Zitaten

 

✖✖✖ Allgemeine Literaturhinweise


Was ist die Zeit?

Augustinus (354–430)

Quid est ergo tempus? si nemo ex me quaerat, scio; si quaerenti explicare velim, nescio. ≈ Was ist also Zeit? Wenn mich niemand danach fragt, so weiss ich es; will ich es aber einem Fragenden erklären, so weiss ich es nicht. (Confessiones XI, 14)
> https://bkv.unifr.ch/de/works/cpl-251/versions/aug-conf-bkv/divisions/203

vgl. Augustinus, Civitas Dei XII,12–21

Hugo von Hofmannsthal (1874–1919), »Der Rosenkavalier«

Musik von Richard Strauß, Uraufführung 1911.

Die Marschallin:

Die Zeit, die ist ein sonderbares Ding.
Wenn man so hinlebt, ist sie rein gar nichts.
Aber dann auf einmal, da spürt man nichts als sie:
sie ist um uns herum, sie ist auch in uns drinnen.
In den Gesichtern rieselt sie, im Spiegel da rieselt sie, in meinen Schläfen fließt sie.
[…] Lautlos, wie eine Sanduhr. […]
Manchmal hör ich sie fließen unaufhaltsam.
Manchmal steh ich auf, mitten in der Nacht, und laß die Uhren alle stehen. […]
Allein man muß sich auch vor ihr nicht fürchten.
Auch sie ist ein Geschöpf des Vaters, der uns alle geschaffen hat.

> http://www.zeno.org/nid/20005090172

Und weil die Zeit "an sich" so unfassbar ist, muss sie symbolisch erfasst werden, umgesetzt in gegenständlich Erfahrbares.

Antike Gottheiten der Zeit -- und deren Nachfolger

Hesiod, Theogonie (154ff., speziell 180)

Kronos bekommt von seiner Mutter Gaia eine Sichel, womit der seinen Vater Uranos entmannt; dann verschlingt er seine Kinder, damit er seienrseits nicht von ihnen übewältigt wird.

Cicero, De natura deorum II, ¶ 64

Saturnum autem eum esse voluerunt qui cursum et conversionem spatiorum ac temporum contineret. qui deus Graece id ipsum nomen habet: Κρόνος enim dicitur, qui est idem χρόνος id est spatium temporis. Saturnus autem est appellatus quod saturaretur annis; ex se enim natos comesse fingitur solitus, quia consumit aetas temporum spatia annisque praeteritis insaturabiliter expletur.

Saturn aber sollte der Gott sein, der den Verlauf und den Wechsel der Zeiträume und Jahrsezeiten beherrscht. Im Griechischen trägt der Gott ja gerade diese Bezeichnung: denn er wird Kronos genannt, und das bedeutet dasselbe wie "chronos", d.h. Zeitraum. Saturnus aber heisst er, weil er sich an den Jahren sättigt (saturatur); man dichtet ihm ja an, er pflege seine eigenen Kinder aufzufressen, weil die Zeit die einzelnen Zeitabschnitte verschlingt.... (Übersetzung von Wolfgang Gerlach)

Weitere mythographische Autoren zu Saturn:

Martianus Capella (fl. 410/439), »de nuptiis…« ¶ 70: [Saturn] gressibus tardus ac remorator incedit glaucoque amictu tectus caput. praetendebat dextra flammivomum quendam draconem caudae suae ultima devorantem, […]. ipsius autem canities pruinosis nivibus candicabat, ... ≈ langsamen Schritts, zögerlich kommt er daher, das Haupt bedeckt mit bläulich grauer Hülle. In der rechten Hand trug er vor sich her einen Drachen / eine Schlange, feuerspeiend und das Schwanzende verschlingend. Seine graue Mähne schimmerte wie frostiger Schnee ....

Die den Text von Martianus Capella enthaltene Handschrift Clm. 14 271 (um 1100), fol. 11 verso stellt ihn so dar (Ausschnitt):

> https://www.loc.gov/resource/gdcwdl.wdl_13460/?sp=26

Hier ist dem Saturn eine Schlange (draco) beigegeben, die sich in den Schwanz beisst. Notker deutet: trûog er án dero zéseuuun éinen fíurenten drácchen . dér daz iâr bezéichenet . sînen zágel slíndente.

Vicenzo Cartari (ca. 1531–1569): »Imagini delli 'Dei de gl’Antichi« (1571 und Neuauflagen)

Die bildlichen Darstellungen kombinieren verschiedene in den schriftlichen Quellen vorgefundene Elemente:

Fulgentius. Mitologiarum libri tres. (Biblioteca Apostolica Vaticana, Pal. lat. 1726, Fol. 50v.) https://digi.ub.uni-heidelberg.de/diglit/bav_pal_lat_1726/0104/


Bei Bildern in astronomischem Kontext sind jedem Planeten Tierkreiszeichen zugeordnet; Saturn hat Steinbock (Capricornus) und Wassermann (Aquarius):

Sebald Beham ca. 1539
> https://www.britishmuseum.org/collection/object/P_1931-0511-10

Warum ist Saturn hier (und anderswo) bein-amputiert?


Der Gott hat da und dort ein Nachleben, beispielsweise auf dieser Druckermarke von Peter Jordan:

Petrus Iordan lectori salutem dicit. En tibi nunc iterum candide lector, coelestium rerum disciplinae, atque totius sphaericae peritissimi, Iohannis Stoeflerini Iustingensis, viri Germani, variorum astrolabiorum compositionem sev fabricam ... ex postrema autoris recognitione ... typis nostris cudenda praesumpsimus ... atque imprimenda curavimus … [Mainz. Jordan], 1535.

 

Wird Kronos/Chronos als Personifikation der Zeit aufgefasst, wird er deutlicher als Greis dargestellt und bekommt statt der Sichel eine Sense:

Iconologia Deorum, Oder Abbildung der Götter welche von den Alten verehret worden; Aus den Welt-berühmtesten Antichen der Griechischen und Römischen Statuen, […] Durch Joachim von Sandrart auf Stockau; Nürnberg, Gedruckt durch Christian Siegmund Froberger, in Verlegung des Authoris, … 1680.

Die Sense ist kaum antik, sondern könnte inspiriert sein von Darstellungen des "Schnitter Tod", vgl.

Johannes von Tepl, Ackermann von Böhmen, Druck: Bamberg, Albrecht Pfister, ca. 1463
Digitalisat > https://gallica.bnf.fr/ark:/12148/bpt6k1517627j/f27.item

Vgl. Jeremias 9,22: … der menschen Leichnam sollen ligen / wie der Mist auff dem felde / vnd wie garben hinder dem Schnitter / die niemand samlet. (Lutherbibel 1545)

Und er bekommt dazu noch Flügel:

Giacomo Zampa (1731–1808) im Palazzo Monsignani, Forli (it.wikipedia)

Phanes

Gerne wird diese Gestalt aus dem Kontext des antiken Orpheus-Kults sowie des Mithras-Kults (Synkretismus!) als die Zeit symbolisierend angesehen:

(Modena Galleria Estense; die Plastik wird von Archäologen auf die erste Hälfte des 2.Jhs. u.Z. datiert.)

Der geflügelte Mann (oder ist es ein Hermaphrodit?) mit Ziegenfüßen scheint aus zwei Hälften einer Eierschale zu entspringen; er hält wie Jupiter einen Donnerkeil (keraunós) und einen langen Stab (ein ägyptisches Zepter?) in Händen; aus seiner Brust ragen die Köpfe eines Löwen, eines Widders und eines Ziegenbock hervor; er ist umgeben von einem Band mit Tierkreiszeichen; in den Ecken die vier Hauptwinde; besonders auffällig ist die Schlange, die sich um ihn windet und deren Kopf oben ???.

Vgl. Maria Chiara Montecchi
> https://gallerie-estensi.beniculturali.it/blog/il-rilievo-marmoreo-con-il-dio-aion-phanes/

Antike Textstellen in engl. Übersetzung
> https://www.theoi.com/Protogenos/Phanes.html

Janus blickt in die Vergangenheit und (deshalb verlässlich) in die Zukunft



Guillaume de la Perrière, Theatre des bons engins, Paris: Denis Janot, s.d. (1544)
> https://www.emblems.arts.gla.ac.uk/french/emblem.php?id=FLPa001

LE dieu Janus jadis à deux visaiges,
Noz anciens ont pourtraict, et tracé:
Pour demonstrer que l’advis des gents saiges,
Vise au futur, aussi bien qu’au passé.
Tout temps doibt estre en effect compassé,
Et du passé avoir la recordance,
Pour au futur preveoir en providence,
Suyvant vertu en toute qualité.
Qui le fera verra par evidence,
Qu’il pourra vivre en grand’ tranquilité.

Oder englisch:

Ianus is figur'd with a double face,
To note at once the time to come and past.
So should the wise obserue the pased space,
As they may well foresee a chance at last,
And with such prouidence direct this race,
That in their thoughts both times be euer plaste:
Embracing vertue then in euery thing,
Themselues to rest and quiet peace shall bring.

The theater of fine devices, containing an hundred morall emblemes. First penned in French by Guillaume de la Perriere, and translated into English by Thomas Combe, London 1614.
> https://hdl.handle.net/2027/ien.35556007758568

Die dreiköpfige Klugheit

Macrobius (zwischen 399/400 und 430 bezeugt) berichtet in den »Saturnalia« (I,xx,13ff.) von einem Standbid der Göttin Isis:

Omnem tamen illam venerationem soli se sub illius nomine testatur inpendere, vel dum calathum capiti eius infigunt, vel dum simulachro signum tricipitis animantis adiungunt quod exprimit medio eodemque maximo capite leonis effigiem: dextra parte caput canis exoritur, mansueta specie blandientis: pars vero laeva cervicis rapacis lupi capite finitur, easque formas a nimalium draco conectit volumine suo, capite redeunte ad dei dexteram qua conpescitur monstrum. Ergo leonis capite monstratur praesens tempus, quia conditio eius inter praeteritum futurumque actu praesenti valida fervensque est: sed et praeteritum tempus lupi capite signatur, quod memoria rerum transactarum rapitur et aufertur: item canis blandientis effigies futuri temporis designat eventum, de quo nobis spes, licet incerta, blanditur: tempora autem cui nisi proprio famularentur auctori?
> https://penelope.uchicago.edu/..../Texts/Macrobius/Saturnalia/1*.html

Dem Standbild des Gottes (Serapis) ist das Bild eines dreiköpfigen Tieres beigfügt, dessen mittlerer und größter Kopf einem Löwen gleicht. Zur rechten Seite erhebt sich der Kopf eines Hundes, der mit freundlichem Ausdruck zu gefallen sucht, während der linke Teil des Halses in den Kopf eines raubgierigen Wolfes ausläuft. […] Der Löwenkopf stellt so die Gegenwart dar, deren Charakter zwischen Vergangenheit und Zukunft stark und (dank gegenwärtiger Tätigkeit) feurig ist. Durch den Wolfskopf aber wird die Vergangenheit bezeichnet, weil die Erinnerung an vergangene Dinge aufgezehrt und aufgehoben wird. Weiterhin bedeutet das Bild des schmeichelnden Hundes die zukünftigen Ereignisse, von denen uns die Hoffnung, wiewohl unzuverlässig, ein angenehmes Bild malt. Wem jedoch sollten die Zeiten gehorchen, wenn nicht ihrem eigenen Schöpfer?

Ambrosius Theodosius Macrobius. Tischgespräche am Saturnalienfest, Übersetzung von Otto und Eva Schönberger, Würzburg: Königshausen & Neumann 2008.

Petrarca (1304–1374) kannte offenbar den Text von Macrobius, was aus einer Stelle in seinem Buch »Africa« (III, 156ff.) hervorgeht:

At iuxta monstrum ignotum immensumque trifauci
Assidet ore sibi placidum blandumque tuenti.
Dextra canem, sed leva lupum fert atra rapacem,
Parte leo media est, simul hec serpente reflexo
Iunguntur capita et fugientia tempora signant.

Panofsky übersetzt: Neben dem Gott sitzt ein riesiges, seltsames Monster, das dreihalsige Gesicht ihm zugewandt in freundlicher Art. Zur Rechten gleicht's einem Hund, zur Linken einem zuschnappenden Wolf, in der Mitte ein Löwe. Und eine gewundene Schlange verbindet die Köpfe: sie bedeuten die flüchtige Zeit.

Tizian hat das dreiköpfige Wesen (ca. 1569) kombiniert mit für drei Lebensalter des charakterstischen Menschen. Die Portraits entnimmt er drei Generationen der eigenen Familie, für das Alter (links) steht ein Selbstportrait:

Oben: ex praeterito praesens | prudenter agit | ne futura actione deturpet

≈ Die Gegenwart soll von der Vergangenheit [lernend] klug handeln, damit sie nicht durch ihr Handeln die Zukunft gefährdet.

Guillaume de La Perrière (1499–1565) kennt diese Symbolik auch und verwendet sie als erstes Emblem in seinem Buch. Hier ist das dreiköpfige Wesen Le Temps (mit Sense und Hirschfüßen; die Krönung in der Zukunft bezieht sich auf calathum capiti eius infigunt im Text von Macrobius.)

La morosophie de Guillaume de la Perriere Tolosain contentant cent emblemes moraux, illustrez de cent tetrastiques latins, reduitz en autant de quatrains francoys, Lyon 1553.
> http://gallica.bnf.fr/ark:/12148/bpt6k311208r
> https://archive.org/stream/gri_33125008244523#page/n1/mode/2up

Panofsky (1975, S. 178f.) zitiert einen Dialog in einem Werk von Giordano Bruno (»Eroici Furori« 1585) über die Frage, ob es eine zyklische Abfolge von Phasen in der Geschichte gebe (und somit eine Wiedergeburt des Guten) oder eine lineare Abfolge (vom einst Guten zum immer Übleren), wozu als Argument die dreiköpfige Figur dient.
Maria Moog-Grünewald Giordano Bruno: "Die Heroischen Leidenschaften". Hamburg 2017.

Im ikonograpischen Handbuch von Vincenzo Cartari (ca. 1531 – 1590) wird der Dreikopf Saturn zugeschrieben; hier in einer illustrierten Edition:

Imagine di Saturno, che significa il tempo presente, e passato, & auenire …

Le imagini de gli dei de gli antichi : nelle quali sono descritte la religione de gli antichi li idoli, riti, & ceremonie loro, con l'aggiunta di molte principali imagini che nell'altre mancauano, et con l'espositione in epilogo di ciasceduna & suo significato, Seconda novissima editione delle Imagini de gli dei delli antichi. 1626.
> https://archive.org/details/leimaginideglide00cart/page/28/mode/1up

Literatur hierzu:

Erwin Panofsky, ›Signum triciput‹ in: E.P., Hercules am Scheidewege und andere antike Bildstoffe in der neueren Kunst, Leipzig, Berlin, 1930, S. 1–35.
> https://digi.ub.uni-heidelberg.de/diglit/panofsky1930/0027/image,info

Erwin Panofsky, Tizians Allegorie der Klugheit. Ein Nachwort‹ in: E.P., Sinn und Deutung in der bildenden Kunst. (Meaning in the Visual Arts), Köln: DuMont 1975, S.167–191.

Georg Troescher, Artikel ›Dreikopfgottheit (und Dreigesicht)‹, in: Reallexikon zur Deutschen Kunstgeschichte, Bd. IV (1955), Sp. 501–512
> https://www.rdklabor.de/w/?oldid=106850

Anmerkung: Der dreiköpfige Hermes auf der Buchdruckermarke von Johann Herwagen (seit 1531 und dann von Oporin verwendet) hat eine ganz andere Bedeutung; hier geht es um Wegweiser bei Dreiwegen. Vgl. Anja Wolkenhauer, Zu schwer für Apoll. Die Antike in humanistischen Druckerzeichen des 16. Jahrhunderts. Wiesbaden, Otto Harrassowitz 2002; S. 104f. und 294–302.

Umsetzung in Räumliches

 

Die Zeit ver-geht wie fließendes Wasser

Ovid verfasste eine lange Darstellung der Lehren des Pythagoras, darin (Metamorphosen XV, 176ff.) dieser Passus:

Et quoniam magno feror aequore plenaque ventis
vela dedi: nihil est toto, quod perstet, in orbe.
cuncta fluunt, omnisque vagans formatur imago;
ipsa quoque adsiduo labuntur tempora motu,
non secus ac flumen; neque enim consistere flumen
nec levis hora potest: sed ut unda inpellitur unda
urgeturque prior veniente urgetque priorem,
tempora sic fugiunt pariter pariterque sequuntur
et nova sunt semper; nam quod fuit ante, relictum est,
fitque, quod haud fuerat, momentaque cuncta novantur.

Übersetzung Johann Heinrich Voß 1798:

Weil ich auf offener See nun treib' und die Segel den Winden
Gab zum Blähn: nichts ist von Bestand in der Weite des Weltalls.
Rings ist Fluß, und jedes Gebild ist geschaffen zum Wechsel.
Selber die Zeit auch gleitet dahin in beständigem Gange,
Anders nicht als ein Strom; denn Strom und flüchtige Stunde
Stehen im Lauf nie still. Wie Woge von Woge gedrängt wird,
Immer die kommende schiebt auf die vordere, selber geschoben,
Also fliehen zugleich und folgen sich immer die Zeiten,
Unablässig erneut; was war, das bleibet dahinten;
Was nicht war, das wird, und jede Minute verjüngt sich.


Jean-Jacques Boissard (1528–1602; del.) – Theodor de Bry (1528–1598, sculps.) – Denis de Batilly Lebey (1551–607; Text):

Eunt anni more fluentis aquae

Tam cita vita fluit, cita quam fluviatilis unda
   In Mare deproperans, nec reditura, fugit.
Nascentes rapimur, nec retro flectere cursus,
   Aut spatium emensum vitæ iterare datur.

Dionysii Lebei-Batillii regii mediomatricv praesidis Emblemata, Francofurti ad Moenu: De Bry 1596.
> https://archive.org/details/dionysiilebeibat00lebe/page/n3/mode/2up
> http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:gbv:23-drucke/uk-350

Abgrenzbare Phasen, Stufen

Es ist offensichtlich ein Bedürfnis, das Kontinuum in Phasen zu strukturieren. Einige Beispiele:

Hesiod, »Werke und Tage« Verse 106–201:

Golden war das Geschlecht der redenden Menschen, das erstlich Die unsterblichen Götter, des Himmels Bewohner, erschufen. Jene lebten, als Kronos im Himmel herrschte als König, Und sie lebten dahin wie Götter ohne Betrübnis Fern von Mühen und Leid, und ihnen nahte kein schlimmes Alter, und immer regten sie gleich die Hände und Füße, Freuten sich an Gelagen, und ledig jeglichen Übels, […]

Wieder ein andres Geschlecht, ein weit geringeres, schufen silbern die ewigen Götter, die hoch den Himmel bewohnen, Weder an Wuchs dem goldnen vergleichbar, noch an Gesinnung. […]

Nun ein anderes, drittes Geschlecht der redenden Menschen Schuf Kronion aus Erz, in nichts dem silbernen ähnlich, Eschen-entsprossen und wild und fürchterlich. […]

Jetzt ja ist das Geschlecht ein eisernes; niemals bei Tage Ruhen sie von Mühsal und Leid, nicht einmal die Nächte, O die Verderbten! da senden die Götter drückende Sorgen. Dennoch wird auch diesen zu Bösem Gutes gemischt sein. […]

Deutsche Übersetzung: Thassilo von Scheffer, Leipzig 1938. http://12koerbe.de/pan/erga.htm

Die Vision von Nebukadnezar im Buch Daniel 2,31ff.

31 [Daniel zu Nebukadnezar:] »Du, o König, hattest ein Gesicht und sahst eine Bildsäule; diese Bildsäule war gewaltig groß und von außerordentlichem Glanz; sie stand vor dir, und ihr Aussehen war erschrecklich. 32 Das Haupt dieser Bildsäule war von feinem Gold, ihre Brust und ihre Arme von Silber, ihr Unterleib und ihre Hüften von Kupfer [Vg:. ex ære, aus Bronze] 33 ihre Beine von Eisen, ihre Füße teils von Eisen teils von Töpferton. […]

38 »Du bist das goldene Haupt. 39 Nach dir wird ein anderes Reich erstehen, das nicht so mächtig ist wie das deinige, und dann noch ein anderes drittes Reich von Kupfer, das über die ganze Erde herrschen wird. 40 Darauf wird ein viertes Reich da sein, stark wie Eisen; und wie das Eisen alles zermalmt und zertrümmert, ebenso wird es wie zerschmetterndes Eisen jene alle zermalmen und zertrümmern.

41 Daß du aber die Füße und Zehen teils aus Töpferton, teils aus Eisen bestehend gesehen hast, (dies zeigt an, daß) es ein Reich von ungleicher Beschaffenheit sein wird; […]  44 Aber in den Tagen jener Könige wird der Gott des Himmels ein Reich erstehen lassen, das in Ewigkeit nicht zerstört werden wird und dessen Königtum auf kein anderes Volk übergehen wird.«

Novae Tobiae Stimmeri sacrorum bibliorum figurae, Getruckt zu Straßburg bei Bernhart Jobin 1590.
> https://doi.org/10.3931/e-rara-39597 (Mehr dazu auch hier)

Ovid, Metamorphosen I,89ff. kennt vier Weltalter: Die goldene – die silberne – die bronzene – die eiserne Zeit:

Aurea prima sata est aetas, quae vindice nullo,
sponte sua, sine lege fidem rectumque colebat.
poena metusque aberant, …

≈ Es entstand die erste, goldene Zeit; ohne Rächer, ohne Gesetz; von selbst bewahrte man Treue und Anstand, Strafe und Angst waren fern, …

> https://www.gottwein.de/Lat/ov/met01de.php

Hier die vier Zeitalter als Simultanbild: links vorne die goldene Zeit: Menschen in der heilen Natur — rechts in der Mitte Stiere, die pflügen: die silberne Zeit — im Mittelgrund ein (nicht verbrecherisches) Gefecht mit bronzenen Waffen — im Hintergrund Krieg mit eisernen Waffen.

Die Verwandlungen des Ovidii in zweyhundert und sechs und zwantzig Kupffern. In Verlegung Johann Ulrich Krauß, Kupferstechern in Augspurg [ca. 1690].

Vergil postuliert in der 4.Ekloge die Wiederkehr des Goldenen Zeitalters:

Ultima Cumaei venit iam carminis aetas;
magnus ab integro saeclorum nascitur ordo.
iam redit et Virgo, redeunt Saturnia regna,
iam nova progenies caelo demittitur alto. […]

> http://12koerbe.de/pan/ekloga4.htm

Augustinus »De Civitate Dei« XXII, 30 sieht eine Analogie der Schöpfungstage mit den Weltaltern:

Die Zahl der Weltalter, sozusagen der Welttage, weist deutlich auf die Sabbatruhe hin, wofern man die Weltalter nach den in der Schrift angegebenen Zeitabschnitten berechnet; denn da fällt sie dann auf den siebenten Zeitabschnitt: das erste Weltalter als der erste Tag reicht von Adam bis zur Sündflut, der zweite von da bis Abraham, beide einander gleich an Zahl der Geschlechtsfolgen, deren auf jedes zehn treffen, nicht an Zeitdauer. Darauf folgen nun die drei vom Evangelisten Matthäus begrenzten Weltalter bis zur Ankunft Christi, jedes in vierzehn Generationen sich entwickelnd, nämlich das eine von Abraham bis David, das andere von da bis zur babylonischen Gefangenschaft, das dritte von da bis zur Menschwerdung Christi. Alle zusammen bis daher machen fünf aus. Das sechste Weltalter ist jetzt im Laufe, und es lässt sich nicht nach einer bestimmten Zahl von Geschlechtsfolgen abgrenzen, weil es heisst: »Es steht euch nicht an, die Zeiten zu wissen, die der Vater in eigener Macht festgesetzt hat.« Nach Ablauf auch dieses Weltalters wird Gott als am siebenten Tage ruhen, indem er in sich selbst eben diesen Tag, der wir sind, ruhen lassen wird. Von diesen einzelnen Weltaltern hier ausführlicher zu handeln, würde zu weit führen; …… (Übersetzung in BKV)

In »de vera religione« XXVI, xlviii, 130) verwendet Augustinus die Altersstufen des Menschen als Modell für den Heil(ung)sprozess.

 

Vgl den Artikel von Tanja Gloyna, Weltalter, Zeitalter in: Historisches WB der Philosophie, Band 12 (2004), Sp. 447–453.

 

Stufenalter des Lebens mit Auf und Ab

Der Zeit-Weg in einer zweidimenisonalen Darstellung: Nicht nur in der geraden Linie, sondern auch als Treppe auf und ab... — Der geflügelte Chronos mit Sanduhr und Sense sitzt auf dem Band mit den Tierkreiszeichen vor der untergehenden Sonne...

Quelle > https://de.wikipedia.org/wiki/Lebenstreppe

Ablauf von Phasen

Hans Baldung († 1545), Die sieben Lebensalter des Weibes

Die Zeit lässt sich nicht aufhalten

Morgen leben? Ein Epigramm von Martial (40 – 103/104)

Cras te victurum, cras dicis, Postume, semper.
    dic mihi: cras istud, Postume, quando venit?
quam longe cras istud? ubi est? aut unde petendum?
    numquid apud Parthos Armeniosque latet?
iam cras istud habet Priami vel Nestoris annos.
    cras istud quanti, dic mihi, possit emi?
cras vives? hodie iam vivere, Postume, serum est:
    ille sapit quisquis, Postume, vixit heri.
(5,58)

Morgen wollest du leben, immer sagst du "morgen", Postumus,
Sag mir: Dieses "Morgen", Postumus, wann kommt es?
Wie weit ist dieses "Morgen" entfernt? Wo ist es? Oder wozu suchen?
Verbirgt es sich etwa bei den Parthern und Armeniern?
Schon hat dieses "Morgen" das Alter von Primus oder Nestor. [Beispiele für eine lange Lebenszeit]
Sag mir, um welchen Preis könnte man dieses "Morgen" kaufen?
Wirst du morgen leben? Heute ist es schon zu spät zu leben, Postumus:
Der ist weise, der gestern gelebt hat.

 

Otto van Veen (1556–1629) / Philipp von Zesen (1619–1689):

Volat irrevocabile tempus

Volat irrevocabile tempus ≈ Es fliegt die Zeit, die sich nich zurückrufen lässt (Anlehung an Horaz, Epist. I,18, Vers 71; dort ist es das Wort, das entfliegt)

Der geflügelte Putto trägt eine Sonnenuhr. — Unten wandeln die vier Lebensalter. — Am Boden liegt Ouroboros.

Moralia Horatiana: Das ist Die Horatzische Sitten-Lehre / Aus der Ernst-sittigen Geselschaft der alten Weise-meister gezogen / und mit 113 in kupfer gestochenen Sinn-bildern / und ebenso viel erklärungen und andern anmärkungen vorgestellet: Itzund aber mit neuen reim-bänden gezieret / und in reiner Hochdeutschen sprache zu lichte gebracht durch Filip von Zesen, Amsterdam: Kornelis de Bruyn 1656. Das andere Teil, Nr. 24 — (mit den Kopien der Kupfer der Ausgabe von Hieronymus Verdussen, Antwerpen 1607)
> http://diglib.hab.de/drucke/lo-8306-2/start.htm


Sebstverständlich hat man das gerne mit einer Sanduhr symbolisiert,
hier Gabriel Rollenhagen / Crispin de Passe

I,49: Paulatim non impetu ≈ Allmählich, nicht mit Ungestüm

Allmählich läuft das Sandkörnchen (arenula) hinab, sanft gleitend und nicht mit Ungestüm. — Im Hintergrund verschiedene Szenen menschlichen Lebens: Jagd; lesende Mönche bei einer Kapelle. Auf der geflügelten (!) Sanduhr stehen kleine Personifikationen der Zeit, u.a. Luna, Sensenmann.

II,99: Perit quod elapsum est ≈ Was herabgefallen ist, verschwindet.

Ununterbrochen flieht die Zeit … Sei sparsam mit der Zeit!

Nucleus Emblematum, Arnheim/Utrecht 1611/1613.
unter dem Titel: Sinn-Bilder, hg. Carsten-Peter Warncke (Bibliophile Taschenbücher 378), Dortmund 1983 (mit Übersetzungen und Hinweisen).

http://diglib.hab.de/drucke/21-2-eth-1/start.htm?image=00004
https://archive.org/details/nucleusemblematu00roll

Und ebenso die Sonnenuhr:

Julius Wilhelm Zincgref (1591–1635): Changement perpetuel

Wir vergehen mit der Zeit.

Wir schauen nach dem Zeiger der nach der Sonnen geht/
    Vnd gehen selber mit dahin/ wohin wir müssen
Wol nu demselbem Menschen der sich darauf versteht/
    Vnd der in guter Ruh sein Leben weiß zu schlüssen.

(Auf der gegenüberliegenden Seite sind viele lateinische Texte zitiert.)

Emblematum Ethico-Politicorum Centuria. Editio ultima auctior et emendatior annexo Indice, Heidelbergæ: Ammonius, 1666
> http://diglib.hab.de/drucke/li-10083/start.htm

Freilich hat der HErr damals, als Josua ihn darum bat, die Sonne zu Gibeon still stehen lassen (Josua 10, 12–13).

Und als Hiskia todkrank zum HErrn betete, wurde er erhört und bekam noch 15 Lebensjahre geschenkt. Und als Zeichen, dass das eintreffen werde, lief die Sonne zehn Stufen zurück am Zeiger, über welche sie gelaufen war. (Jesaia 38,8 und 2.Könige 20, 8–11) — (Die Bibelwissenschaftler und Archäologen rätseln darüber, wie diese Sonnenuhr ausgesehen hat. Hier im Bild oben rechts!)

Johannes Saubert, Icones Precantivm, Das ist: Christliche Figuren/ zur Gebetstund angesehen / in welchen die Exempla der rechtschaffnen Beter vnd Bußfertigen Hertzen auß heiliger Schrifft abgemahlt/ vnd zur Erweckung grösserer Andacht vor Augen gestellt werden/ .. Gedruckt zu Nürnberg : Jn Verlegung Wolffgang Endters, Anno Christi M.DC.XXIX.
> https://digital.ub.uni-leipzig.de/object/viewid/0000012897

Mit oder ohne Last besser leben?

• Das Emblem im Buch von Johann Arndt (1555–1621) besagt: Die Last machts leicht.

… Drum hängt der treue Gott die schweresten Gewichte
Meist seinen Kindern an/ und zeugt sie täglich auff:
Sein Absehn ist/ zu fordern ihren Lauff/
und Wandel in dem Lichte …

Johann Arndts … Vier Geistreiche Bücher Vom Wahren Christenthum heilsamer Busse/ hertzliche Reue und Leid über die Sünde/ und wahren Glauben/ auch heiligen Leben und Wandel der rechten wahren Christen, auch wie ein wahrer Christ/ Sünde/ Tod/ Teufel/ Hölle/ Welt/ Creutz und alle Trübsal durch den Glauben ... überwinden soll ... Anietzo auffs neue wiederum auffgeleget/ und dieser letzte Druck ... vermehret und verbessert. Riga: J. G. Wilck 1678. Das Ander Buch; Kap. 47
> https://haab-digital.klassik-stiftung.de/viewer/!image/1701628996/3/

• Im Gedenkbuch für den verstorbenen Sigmund von Birken (1626–1681; Floridan) schreibt Martin Limburger, sein Nachfolger im Pegnesischen Blumenorden, als Motto: Dant dempta quietem ≈ Die abgenommenen [Gewichte, Lasten] erzeugen Ruhe.

Die Betrübte Pegnesis, den Leben- Kunst- und Tugend-Wandel des seelig-edlen Floridans H. Sigm. von Birken durch 24 Sinn-bilder, in Kupfern zur schuldigen Nach-Ehre fürstellend und mit Gespräch- und Reim-Gedichten erklärend …, Nürnberg: Froberg 1684.
> Digitalisat der ÖNB; Reprint: Olms 1993

Der Begleittext (S.296f.) spielt mit den Wörtern

Folgt die schwere Last der Rast:
    Ach! so schlägt die Uhr nicht richtig!

[…]
Folgt hingegen Rast der Last;
    Wol! so schlägt das Uhrwerk wieder
schlecht und recht!

Triumph der Zeit

Francesco Petrarca (1304–1374), »Trionfi«

Wie bei einem Triumphzug im antiken Rom defilieren sechs allegorische Figuren am Autor vorbei: die Liebe (gefolgt von der Schar ihrer Opfer, worunter auch der Dichter selbst und Laura); die Keuschheit (als deren Repräsentantin Laura diese Gefangenen befreit); der Tod (der dann über Laura triumphiert); der Ruhm (viele be-rühmte Persöhnlichkeiten besiegen den Tod); die Zeit (sie zerstört den Ruhm); die Ewigkeit (sie trägt den Sieg zuletzt davon).

Wir konzentrieren uns auf die bildliche Repräsentation der Zeit:

Kupferstich von Georg Pencz (1500–1550):

> https://sammlungonline.mkg-hamburg.de..../Triumph+der+Zeit,......00101656

TEMPUS.EDAX.RERUM.TUQ/.INVIDIOSA.VETUSTAS.
OMNIA.DESTRUITIS.QQC.ERANT.AUT.FVERINT.

Tempus edax rerum, tuque, invidiosa vetustas,
omnia destruitis vitiataque dentibus aevi
paulatim lenta consumitis omnia morte.
(Ovid, Metamorphosen XV, 234ff.)

O du gefräßige Zeit, und du o hass-erregendes Alter! Alles reisst ihr herunter, und wenn euer Zahn es verdorben hat, lasst ihr es allmählich vom langsamen Tode zerstören.

Man beachte die Stunden-Angaben in röm. Ziffern auf dem Rad und den darauf weisenden Handzeiger!

Aus dem Druck mit deutscher Übersetzung in Knittelversen und Kommentar in Prosa sowie sechs Illustrationen:

Sechs Triumph Francisci Petrarche: ... in welcher man fein kurtzweiliger weisz zu grossem lust erspiegeln kan den gemeinen Lauff, Stand, Wesen, vnd Ende des Menschlichen Lebens ... Ausz höchster Italianisch Tuscanischer Sprach ... inn zirliche Teutsche Verss gebracht. Sampt einer ... Auszlegung ... aller fürnemesten sachen ... vormals inn Teutsch nie auszgangen, [übers.] durch Daniel Federmann, Basel: Pietro Perna 1578.

 


Schlechtes Digitalisat; immerhin kann man den Text lesen
> https://books.google.ch/books?id=_navlinks_s

Die Vorlage für den Holzschnitt wird Christoph Murer (1558–1614) zugeschrieben; die Zeichnung befindet sich im Kunstmuseum Basel, Kupferstichkabinett, Birmann-Sammlung 1859 – Inv. Bi.257.23

Murer – der Rückenansichten liebt – lässt den Wagen nicht wie bei den üblichen Triumph-Zügen an uns vorbeiziehen, sondern in den Hintergrund verschwinden. Tempus schaut zurück...

Man fragt sich, weshalb Hirsche den Wagen ziehen. Weil sie alle Jahre die Hörner verlieren? Der Text dazu besagt:

S. 400: Nun ist wohl wahr/ auch mans verstat/ Daß weltlich Ehr vil hörner hat [Kommentar dazu S. 421:] das ist/ sovil grosse spitz der hohen digniteten/ welche lange zeit wehren: dann bey den Alten haben die hörner hohe ding bedeutet/ zu gleicherweiß wie auch dagegen bey jnen das wörtlin Vngehörnet verstanden war/ der von einem hohen grad oder von einem hohen wichtigen thun herab gefallen.

Ein geflügelter Hirsch ist auf Druckermarken (s. unten) wegen seiner Geschwindigkeit Symbol für Tempus:

Avolat aeripes; falx demetit, et cavet anguis. Res age prudenter; fugit et secat omnia tempus.

≈ Der Hirsch [aeripes ≈ der Erzfüßige] fliegt weg; die Sichel schneidet ab; die Schlange liegt auf der Lauer. – Handle klug; die Zeit enteilt und zerschneidet alles.

• Dass die Schlange aufpasst, wen sie erwischt, könnte sich auf Eurydice beziehen, die auf der Flucht eine Schlange im Gras nicht sah und tödlich gebissen wurde (Vergil, Georgica IV,453ff.); vgl. die sprichwörtlich gewordene Warnung Latet anguis in herba (die Schlange lauert im Gras) bei Vergil, Bucolica III,93.

Oder es steht im Hintergrund die Fabel von Phaedrus (IV, 20 = Perry 176):

Serpens Misericordi Nociua

Qui fert malis auxilium, post tempus dolet.
Gelu rigentem quidam colubram sustulit
sinuque fouit, contra se ipse misericors;
namque, ut refecta est, necuit hominem protinus.
Hanc alia cum rogaret causam facinoris,
respondit: "Ne quis discat prodesse improbis."

Der Mensch und die Natter

Wirst du des Bösen Helfer seyn,
So mußt du es noch spät bereu’n
Die Schlange lag vom Froste starr:
Ein Landmann hob sie auf und war
So gütig und erwärmt die Lose
In seinem mitleidsvollen Schooße.
Doch seine Güte war sein Schade.
Sobald sie sich erholet hatte,
Vergiftet sie sogleich den Mann,
Der ihr so gütlich erst gethan.
"Warum Barbarinn, du,
Spiest du dein Gift ihm zu?"
Fragt eine sie.
Doch sagte die:
"Ich that’s dem Menschen nur zur Lehre,
Daß keiner Bösen Hilf gewähre."

(Xaver Weinzierl, Phädrus in deutschen Reimen: Mit Anmerkungen, und einer Vorbereitung zu seiner Lektüre, München: Lentner, 1796)

Pierre Grégoire, Syntagma ivris vniversi atqve legvm pene omnivm gentivm et rervm pvblicarvm praecipvarum ... Francoforti ad Moenvm: impensis Petri Fischeri 1591.
> https://www.digitale-sammlungen.de/de/view/bsb00090010?page=5

Hugues Doneau, Commentarii absolutissimi ad II. III. IV. VI. et VIII. libros codicis Jvstinianei, ... Francofvrti: typis Egenolphi Emmelij: sumptibus haeredum Jacobi Fischeri 1622.
> http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:gbv:3:1-360770

• Zur sich in den Schwanz beissenden Schlange siehe hier!

• Auf gewissen Druckermarken ist Tempus geradezu mit Hirschfüßen versehen und direkt geflügelt; statt der Sichel hält er eine Sense. Die Frisur ist die der Occasio: Am Hinterkopf ist sie kahl, das heisst: Wenn sie entflieht, kann man sie nicht mehr packen.

Hanc aciem sola retundit virtus ≈ Diese Schärfe [der Sense] macht nur die Tugend stumpf.

Étienne de La Rivière, La dissection des parties du corps humain divisée en trois livres, Verleger: Simon de Colines 1546.

> https://gallica.bnf.fr/ark:/12148/bpt6k1311807

ebenso: Laurentii Vallæ elegantiarum libri sex, 1527
> http://www.bvh.univ-tours.fr/batyr/beta/notice_bois.php?IdBois=27646

 

In der Serie der Vier Lebensalter wird der Wagen des Alters von Stieren gezogen:

Ambrosius Francken / Hieronymus Wierix (sc.) (vor 1619)

Tempus und Mors mit den üblichen Attributen; auf dem Wagen die Drei Parzen an der Arbeit und zuhinterst Fama.
Sic Mors cuncta vorat … sic Tempus edax

Groß hier > https://www.britishmuseum.org/collection/object/P_1983-U-266

 

Literaturhinweise:

Paul Tanner, Daniel Lindtmayer und Christoph Murer - zwei Künstler im Einflussbereich von Tobias Stimmer, in: Zeitschrift für schweizerische Archäologie und Kunstgeschichte 42/2 (1985), S. 124–128.

Paul Tanner, Christoph Murers Entwürfe zu Holzschnitten in einer 1578 in Basel erschienenen Ausgabe der Trionfi von Petrarca, in: Unsere Kunstdenkmäler 41/2 (1990), S. 233–241 http://doi.org/10.5169/seals-650282

Alexandra Ortner, Petrarcas "Trionfi" in Malerei, Dichtung und Festkultur. Untersuchung zur Entstehung und Verbreitung eines florentinischen Bildmotivs auf "cassoni" und "deschi da parto" des 15. Jahrhunderts, Weimar: VDG Verlag und Datenbank für Geisteswissenschaften 1998.

Gavin Alexander, Countess of Pembroke's translation of Petrarch's Trionfo della Morte https://www.english.cam.ac.uk/ceres/sidneiana/triumph2.htm

Eile mit Weile

Anker und Delphin

Erasmus (ca. 1469–1536) hat 1508 in seinen »Adagia« (1001 ≈ II,i,1) ein längeres Kapitel zum Thema Festina lente (≈ Eile mit Weile). Besonnenheit beim Handeln empfiehlt er insbesondere Fürsten. Das Bonmot sei bei den römischen Kaisern hoch im Kurs gestanden, was er mit Zitaten belegt (u.a. Sueton, Vita Augusti XXV,4).

Dann berichtete er, dass der Drucker Aldus Mantius (1449–1515) eine antike Münze geschenkt bekam: Auf der einen Seite zeigte sie das Antlitz von Vespasian mit einer Umschrift; auf der anderen einen Anker, dessen mittleren Teil ein Delphin umschlingt. Der Anker bedeutet die Kraft, mit der der Kurs des Schiffs kontrolliert wird; der Delphin bedeutet die Antriebskraft und Schnelligkeit dieses ›Fischs‹ (u.a. basierend u.a. auf Plinius, Naturalis historia IX,20).

Igitur violentos illos animi motus, delphinum recte dixeris, ancoram moderatricem sapientiam. ≈ So könnte man also mit Recht im Bild des Delphins jene heftigen Regungen des Geistes sehen, im Anker die mäßigende Kraft der Weisheit.

A.Manutius hat dieses Symbol 1502 zu seinem Druckerzeichen gemacht:

> https://www.inkunabel.de/Aldus-Manutius-in-Venedig

Der Text von Erasmus im Original (griech/lat.)

> https://philological.cal.bham.ac.uk/speude/trans.html
> http://ihrim.huma-num.fr/nmh/Erasmus/Proverbia/Adagium_1001.html

Übersetzungen:

Erasmus von Rotterdam: Adagia, Lateinisch/Deutsch, Ausw., Übers. und Anm. von Anton J. Gail, Stuttgart 1983 (RUB 7918)

Desiderius Erasmus von Rotterdam, Adagia = Sprichwörter; Lateinisch - Deutsch, übers. von Claude-Eric Descœudres, Basel: Schwabe Verlag 2012.

Ausführliche Darstellung: Anja Wolkenhauer, Zu schwer für Apoll. Die Antike in humanistischen Druckerzeichen des 16. Jahrhunderts. Wiesbaden, Otto Harrassowitz 2002, S. 165–185.


Die Technik der Uhr allegorisch ausgelegt

Florens Schoonhoven (1594–1648) / Crispijn van de Passe (illustr.):

Der Mann bewundert die ingeniöse Erfindung: Der kreisförmige Schwung der Unruh (engl. balance wheel) wechselt periodisch die Richtung, sie oszilliert; ebenso bewegt sich das Pendel einer Uhr vor und zurück. – Allegorische Deutung: Das Umlenken in die Gegenrichtung entspricht dem Handeln von Jung und Alt.

Emblemata Florentii Schoonhovii I.C. Goudani, partim moralia, partim etiam civilia. Cum latiori eorundem ejusdem auctoris interpretatione. Accedunt et alia quaedam poëmatia in alijs poëmatum suorum libris non contenta, Goudae, Apud Andream Burier 1618.
> https://www.dbnl.org/tekst/scho188embl01_01/scho188embl01_01_0010.php
> https://archive.org/details/goudanipartimmor00scho/page/n3/mode/2up

Sat citò, si sat benè.

Vt orbium diversus in contraria
Nisus, coërcet fervidum motum rotae,
Sic & senectae providens cunctatio
Calidos juventae frenat ausus, & regit.
Idcircò Princeps eligat sibi senes
Ad consulendum, Iuniores comparet
Ad exequendum jussa prudentum Senum.

Geschwind genug, wenn gut genug

Wie der Schwung der Kreisbahn*, umgelenkt in die Gegenrichtung*,
den hitzigen Lauf des Rades hemmt,
so bremst auch das vorsichtige Zögern des Alters
die heissen Wagestücke der Jugend und lenkt sie.
Darum soll sich der Fürst alte Leute auslesen
zur Beratung, und Jüngere soll er beiziehen
zur Ausführung der Beschlüsse der weisen Alten.

Anmerkungen:
* im lat. Text im Plural. – Im Motto stehen zwei Adverbien, die mit dem Akzent ` vom Adjektiv unterschieden werden. – Die Abschreiber haben den Text von Schoonhoven mit falscher Interpunktion kurzatmig gemacht, was hier korrigiert ist. Die Majuskel im letzten Senar gehörte zu Senum, wenn Iuniores aufgenommen werden sollte.
(Besten Dank für die technologische Erklärung, die Übersetzung und den Kommentar von Thomas Gehring)

Anders deutete die Unruh Angelus Silesius, Cherubinischer Wandersmann (1675) I,189:

Der Mensch der macht die Zeit

Du selber machst die Zeit: das Uhrwerk sind die sinnen;
Hemst du die Unruh nur / so ist die Zeit von hinnen.

Die astronomische Uhr in Straßburg 1574

Conrad Dasypodius (1531–1602; Konstrukteur)
Johann Fischart (* 1545/46/48? † 1591; Text)
Tobias Stimmer (1539–1584; Bilder)

Eigentliche Fürbildung vnd Beschreibung deß newen Künstlichen Astronomischen Urwercks zu Straßburg im Mönster
> https://www.metmuseum.org/art/collection/search/384927
> https://www.britishmuseum.org/collection/object/P_1876-0812-90

Der Gwicht Kast auch gemahlet ist/
Auff einer seyten zu gerüst/
Mit dreyen Weibern welche spinnen/
An einer Kunckel ohn zerrinnen ...

Christian Kiening, Julia Frick, Oliver Grütter (Hg.): ZeitWerk. Die astronomische Uhr in Strassburg (1574). Texte aus der Entstehungszeit. (Medienwandel – Medienwechsel – Medienwissen, Band 47), Zürich: Chronos-Verlag Zürich, erscheint im Dezember 2024
> https://www.chronos-verlag.ch/node/28767

Die Zeit entdeckt die Wahrheit

Dass die Zeit alles aufdeckt, entnimmt Aulus Gellius (»Attische Nächte« XII,xi,6) einem Vers von Sophokles; und ein anderer alter Dichter, an dessen Namen er sich nicht mehr erinnert [!], habe gesagt, dass die Wahrheit eine Tochter der Zeit sei: Veritas Temporis filia.

Erasmus, »Adagia«, II,iv,17 (≈ 1317): Tempus omnia revelat. (Die dritte Auflage der Adagia erschien bei Froben in Basel 1513). Erasmus seinerseits zitiert Aulus Gellius.
> https://grac.univ-lyon2.fr/les-adages-d-erasme-682790.kjsp

 

Bereits auf der Buchdruckermarke von Francesco Marcolini 1556 erscheint eine graphische Gesaltung: Veritas Filia Temporis: Die (nackte) Wahrheit ist eine Tochter der Zeit:

Le imagini con la spositione de i dei de gliantichi. Raccolte per Vincenzi Cartari, In Venetia per Francesco Marcolini MD LVI. (1556)
> https://hdl.handle.net/2027/dul1.ark:/13960/t9h432g9w

Pieter de Vos [inv.] / Jan Collaert I [sc.] ca. 1560/1580

Invidia (invidia sollte man mit "Verdächtigung, Anschuldigung" übersetzen, das genaue Gegenteil zur Wahrheit wäre ja die Lüge) versucht die Befreiung der Wahrheit zu verhindern.
> https://www.britishmuseum.org/collection/object/P_1901-0611-88

Das Titelblatt von Christian Wurstisens Chroncik zeigt unten ebenfalls diese Szene:

Links in der Randleiste eine weibliche Personifikation der Zeit mit Sanduhr, Sense und Ouroboros;

Rechts: Prudentia (mit Spiegel und Schlange), die das Buch der HISTORIA hält.

Beim den Faden abschneidenden bärtigen Mann oben könnte es sich um ein Missverständnis handeln: der Name Atropos (die Parze, die den Faden abschneidet) wurde als grammat. Maskulinum verstanden....

Bassler Chronick/ darinn alles, was sich in oberen Teutschen Landen, nicht nur in der Statt und Bistumbe Basel, von ihrem Ursprung her ... zugetragen ... Gedruckt zu Basel bey Sebastian Henricpetri 1580.
> http://daten.digitale-sammlungen.de/bsb00089269/image_5

(Danke, Regula Sch. K. für den Hinweis!)

Jan van der Straet (inv.); Jan Collaert II (sc.) vor 1612:

Veritas temporis filia

Quæ dudum latuit tenebris immersa profundis,
    Puteoque sese altissimo occultaverat,

Quamvis Invidia obnitente in luminis auras 

    Prognata tempore nuda prodit VERITAS.

Die Wahrheit bringt die Tochter Wahrheit ans Licht; dem versucht sich die hier als widerliches Kompositwesen dargestellte Invidia zu widersetzen.

> https://www.britishmuseum.org/collection/object/P_1957-0413-258

Conrad Meyer (Zürich 1618–1689) fertigte eine gewaltige Radierung mit diesem Thema. Die Wahrheit wird ebenfalls auf beiden Seiten angefeindet von lasterhaften Scheusalen. Hier ein Ausschnitt:

Das ganze Bild Gebrauch der Zeit zur Ewigkeit hier
> http://diglib.hab.de?grafik=graph-c-647-2

Nicolas Poussin (1594-1665) «Le Temps soustrait la Vérité aux atteintes de l'Envie et de la Discorde» (1641)
> https://collections.louvre.fr/en/ark:/53355/cl010062522

François Lemoyne (1688–1737) malt das Bild »Le Temps sauvant la Vérité du Mensonge«

:

> https://commons.wikimedia.org/wiki/File:_Time_Saving_Truth.jpg


Es gilt auch: Le Tems decouvre les Talents

Pierre Soubeyran (1709–1775) nach Charles-Nicolas Cochin (1715–1790), Radierung; à Paris chez Basan 1745 oder 1749.

> https://philamuseum.org/collection/object/188777

hier aus: F. Basan, Dictionnaire des Graveurs 1789, Bd. 2, zu S. 181.

Gefunden durch einen Hinweis in: Andreas Moser, Vom «Scheiszuber» zum Vaterlandsaltar. Fragmente aus der Geschichte einer Zürcher Titelvignette um 1770.
> https://www.bibliophilen-gesellschaft.ch/aktuell/buch-des-monats/ – März 2024

 

(Noch) unklar ist der Sinn dieses Emblems:

Veritas bajulatorem suum jugulat (baiulator ≈ Lastträger; iugulo ≈ erwürgen; die Kehle abschneiden): Die Wahrheit bringt den, der sie trägt, ums Leben.

Die waarheid zeyt magh niewers banken. ≈ Wer Wahrheit sagt, darf sich nirgends aufhalten (Dank an Harry J. für die Übersetzung!)

Hendrik Lauenszoon Spieghel (1549–1612), Hertspieghel en andere zede-schriften, Amsterdam: Wetstein 1694. Darin: BEELD-SCHRIFT / Hieroglifica
> https://archive.org/details/hertspieghelenan42spie/page/n151/mode/2up
> https://www.digitale-sammlungen.de/de/view/bsb10038024?page=156,157


Literaturhinweis:

Fritz Saxl, „Veritas Filia Temporis“, in „Philosophy and History“, Essays presented to Ernst Cassirer, Oxford 1936, S. 197–222.

Ouroboros

Die sich in den Schwanz beissende Schlange von Tempus ist ein Ouroboros (Οὐροβόρος wörtlich ›Schwanzverzehrender‹) und bedeutet die Ewigkeit:

 

ETERNITA.

Cesare Ripa, Iconologia Overo Descrittione Di Diverse Imagini cavate dall'antichità, & di propria inuentione, Roma 1603.
> http://digi.ub.uni-heidelberg.de/diglit/ripa1603

 

Æternitas
Circulus æternam me, præteriti atque futuri
   Me gnaram bifrons esse docet facies.

Prosopographia, sive, Virtutum, animi, corporis, bonorum externorvm, vitiorum, et affectuum variorum delineatio, imiaginis accurate expressa a Philippo Gallaeo ... Distichis a Cornelio Kiliano Dufflaeo illustrata [ohne Angabe des Druckers und des Jahres; Philippe Galle † 1612; Cornelis Kiel †1607]
> https://archive.org/details/prosopographiasi00gall/page/n3/mode/2up

Amor Æternus

Otto von Veen (1556–1629)

• Zuerst die profane Variante:

Amorum emblemata, figuris aeneis incisa. studio Othonis Væni, … Emblemes of Loue, with verses in Latin, English, and Italian, Antwerpiæ [Verdussen] 1608.

Nulla dies, tempusve potest dissolvere amorem,
   Neve est, perpetuus sit nisi, verus Amor,
Annulus hoc anguisque tibi curvatus in orbem,
   Temporis æterni signa vetusta, notant.

In der Übersetzung der Ausgabe Avgvstae Vindelicorvm 1622:

Kein Tag noch Zeit die Lieb zertrennt/
Wo d’Lieb nicht ist/ vergeht sie bhendt.
Der Ring das anzeigt/ vnd die Schlang
Welche wol manchem machet bang.
[ ! ]
Glaub/ Hoffnung wehrt nur in der Welt/
Die Lieb behält ewig das Feldt.


• Jetzt die himmlische Liebe, zwischen einem nimbierten Engel und der Figur der Anima, (rechts):

Amoris divini emblemata, studio et ære Othonis Væni concinnata, Antverpiæ, ex officin Plantiniana 1660 (Die erste Ausgabe erschien 1615.)

> https://archive.org/details/amorisdiviniembl00veen/page/n6/mode/2up
> http://diglib.hab.de/drucke/97-10-theol/start.htm


Sie verzehrt alles

Joannes de Boria, Moralische Sinn-Bilder. Von Jhme vor diesem in Spanisch geschrieben/ nachmahls in Lateinisch/ nunmehro aber wegen seiner Vortrefflichkeit in die Hoch-Teutsche Sprache übersetzet/ von Georg Friedrich Scharffen / Joannes de Boria. Berlin: Rüdiger 1698. http://diglib.hab.de/drucke/xb-2/start.htm

Emblem XXIX

Zu lehren/ weil doch auch die glücklichsten Sachen/ ja endlich aller Glantz dieser Welt/ durch die Länge der Zeit zu nicht werden und vergehen müsten/ so sey allles andere vor gering zuhalten/ und bloß allein dieses/ was Ewig/ als an welchem die Zeit/ jhre Kräfte und Gewalt einbüsset hochzuhalten.

Wo sind der Erden Last/ die großen Reiche blieben?
Man sieht in Babel Grauß/ auf Troja Asche stieben;
Was jemahls in der Welt war groß/ starck und geehrt/
Das hat der Zeiten Zahn zerknirscht/ zermalmt/ verzehrt.

Zyklische Geschichtsvorstellung

Die Abfolge der Zeitalter – wobei die Geschlechter allmählich verkommen – ist bekannt aus Hesiod, »Werke und Tage« (109ff.) und Ovid, Metamorphosen (I, 89ff.): Aurea prima aetas – das silberne – das bronzene – das eiserne Weltalter. Nebukadnezar hat eine ähnliche Vorstellung (Daniel 2,31ff.).

Vergil prophezeit (ca. im Jahr 40 v.u.Z.) ein neues Goldenes Zeitalter des Friedens.

Ekloge IV der »Bucolica«, Verse 4ff.:

Ultima Cumaei (a) venit iam carminis aetas;
magnus ab integro saeclorum nascitur ordo.
iam redit et Virgo
(b), redeunt Saturnia regna, (c)
iam nova progenies caelo demittitur alto.
tu modo nascenti puero
(d), quo ferrea primum
desinet ac toto surget gens aurea mundo,
casta fave Lucina
(e); tuus iam regnat Apollo (f).

≈ Schon kam das letzte Zeitalter nach der Prophezeiung der Sibylle von Cumae (a),
und die große Abfolge der Jahrhunderte beginnt von Neuem.
Schon kehrt auch die Jungfrau Astraea (b) zurück,
es kehrt zurück die Herrschaft des Saturns (c),
schon wird neue Nachkommenschaft (d) vom hohen Himmel gesandt.
Lucina (e), du Reine, sei dem Knaben hold, der soeben geboren wird und mit dem das eiserne Zeitalter aufhören wird
und ringsum ein goldenes wieder aufsteigt;
schon herrscht dein Apollo (f).

(a) Die Sibylle von Cumae (das Wort sibylla bedeutet: die Weissagende; vgl. Vergil, Aeneis, 6.Buch).

(b) Mit der virgo ist gemeint: Astraea. Während des Goldenen Zeitalters lebte diese sternhelle Göttin der Gerechtigkeit unter den Menschen; dann, im degenerierten Zeitalter, zog sie sich zurück und wurde ein Gestirn (Ovid Met I, 148f.)

(c) Saturn, entspr. griech Kronos; saturnia regna ≈ das goldene Zeitalter, in dem Saturn regierte. Saturn wurde von Jupiter entmachtet, weil ihm die unter seiner Herrschaft obwaltende Untätigkeit der menschen missfiel und er die Menschen durch Mühsal erfinderisch machen wollte.

(d) Wer mit dem puer (Kind, insbes. Knabe) gemeint ist, ist Gegenstand unendlicher Diskussionen. Wenn man die 4.Ekloge als Vorwegnahme des Christentums auffasst, ist natürlich Christus gemeint.

(e) Lucina, die Lebensfördernde (weil sie die Kinder ans Licht lux bringt), ist ein Beiname sowohl von Juno; die Gebärenden riefen sie mit diesem Beinamen um Hilfe an.

(f) dein Apollo – gemeint ist möglicherweise Kaiser Augustus, der Apollo zu seinem persönlichen Schutzgott erklärt hatte; fraglich ist, ob er sich damals schon als Gottheit inszenierte.

Visualisierungen:

Kupfer von Francis Cleyn (ca. 1582 – 1658) in: John Ogilby (1600–1676), The Works of Publius Virgilius Maro: Translated, Adorn’d with Sculpture, and illustrated with Annotations, London: Thomas Warren 1654.

Unter dem Bild: Beginn der 4.Ekloge: Sicelides Musae, paulo maiora canamus. non omnis [in der Bildunterschrift omnes] arbusta iuvant humilesque myricae; …

Die Männer im Bild sind wohl: rechts der mit dem Stab auf die Tiere zeigende Vergil; links der in der Ekloge angesprochene (Konsul und Schriftsteller) G. Asinius Pollio.

Die Tiere am Rand beziehen sich auf die Stelle im Text (Verse 21ff.): … nec magnos metuent armenta leones […] occidet et serpens et fallax herba veneni occidet ≈ die Rinder fürchten sich nicht vor den mächtigen Löwen, … die Schlange stirbt aus; das trügerische Giftkraut wird untergehen. (Verse 21ff.)

(Vgl. Tierfriede in der messianischen Zeit Jesaias 11,6ff.: Dann wohnt der Wolf beim Lamm, der Panther liegt beim Böcklein. Kalb und Löwe weiden zusammen, ein kleiner Knabe kann sie hüten.)

Hier ist der puer das Christkind! (Lucina verweist darauf.)

Raimondo Faucci (1770–1790) nach Baldassare Tommaso Peruzzi (1481–1536); Datierung 1770/1790
> https://sammlungenonline.albertina.at........

Zu dieser Textstelle bei Vergil gibt es unendliche Kommentarliteratur; vgl. nur schon die Randglossen in Sebastian Brants Vergilausgabe 1502:

Die Gelegenheit am Schopf packen!

Die Vorstellung hat eine sehr lange Tradition.

Vorbemerkung zum Bild: Worauf steht Occasio? Bei Alciato heisst es: pinnis ≈ auf den Zehenspitzen; in anderen Texten/Illustrationen steht sie auf einem Schermesser oder einem Rad oder einer Kugel.

Phädrus (wer immer unter diesem Namen schreibt) kennt die antike Statue des Kairos von Lysippos und beschreibt sie in einem Gedicht (Ekphrasis):

Cursu volucri, pendens in novacula,
calvus, comosa fronte, nudo corpore,
quem si occuparis, teneas, elapsum semel
non ipse possit Iuppiter reprehendere,
occasionem rerum significat brevem.
     Effectus impediret ne segnis mora,
finxere antiqui talem effigiem Temporis.

Als eine schnellen Flugs auf einem Schermesser
Sich wiegende Gestalt, belockt die Stirn, sonst kahl –
Ergreifst du sie, so halt sie fest; einmal entschwunden,
Vermag selbst Jupiter sie nicht zurückzuholen –
Gibt dir die Zeit Gelegenheit zum schnellen Handeln.
     Dass unbenutzte Zeit nicht die Erfolge hindere,
Hat sich das Altertum die Zeit so dargestellt.
(Die Übersetzung soll von G.E. Lessing stammen.)

Disticha Catonis II,26 (spätantik)

Rem, tibi quam scieris [Lesart: noscis] aptam, dimittere noli;
Fronte capillata, post haec occasio calva.

Lass eine Gelegenheit, die du als tauglich erkennst, nicht entschwinden!
Occasio hat nur an der Stirn Haare, hinten ist sie kahl.

Im Emblembuch von Andrea Alciato (1492–1550) ist bereits in der ersten Ausgabe (1531) OCCASIO dargestellt. — Er hat den entsprechenden griech. Text aus der »Anthologia graeca« (16,275) ins Lat. übersetzt. Und er kannte möglicherweise Erasmus, »Adagia« 670 = I, VII, 70: Nosce tempus.

LIBER EMBLEMATVM D.ANDREAE ALCIATI, NVNC DENVO COLLATIS EXEMPLARIBVS multo castigatior quàm vnquam antehac editus. Kunstbuch Andree Alciati von Meyland/ allen liebhabern der freyen Künst/ auch Malern/ Goldschmiden/ Seidensrtockern vnd Bildwauwern/ jetzund zu sonderm nutz vnd gebrauch verteutscht vnd an tag geben durch Jeremiam Held von Noerdlingen/ mit schoenen/ lieblichen/ neuwen/ kunstreichen Figuren geziert vnd gebessert. Gedruckt zu Franckfurt am Mayn bey Georg Raben/ in verlegung Sigmund Feyrabends vnd Simon Huters. M.D.LXVII.
> https://digi.landesbibliothek.at/viewer/image/AC05699046/417/

Hier deutsche Übersetzung von Jeremias Held 1567:

Das CLXXXVII   In occasionem ≈ Die Gelegenheit.

Diß Bild hat der Meister erdacht
Iysipp von Sycion und gmacht
Wer bistu aber mir das sag?
Die Gelegenheit der zeit on zag.
Warumb stehst auffs Rads Felgen rund?
Weil ich alles verker zur stund.
Was thun dFlügel an Füssen dein?
Dmit ich belder von hin köndt seyn.
Warumb helst in der rechten Hand
Ein scharpffen Scharsach one band?
Damit gib ich zuverstehn ja
Das ich scherpffer sey dann diß da.

Cur in fronte coma? occurrens ut prendar: at heus tu
Dic cur pars calva est posterior capitis?

Was thust an der Stirn mit dem Har?
Das man mich kommend greiffe zwar.
Warumb ist aber hinden sGnick
So kal? Und hast kein Haar zu rück?
So einer mich last also schnell
Wegfahren, und ficht nicht auff hell
Derselbs kan nachmal mich nit mehr Greiffen
und zu rück ziehen her.
Also hat der Meister kunstrich
Gemacht und außgestrichen mich
Damit ich jederman verman
So thu ich auff den Felgen stan.

> https://www.emblems.arts.gla.ac.uk/alciato/emblem.php?id=A42b016

Otto van Veen (1556–1629) / Philipp von Zesen (1619–1689):

Alles hat seine zeit. — Minerva unterrichtet das Kind, wie es mit Occasio umgehen soll.

Amant alterna Camœnae ≈ Es lieben die Musen den Wechsel (Vergil, Bucolica, Exl. II,59)

Hier aus dem Druck Moralia Horatiana: Das ist Die Horatzische Sitten-Lehre/ Aus der Ernst-sittigen Geselschaft der alten Weise-meister gezogen/ und mit 113 in kupfer gestochenen Sinn-bildern/ und ebenso viel erklärungen und andern anmärkungen vorsgestellet: Itzund aber mit neuen reim-bänden gezieret/ und in reiner Hochdeutschen sprache zu lichte gebracht durch Filip von Zesen, Amsterdam: Kornelis de Bruyn 1656. Das andere Teil; Nr. 18 (Kopie der ursprl. Aisgabe von 1607)
> https://archive.org/stream/moraliahoratiana00hora


Giorgio Vasari (1511–1574) zeigt 1548 den Triumph der Tugend, welche Occasio am Schopf packt und ein Laster (wohl Invidia) zum Absturz bringt.

(Arezzo Casa Vasari, Sala del Camino)
> https://www.wga.hu/frames-e.html?/html/v/vasari/2/01arezz4.html

 

Auf diesem Emblem von Theodor Galle (1571–1633) wird gezeigt, wie die Zeit (A: geflügelt, mit Sanduhr und Sense) sich auf dem Weg zu anderen Ländern emporschwingt. Es gilt, Occasio (D: Occasionem fronte capillatam) zu erhaschen:

Typus occasionis in quo receptae commoda, neglectae verò incommoda, personato schemate proponuntur Antuerpiae : Delineabat et incidebat Theodorus Gallaeus 1603.

> https://archive.org/details/typusoccasionisi00gall/page/n7/mode/2up
>
https://babel.hathitrust.org/cgi/pt?id=uiuo.ark:/13960/t4xh05t08&seq=25

Literatur hierzu:

Rudolf Wittkower, Chance, Time and Virtue, in: Journal of the Warburg Institute, Vol. 1, No. 4 (April 1938), pp. 313–321.

Burkhardt Krause, „Ein rasend-freches Weib“ Geschichten von der Göttin mit dem Rad (2008)
> https://books.openedition.org/ksp/3149

Sibylle Appuhn-Radtke, Artikel "Occasio", in: Reallexikon für Deutsche Kunstgeschichte (2014) > https://www.rdklabor.de/w/?oldid=105754

Occasiso = tempus actionis opportunum

Über den günstigen Zeitpunkt zum Handeln spricht Cicero in »de officiis« (I,xl,142): Man muss die Gunst der Zeitverhältnisse abschätzen.

In der Übersetzung des Cicero-Texts steht ein Bild des Petrarkameisters: Ein Mann, der sinnierend am Tisch sitzt und seine Uhren betrachtet: eine Sanduhr auf dem Tisch, zwei Uhren an der Wand; auf einer der beiden sind nebst den Stunden-Zahlen auch die Tierkreise eingezeichnet:

Officia M. T. C. Ein Buoch So Marcus Tullius Cicero der Römer zuo seynem Sune Marco. Von den tugentsamen ämptern vnd zuogehörungen eynes wol vnd rechtlebenden Menschen in Latein geschriben, Welchs auff begere Herren Johansen von Schwartzenbergs etc. verteütschet/ Vnd volgens Durch jne in zyerlicher Hochteütsch gebracht. Mit vil Figuren vnnd Teütschen Reymen gemeynem nutz zuo guot in Druck gegeben worden, Augspurg: Steyner, MD.XXXI. Fol. XXXIVr

Derselbe Holzschnitt wird vom Verleger verwendet für Petrarcas Buch »de remediis utriusque fortunae«, 2. Teil, Kapitel 15: Von verlierung der zeit:

Von der Artzney bayder Glück, des guten und widerwertigen. Unnd wess sich ain yeder inn Gelück und unglück halten sol. Auss dem Lateinischen in das Teutsch gezogen. Mit künstlichen fyguren durchaus, gantz lustig und schön gezyeret, Augsburg: Steyner 1532,

wozu die Ausgabe 1539 die (etwas banalen) Verse setzt:

Zeit ist ein gut ab allen dingen/
   Die zeit kan niemandt wider bringen.
uff zeit merckt wol ein weiser Man/
   Wol dem der zeit wol brauchen kan.

Die Geschichte arbeitet gegen die Zeit


HISTORIA schreibt das Geschene in ein Buch auf dem Rücken der Zeit.

Die Geschicht. – Die Zeit geflügelt dargestellt mit einer Sichel, der unsteten Kugel der Fortuna und der Ouroboros-Schlange und als etwas verschlingend (nach tempus edax oder vorax; Ovid, Epist. ex Ponto IV, x ,7). – (Die Texte zum Bild beziehen sich sehr seltsam auf Lukas 24,13ff., wo von Geschichten die Rede ist.)

Zeichnung von Gottfried Eichler d.J. (1715–1770) und Kupfer von Joseph Wag[n]ner (1706–1780) in: Des berühmten Italiänischen Ritters, Cæsaris Ripæ, allerleÿ Künsten, und Wissenschafften, dienlicher Sinnbildern, und Gedancken, Welchen jedesmahlen eine hierzu taugliche Historia oder Gleichnis beÿgefüget. dermahliger Autor, und Verleger, Joh. Georg Hertel, in Augspurg [ca. 1760].

Die Zeit zerstört (oder verbessert) Kunstwerke

Das Titelblatt zur Folge von hundert Kupferstichen nach Vorlage der berühmtesten antiken römischen Bildwerke von François Perrier (1590–1650) zeigt Chronos an der Arbeit:

Ill.mo D.D. Rogerio Duplesseis domino de Liancourt, marchioni de Montfort ... Segmenta nobilium signorum et statuarū, quae temporis dentem invidium evasere Vrbis aeternae ruinis erepta typis aeneis abce commissa, perpetuae venerationis monumentum Franciscus Perrier, D. D. D. 1638, Romae: Iacobi de Rubeis Formis Romae ad Templum S.M. de Pace [1638]
> https://gallica.bnf.fr/ark:/12148/btv1b86184080/f13.item

Gérard de Lairesse (1640–1711)

Signorum Veterum Icones Per D. Gerardum Reynst Urbis Amstelædami Senatorem ac Scabinum dum viveret Dignissimum Collectæ. Afbeeldingen Der Oude Beelden Bij een vergadert door De Heer Gerhard Reijnst in syn Leven Hoogwaardig Raad en Schepen der Stadt Amsteldam 1670.

> https://gdz.sub.uni-goettingen.de/id/PPN661108252
> https://www.britishmuseum.org/collection/object/P_1872-1012-5432

Frontispiz mit dem Buch-Titel auf einem Vorhang oben — mit einer Personifikation von Tempus in der Mitte und mit einer Sense in der Hand — einer Frau mit einem Spiegel in der Hand (typisches Attribut der Prudentia), welche die Zeit daran hindert, eine Statue mit seinem Werkzeug zu zerstören — Statuen und Büsten im Hintergrund, eine zerbrochene Statue und einige Säulenfragmente auf dem Boden im Vordergrund.

Parodie: Die Betrachtenden wollen alte Kunstwerke erhalten: Passéismus!

William Hogarth (1697–1764)

Das Bild »Time Smoking a Picture« etwa: Die Zeit schwärzt ein Gemälde (1761)
> https://www.metmuseum.org/art/collection/search/366151

Hogarth wendet sich (ca. 1761) gegen Kunstliebhaber, die Gemälde alter Meister im Gegensatz zu modernen Werken schätzen.

Chronos ist wie unzählige Male dargestellt mit einer Sense, geflügelt; hier zusätzlich noch mit der Frisur der Occasio: vorne eine Locke, am Hinterkopf kahl = packe die Gelegenheit, bevor sie sich umdreht und entschwindet.

Chronos raucht Pfeife und beim Ausblasen des Rauchs schwärzt er das Bild, um ihm einen höheren Wert zu geben; mit der Sense reisst er zudem ein Loch hinein; unten links eine Dose mit Altertümlichkeit verleihendem Firnis (Varnish).

Der griechische Text am oberen Bildrand beruht auf einem Text des kynischen Philosophen Krates (ca. 365 bis ca. 285) – nicht des Komödiendichters Krates. (In der Ausgabe von Hermann Diels, Poetarum philosophorum fragmenta: Nummer 366).

Bei Hogarth steht: Χρόνος γαρ ου τέκτων σοφός Ἁπαντα δ’εργαζόμενος ασθενέστερα

(Chronos, die Zeit, wird als Mann personifiziert — tektōn ist der gängige Ausdruck für Kunsthandwerker — sophós bedeutet: geschickt, klug, ingeniös, skilled in any handicraft or art — Der Text ist abgeändert: statt des Artikels o steht hier die Negation ou)

Übersetzung des Texts bei Hogarth (≠ Krates!): Chronos (ist) freilich kein geschickter Kunsthandwerker; alles (wird) schwächer, wenn er arbeitet.

Auf dem Bild steht noch die Angabe: Spectator, Vol. II, Page 83 (= Nr. 83 vom 5. Juni 1711) Hier beschreibt Joseph Addison (1672–1719) einen Traum: In einer Bildergalerie geht ein Mann auf und ab und verschönert Bilder – es stellt sich heraus: es ist Father Time:

He also added such a beautiful Brown to the Shades, and Mellowness to the Colours, that he made every Picture appear more perfect than when it came fresh from the Master's Pencil. I could not forbear looking upon the Face of this ancient Workman, and immediately, by the long Lock of Hair upon his Forehead, discovered him to be TIME.
> https://gutenberg.org/cache/epub/12030/pg12030.txt (Suche: Mellwoness)

Unten: As Statues moulder into Worth. P.W. (Paul Whitehead 1710–1774, British satirist, Freund von Hogarth): Wie Statuen im Wert zunehmen, wenn sie zerfallen (ironisch gemeint: Chronos sitzt ja auf der zerfallenen Hand einer Statue.)

Bildunterschrift: To nature and your self appeal. Nor learn of others what to feel. Anon. (gemeint ist wohl: Hogarth selbst)

Vielleicht hat Hogarth diese Textstelle gekannt: John Dryden (1631–1700) verfasste ein Gedicht, in dem er das allmählich Fortschreiten in der Malerei thematisiert. Sir Godfrey Kneller (1646 –1723) – ein hochgelobter Porträtmaler – schenkte Dryden ein Porträt von Shakespeare. Dryden betrachtet dieses und schreibt (nach längeren Ausführungen), zwar könne durch die sterbliche Kunst nicht mehr ausgedrückt werden, doch werde die Zeit mit dem Pinsel bereitstehen, uns diese Gestalten mit ihrer Reife bringenden Hand bearbeiten:

More cannot be by Mortal Art exprest;
But venerable Age shall add the rest.
For Time shall with his ready Pencil stand;
Retouch your Figures with his ripening Hand,
Mellow your Colours, and imbrown the Teint,
Add every Grace, which Time alone can grant;
To future Ages shall your Fame convey;
And give more Beauties, than he takes away.

Epistles and Complimentary Addresses To Sir Godfrey Kneller, principal Painter to His Majesty
> https://www.bartleby.com/lit-hub/the-poems-of-john-dryden/to-sir-godfrey-kneller-principal-painter-to-his-majesty/

Vgl. die Querelle des Anciens et des Modernes. Der extreme Gegensatz wäre Horaz, Carm. III,xxx,1: monumentum aere perennius.

Nochmals Hogarth:

Exoticks (7.Mai 1761 zur Ausstellung der Society of Artists)

Der Affe im Gewand eines edeln Kenners betrachtet drei Baumstümpfe (exotics ≈ Edelhölzer; angeschrieben mit den Jahreszahlen ihres Abgangs: obit [stirbt] 1502; obit 1600, 1604) mit der Lupe und begießt sie.

Literatur dazu:

Berthold Hinz in: William Hogarth 1697–1764; Katalog zur Ausstellung der Neuen Gesellschaft für Bildende Kunst e.V. in der Staatlichen Kunsthalle Berlin, Redaktion: Berthold Hinz / Hartmut Krug, Gießen: Anabas-Verlag 1980, S.201f. = Nr. 134.

Karl Arndt, Chronos als Feind der Kunst. William Hogarth und die barocke Allegorie, in: Nederlands Kunsthistorisch Jaarboek, Vol. 23 (1972), pp. 329-342.
> https://www.jstor.org/stable/24705670?seq=1

Ronald Paulson, Hogarth's graphic works, New Haven/London 1965, Kat. Nr. 207. [nicht eingesehen]

Dank an Jörg K. für die philologische Kommentierung des griech. Zitats!

 

Wie modern ist Hogarth?

P. Michael Wolfgang Boeckn O.S.B. (1688–1742)

Chronos (mit Sanduhr auf dem Haupt) hat die Sense weggelegt und gräbt mit der Schaufel einen Schatz aus; ein Knabe (im Vordergrund) liest in einem offenbar soeben ausgegrabenen Buch.

Das Epigramm lautet

Præterita inquiro, cunctisque ANTIQUA REVELO; cur non / insipiens! / quæro futura magis ≈ Das Vergangene erkunde ich, und in allem enthülle ich das Alte; warum denn (ich Tor!) frage ich nicht nach dem Zukünftigen?

Im Bild oben: Eine Hand hält ein Fernrohr, das auf ein Buch im Himmel gerichtet ist.

aus: Grete Lesky, Die Bibliotheksembleme der Benediktinerabtei St.Lambrecht in Steiermark, Graz: Imago-Verlag 1970; Abbildung 12.

Als Vor-Bild für das Teleskop hätte dieses Emblem dienen mögen mit der Devise: Quaeque latent, meliora puta! (nach Ovid, Metamorphosen I,502 ≈ Was verborgen ist, reizt noch mehr.)

Henricus Engelgrave, Lux Euangelica Svb Velvm Sacrorvm Emblematvm Recondita In Anni Dominicas. Selecta Historia Et Morali Doctrina Varie Advmbrata Antverpiæ 1657; Emblema XL
> https://dibiki.ub.uni-kiel.de/viewer/image/PPN722291213/303/LOG_0045

Vgl. mit Blick auf das ewige Leben:
Hier kanstu haben einen schein
Wie groß dort werd die freüde sein.

> Vgl. auch: http://diglib.hab.de/drucke/th-4f-13/start.htm?image=00068

Wie modern ist Hogarth!

Filippo Marinetti (1876–1944), Manifest des Futurismus (1909)

Ein altes Bild bewundern heißt unsere Empfindsamkeit auf eine Totenurne verschwenden, statt sie nach vorn zu schleudern mit heftigen Stößen, die schöpfen und tatkräftig sind. Will man denn so seine besten Kräfte durch die Bewunderung des Vergangenen verschwenden, um gänzlich erschöpft, geschwächt zu sein? In Wirklichkeit ist der tägliche Besuch der Museen, der Bibliotheken, der Akademien (dieser Friedhöfe verlorener Anstrengungen, dieser Golgatha gekreuzigter Träume, dieser Register gebrochenen Schwunges) für den Künstler dasselbe, was verlängerte Vormundschaft für intelligente, an ihrem Talent berauschte Jünglinge ist. Für Tatkranke, Invalide und Gefangene, meinetwegen. Es ist vielleicht ein Balsam für ihre Wunden, die bewunderungswürdige Vergangenheit, da ihnen die Zukunft versagt ist ... Aber wir wollen so etwas nicht, wir jungen, starken, lebendigen Futuristen! Laßt sie doch kommen, die guten Brandstifter mit den karbolduftenden Fingern! ... Da sind sie! Da sind sie ja! ... Steckt doch die Bibliotheken in Brand! Leitet die Kanäle ab, um die Museen zu überschwemmen! ... Ha! Laßt sie dahintreiben, die glorreichen Bilder! Nehmt Spitzhacken und Hammer! Untergrabt die Grundmauern der hochehrwürdigen Städte!

Zeit-Reise

Charon

Auf diesem Bild von Carlo Maratti (1625–1713) ist die Personifikation des Tempus der (geflügelte!) Steuermann Charon, der die Seelen auf seiner Barke – geleitet durch den Leuchtturm – ins Reich der Skelette bringt; die Sanduhr auf dem Heck. Der Putto sagt zum am Bug Schlafenden: Excitare! jam te portus habet, et æternitas. ≈ Erwache! Du läufst gleich in den Hafen ein, die Ewigkeit.

Le Temps qui te passe t'approche du jour auquel tu dois rendre compte du Temps que tu auras passé. Car. Maratti in. / Bernard Picart fecit
> https://www.britishmuseum.org/collection/object/P_1874-0808-171

Goethe: An Schwager Kronos

Spude dich, Kronos
Fort den rasselnden Trott!
Bergab gleitet der Weg
Ekles Schwindeln zögert
Mir vor die Stirne dein Haudern
Frisch den holpernden
Stock Wurzeln Steine den Trott
Rasch in’s Leben hinein!

Nun schon wieder?
Den eratmenden Schritt
Mühsam Berg hinauf.
Auf denn, nicht träge denn!
Strebend und hoffend an.

Weit hoch herrlich der Blick
Rings ins Leben hinein
Vom Gebürg zum Gebürg
Über der ewige Geist
Ewigen Lebens ahndevoll.

Seitwärts des Überdachs Schatten
Zieht dich an
Und der Frischung verheißende Blick
Auf der Schwelle des Mädchens da.
Labe dich – Mir auch, Mädgen
Diesen schäumenden Trunk
Und den freundlichen Gesundheits Blick!

Ab dann, frischer hinab
Sieh, die Sonne sinkt!
Eh sie sinkt, eh mich faßt
Greisen im Moore Nebelduft,
Entzahnte Kiefer schnattern
Und das schlockernde Gebein.

Trunknen vom letzten Strahl
Reiß mich, ein Feuermeer
Mir im schäumenden Aug,
Mich Geblendeten, Taumelnden,
In der Hölle nächtliches Tor

Töne Schwager dein Horn
Raßle den schallenden Trab
Daß der Orkus vernehme: ein Fürst kommt,
Drunten von ihren Sitzen
Sich die Gewaltigen lüften.

Text nach der handschriftlichen Fassung von Goethe 1778, die er dann für den Druck 1789 veränderte. — Schwager war in der Studentensprache als Anrede für den Kutscher oder Postillon aufgekommen (F. Kluge 1895 mit Beleg für 1781). — Kronos (gilt auch als Gott der Reise) setzt Goethe ineins mit Chronos (Personifikation der Zeit). — haudern: ›Reisende um Lohn fahren‹ (J. Ch. Adelung 1796); die Wagen der Kutscher haben gerüttelt; Goethe ersetzt das Wort dann durch zaudern ›langsam vorankommen‹. — lüften ›sich erheben‹.


Alexander Puschkin (1799–1847): Der Lebenswagen (1823)

Mag schwer die Last auch manchmal wiegen,
der Wagen ist im Fahren leicht.
Tollkühn der Kutscher, die graue Zeit,
hoch auf dem Bock, hält fest die Zügel.

Früh morgens sitzen wir schon oben,
riskieren fröhlich Kopf und Kragen,
Behagen, Faulheit sind uns fern.
Wir rufen: ›Los!‹ …

Am Mittag ist der Mut gesunken,
vom Rütteln matt, sind schrecklicher
uns steile Hänge, tiefe Schluchten;
wir rufen: ›Dummkopf, nicht so wild!‹

Und immer weiter rollt der Wagen,
wir haben uns an ihn gewöhnt,
und dösend kehr’n wir ein zur Ruh –
Die Pferde aber jagt die Zeit.

übers. Beatrix M.-P.

Endlichkeit des Lebens

Slebstverständlich wird mit der Zeit immer auch der Tod assoziiert. (Es gibt unzählige Beispiele...)

Kristóf Lackner (1571–1631) kombiniert einen Totenkopf mit einer gefügelten Sanduhr. (Auch die anderen Bildelemente haben einen Bezug zu den zitierten Bibeltexten):

Coronae Hungariae emblematica descriptio, typis Palatinis excudebat M. Iacobus Winter 1613.
> https://www.digitale-sammlungen.de/de/view/bsb11255903?page=149

Emblema XXI: Temporis honesta avaritia

Quelle: … simul ad iacturam temporis ventum est, profucissimi in eo, cuius unius honesta avaritia est. ≈ Die Besitzenden sind an ihren Besitz gefesselt; sobald es aber zum Verlust der Zeit gekommen ist, sind sie verschwenderisch in dem, wo allein Geiz ehrbar wäre. (Seneca, De breviate vitae 3,1)

  • Psalm 143,4 [Vg. 144]: Ist doch der Mensch gleich wie nichts; seine Zeit fährt dahin wie ein Schatten.
  • Hebräerbrief 9,27: Und wie den Menschen gesetzt ist, einmal zu sterben, darnach aber das Gericht...
  • Eccclesisasticus [Jesus Sirach] 18,8ff.: Wie ein Wassertröpfchen im Meer und wie ein Körnchen im Sand, so verhalten sich die Jahre der Zeit zur Ewigkeit.
  • Psalm 89,10 [Vg. 90]; Unser Leben … fährt schnell dahin, als flögen wir davon.

Die drei Parzen (griech. Moiren) und der Lebensfaden

Klotho (die Spinnerin), die Jüngste, umwickelt die Spindel mit Wolle, Lachesis (die jedem das Los zuteilt), spinnt den Faden, und Atropos (die nicht umgedreht werden kann), die Älteste, zerschneidet ihn mit der Schere.

Obwohl in der klassischen Antike nicht prägnant formuliert (die drei werden genannt von Plato, Staat, 10.Buch, 617b-d) hat die Vorstellung eine lange Tradition.

Am deutlichsten ist am ehesten die Stelle bei Catull, Carmen 64, 311ff.:

laeva colum molli lana retinebat amictum,
dextera tum leviter deducens fila supinis
formabat digitis, tum prono in pollice torquens
libratum tereti versabat turbine fusum,
atque ita decerpens aequabat semper opus dens,
laneaque aridulis haerebant morsa labellis,
quae prius in levi fuerant exstantia filo:
ante pedes autem candentis mollia lanae

Übersetzung von Paul Lewinsohn (1922):

Während den Rocken, umkleidet mit schmeidiger Wolle, die Linke
Fest hielt, führte die Rechte mit spielendem Finger den Faden
Sacht nach unten, es drehte, vom Daumen erfaßt, sich die Spindel
Wirbelnd umher, und geglättet der schwebende Faden sich zeigte.
Zerrend befreiten die Zähne sodann das Gespinst von den Fasern,
Und vom wolligen Flaum nur verblieb an den trockenen Lippen,
Was am glänzenden Faden zuvor noch Rauhes gehangen.

›Golias‹ beschimpft den Räuber seiner Börse: Raptor mei pilei morte moriatur

Nunquam diu bajulet
illi colum Cloto
cesset filo Lachesis
tracto nondum toto
filum rumpat Atropos
nec fruatur voto
et miser presbytero
corruat remoto.

Clotho soll nur kurze Zeit ihm den Rocken halten, Lachesis sein Fadenknäuel nicht zu Ende spinnen, Atropos zerschneide es. Kein Gebet soll frommen, ohne Priester soll der Schuft jämmerlich verkommen.

Thomas Wright (Ed.), The Latin Poems Commonly Attributed to Walter Mapes, 1841, p. 75sq.

1571 erscheint die erste bebilderte Ausgabe von Vicenzo Cartari (ca. 1531–1569), »Imagini delli 'Dei de gl’Antichi«, ihr folgen eine Reihe von Editionen mit oft umgeabreiteten Illustrationen. Hier das entsprechende Bild der drei Parzen:

Vincentii Chartarii Rhegiensis Neu-eröffneter Götzen-Tempel/ Darinnen Durch erklärte Darstellung deroselben erdichtete Gestalt/ die bey dem Heydnischen Götter-Dienst/ vor alten Zeiten gewöhnliche Verehrung/ Anbettung/ und herrliche Kirchen-Gepräng; Vorgestellet Zu höchst benöthigtem Dienst und augenscheinlichen Vortheil der jenigen/ welche die Geschichte so wol als Gedichte der alten bewehrten Scribenten/ nicht weniger mit Nutzen lesen/ als auch gründlich verstehen wollen. Zum ersten mahl ins Deutsche gegeben mit deß weyland ... geheimbten Raths/ Herrn Pauli Hachembergs, hin und wieder beygetragene gelahrte Vermehrung Und LXXXIIX. Kupffer-Figuren geziehret. Franckfurt: Bourgeat 1692.


Jacob de Zetter (?–?)

Ein weib helt hie den Rockenstab,
Das ander spint, das dritt schneidt ab;
Diß aber wirt dadurch bedeüt:
Eim ieden sey bestimt sein Zeit.

New Kunstliche Weltbeschreibung das ist Hundert auserlesener kunst stuck, so von den Kunstreichsten Maistern dieser Zeit erfunden und gerisen worden, gegenwertigen Welt lauf und Sitten vor zu mahlen und uff besserung zu bringen. Nun mehr ins kupffer zu sammen getragen: mit kurtzen Lateinischen versen, auch Deütschen und Frantzösischen Reymen artig erklaret. Francofurti: Bry 1614.
> http://diglib.hab.de/drucke/39-7-geom-2s/start.htm?image=00111

Üppiger wurden die drei Parzen von Henrick Goltzius (1558–1617) dargestellt :

> https://sammlungen.uni-goettingen.de/objekt/record_kuniweb_1334403/
> https://nat.museum-digital.de/singleimage?resourcenr=1093370

oder hier

> https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Las_tres_Parcas,_Hendrick_Goltzius.jpg

Hier in einer Druckermarke. Die Wissenschaft (mit dem Helm von Minerva) wird von den drei Parzen nicht beeinträchtigt: SCIENTIA IMMUTABILIS

Florliegii Magni, seu POLYANTHEÆ Floribus Novissimis Sparsæ, Libri XX. Opus præclarum, suavissimis celebriorum sententiarum, vel Græcarum, vel Latinarum flosculis refertum. […] Studio & operâ Josephi Langii, meliore ordine dispositum, innumeris fere Apophthegmatis, Similitudinibus, Adagiis, Exemplis, Emblematis, Hieroglyphicis, & Mythologiis locupletatum, atque perilustratum, […]. Argentorati, Sumptibus Hæredum Lazari Zetzneri, MDCXLV. [1645]


Auch in der lutherischen Predigt spinnen die drei den Lebensfaden:

Philipp Ehrenreich Wider, Evangelische Sinn-Bilder/ Auf alle Sonn- hohe Fest- und Apostel-Täg/ vollkommenlich durch das gantze Jahr/ In beygefügter Hauptlehr/ und dem dazu gehörigen nützlichen Gebrauch zur Vermahnung/ Warnung/ Erinnerung und Trost ; Mit annehmlichen Erfindungen/ nützlichen Historien/ der H. Schrifft und Kirchen-Väter Sprüchen und Gleichnussen √ Franckfurth am Mayn : Zubrodt, 1671.
> https://nbn-resolving.org/urn:nbn:de:bvb:29-bv039756635-8

 

Bulla Vaporis

Erasmus, »Adagia« 1248 ≈ II, III, 48: Homo bulla

Hendrick Goltzius (1558–1617): Quis evadet? (1594)

Die Zeit entgleitet so schnell wie eine Seifenblase – wer entkommt dem?

Flos novus, et verna fragrans argenteus aura
Marcescit subito, perit, ali, perit illa venustas.
Sic et vita hominum iam nunc nascentibus, eheu,
Instar abit bullæ vanique elapsa vaporis.

Die frische, sillberne Blume, duftend nach Frühlingshauch,
Verwelkt bald, ihre Schönheit vergeht.
So auch das Leben der Menschen, schon in den Neugeborenen,
Verschwindet wie eine Blase oder wie flüchtiger Rauch.

> https://www.britishmuseum.org/collection/object/P_D-5-227

Conrad Meyer (Zürich 1618–1689) übernimmt die Bild-Idee (1657):

Sechs und zwänzig nichtige Kinderspiel; zu wichtiger Erinnerung erhebt und in Kupfer gebracht durch Conrad Meyer Maalern in Zürich.
= H. Jacob Catsen Kinder-Lustspiele, durch Sinn- und Lehrbilder geleitet; zur Underweisung in guten Sitten auss dem Nider- in das Hochdeutsche gebracht durch H. Johann Heinrich Ammann: Und mit Kupferstükken geziert, vermehret und verlegt durch Conrad Meyern, Mahlern in Zürich, Zürich MDCLVIII. (Bild 5)
> http://dx.doi.org/10.3931/e-rara-9837

Aus dem Text von Jacob Cats, übersetzt von Johann Heinrich Ammann (1607–1669):

Das Kind so Blateren blaasen thut/
das ist erzürnt und ungemut:
weil daß sein aufgetriben ding/
vergeht/ verfleugt so schnell und ring/
und sinket nider auf das feld/
wann es zum höchsten aufgeschwelt.
    Erzürn dich nicht/ o menschenkind:
diß Spiel und wir sind lauter wind:
wer lebte ie in sölchem stand/
der nicht zuletst wie rauch verschwand?
und was sich selbst zu hohe schwingt
der unfal gmeinlich nidertringt.

Der Text unter der Radierung (Autor???) moralisiert; vgl. den Text auf dem Stein: GLORIA MUNDI:

Wie dise blas verschwindt,   Wann si den wind empfindt;
Also vergeht die wält    Mit wollust, pracht und gält.

(Dank an S.P. ETHZ für den Hinweis!)

Jahrringe in Bäumen

Andreas Urscheler fotografiert seit einigen Jahren Querschnitte verwitterter Holzstämme.

Ein "Woodcut" symbolisiert drei Leben.

  • Das erste Leben beschreibt er als "das Leben eines gesunden Baumes bis zu dem Tag, an dem Sägen und Äxte das Leben eines lebenden Organismus beendeten."
  • Zum zweiten Leben hält er fest: "Der Baum wurde in einer gestapelten Blockwand eines Stadels zum Baumaterial. Mehrere Jahrhunderte später verfielen einige der Ställe und wurden aufgegeben. Damit ging das zweite Leben im Sinne des Verwendungszweckes des Holzes zu Ende. Die Querschnitte der Stämme sind jedoch immer noch da […]."
  • Das dritte Leben: "Gerahmt und an einer Wand hängend werden die ‘Woodcuts’ als grossformatige Kunstdrucke lebendig und regen den Betrachter zum Denken an. T(h)ree Lives. […] Eine Denkfigur zum grossen Thema Werden, Sein und Vergehen."

> http://42mm.ch/andreas-urscheler-woodcuts/

> https://woodcuts.ch/artworks

> https://www.alpa.swiss/galleries/urscheler-woodcuts-t-hree-lives

Zeitkreis

Es gibt lineare Vorstellungen der Zeit und zirkuläre.

Aus einer Handschrift von Isidors Etymologien (V, xxxv; de temporibus anni)

Jahreszyklus: ANNUS sitzt zwischen NOX und DIES und hält Mond und Sonne in Händen; um ihn herum sind kreisförmig die 12 Sternzeichen angeordnet, und jedem ist eine typische Monatsarbeit beigegeben. In den vier Ecken die vier Jahreszeiten.

Württembergische Landesbibliothek Stuttgart, Cod. hist. 415, fol. 17v. (Kloster Zwiefalten um 1162)
vergrößerbar > http://digital.wlb-stuttgart.de/purl/bsz349406464

James Thomson (1700–1748) verfasste 1726–1730 »The Seasons«, ein Buch, das von Barthold Heinrich Brockes (1680–1747) übersetzt wurde und von Gottfried van Swieten (1733–1803) umgestaltet wurde zum Libretto für Joseph Haydns Oratorium »Die Jahreszeiten« (1801).

Dies ist der Erden Wunder Bau, worauf, durch ihr beständigs Drehen
Wie Morgen, Mittag, Abend, Nacht, LENTZ, SOMMER, HERBST und FROST entstehen.

Radierung von Christian Friedrich Fritzsch (ca. 1719 – 1774) in:

Herrn B. H. Brockes, Com. Palat. Caes. und Rahts-Herrn der Kayserl. freyen Reichs-Stadt Hamburg, aus dem Englischen übersetzte Jahres-Zeiten des Herrn Thomson. Zum Anhange des Jrdischen Vergnügens in Gott. Mit Kupfern. Hamburg: Christian Herold 1745.

Das Digitalisat der HAB enthält die 4 Blätter zu den 4 Jahreszeiten
> http://diglib.hab.de/drucke/lo-677-4-2/start.htm

Im Anhang steht Thomson’s »A Hymn on the Seasons«, in dem der Jahreskreis physikotheologisch gedeutet wird (hier ab Vers 24ff. Mysterious Ruond!):

Lob-Gesang auf die vier Jahrs-Zeiten

O Geheimniß-voller Kreis! welch Weisheit strahlt aus Dir,
Welche göttliche Gewalt, welche Lieb’ und Huld herfür!
Ein fast nicht gespührter Zug, einfach und dennoch gemenget,
Mit so sanfter Harmonie süß vereinet, preßt und drenget
(Da stets eins dem andern folget) eins das andre nach und nach,
In beständig reger Stille, und nicht fühlbar, allgemach,
Daß, auf wunderbare Weise, solch ein Ganz daraus entstehet,
So fast allezeit erscheinet, und fast allezeit vergehet.
   Aber wir, mit stumpfen Blicken und nicht sehendem Gesicht,
Merken darinn keine Wunder, spühren Gottes Finger nicht.
Nur auf Eitelkeit bedacht, will man hiervon nichts verstehen,
Noch die überall zu sehnde Macht und Weisheit Deß nicht sehen,
Welcher unaufhörlich, kräftig die erhabnen Sphären lenkt,
In geheimen Tieffen wirkt, alles dünsten läßt und sprossen.

[…]

Eine spezielle Ausprägung ist das Rad der Fortuna, wie es Boethius (um 480 – 524) in seiner »Consolatio Philosophiae« entwickelt hat.

2. Buch, Beginn: Der gefangene Boethius sehnt sich nach seinem verlorenen Glück; er meint, Fortuna habe ihre Einstellung zu ihm geändert. Die zu seinem Trost herbeigekommene Philosophie macht ihn darauf aufmerksam, dass das nicht zutrifft, weil Fortuna von Natur aus unbeständig und treulos ist; ebendies ist ihre konstante Einstellung, diese Veränderlichkeit macht ihr Wesen aus und ist das einzige Zuverlässige an ihr.

Tu fortunam putas erga te esse mutatam: erras. Hi semper eius mores sunt, ista natura. Servavit circa te propriam potius in ipsa sui mutabilitate constantiam. ≈ Du meinst, das Glück habe sich dir gegenüber verwandelt; Du irrst! Dies ist seine Natur. Es hat vielmehr gerade in seiner Veränderlichkeit dir gegenüber seine Beständigkeit bewahrt.

Ausserdem erinnert ihn die Philosophie daran, dass er sich freiwillig der Herrschaft Fortunas unterworfen hat. Er hat sich diese treulose Göttin als seine Gebieterin ausgesucht, daher muss er nun die Folgen seiner Entscheidung in Kauf nehmen.

Dominae moribus oportet obtemperes. Tu vero volventis rotae impetum retinere conaris? ≈ Du hast dich dem Regiment der Fortuna anvertraut, Nun musst du ihr gehorchen. Du versuchst den Schwung des rollenden Rades aufzuhalten?

Dann übernimmt die Philosophie im Dialog (Prosa 2) die Rolle der Fortuna; als Fortuna verteidigt sie sich gegen die erhobenen Vorwürfe. Sie argumentiert, sie habe dem Klagenden kein Unrecht getan, da sie ihm zu nichts verpflichtet sei.

»Haec nostra vis es, hunc continumm ludum ludimus: rotam volubili orbe versamus, infima summis, summa infimis mutare gaudemus.« ≈ Dies ist unsre Macht, dies ununterbrochene Spiel spielen wir, wir drehen das Rad in kreisendem Schwunge, wir freuen uns, das Tiefste und das Höchste und das Höchste mit dem Tiefsten zu tauschen.

lat. Text: Ausgabe von Gegenschatz / Gigon:
> http://www.fh-augsburg.de/~harsch/Chronologia/...Boethius/boe_con0.html
Übersetzung durch Richard Scheven von 1893 > http://www.zeno.org/nid/20009159215

Holzschnitt aus der Ausgabe Boetius de Philosophico consolatu siue de consolatione philosophiae: cum figuris ornatissimis nouiter expolitus, Argentinae: Grüninger 1501.
> http://daten.digitale-sammlungen.de/bsb00001880/image_1
(Das Schiff links im Bild bezieht sich auf eine Aussage in Carmen 2)

Bereits wenig später– 1509 – verwendet Ulrich von Hutten (1488–1523) diese Vorstellung für eine politische Karikatur:

DE FORTVNA VENETORVM

Hoc in volumine haec continentur. Vlr. De Hvtten Eq. Ad Caesarem Maximil. vt bellum in Venetos coeptum prosequatur. Exhortatorium, [im Kolophon hinten: Augsburg 1519], Seite cj
> https://doi.org/10.11588/diglit.11869#0062

Hier aus Ulrichs von Hutten Schriften, Hrsg. von Eduard Böcking, Bd. 3.: Poetische Schriften, B.G. Teubner 1859-1861; S. 229.
> https://mateo.uni-mannheim.de/camena/hutten1/jpg/s229.html

Historischer Kontext: 27. April 1509: Papst Julius II. verhängt über die Republik Venedig ein Interdikt. — 14. Mai: In der Schlacht von Agnadello wird die Armee der Republik Venedig vernichtend geschlagen. — August: Kaiser Maximilian I. marschiert in Italien ein und belagert die venezianischen Städte Padua und Treviso.

Bild: Die Tiara von Papst Julius II. ist zuoberst auf dem Rad, der Adler von Kaiser Maximilian ist links am Aufsteigen, der heraldische Hahn von Louis XII ist am Absteigen, der Wappen-Löwe von Venedig hängt unten.

Text dazu: Über das Glück der Venediger

Die zu Lande noch jüngst und auf allen Meeren geboten,
    Jene Venediger, die neue Gesetz' uns gebracht;
Die Feldherren besiegt und in Fesseln Könige schlugen,
   Und mit gewaltiger Hand trotzige Völker bezähmt;
Deren Macht nichts glich auf der Welt; die Stadt, die an Glanze
   Und majestätischer Pracht selbst sich mit Ilium maß;
Welche die Herrschaft der Welt an sich zu reißen gedachte,
   Diese, was ändert die Zeit alles doch, ist nun in Trau'r.

Übersetzung aus: Ulrich von Hutten's Jugend-Dichtungen, didaktisch-biographischen und satyrisch-epigrammatischen Inhalts. Zum erstenmal vollständig übersetzt und erläutert von Ernst Münch. 2.Ausg., Schwäb. Hall: Haspel, 1850, S. 235 (hier Nummer 59)
> https://babel.hathitrust.org/cgi/pt?id=gri.ark:/13960/t3kw9r34n&seq=26


Auf einem nach der Schlacht von Lepanto (1572) radierten Einblattdruck von Martino Rota (ca. 1520–1583) dreht Chronos (geflügelt, mit Sanduhr in der einen Hand) das Glücksrad, in dessen Zenit die in einem Stadtmodell stehende Occasio (im Rückenwind) steht. Ein Osmane hat ihren Fuß gepackt und versucht sich daran emporzuziehen, während Vertreter der Christenheit den Aufstieg zu hindern suchen.

> https://www.britishmuseum.org/collection/object/P_1873-0809-801

Wolfgang Harms, Deutsche illustrierte Flugblätter, Band II, Nr. 29 (mit weiteren Erläuterungen).

Bereits Herrad von Landsberg (vor 1178 – 1196) kennt eine das Rad drehende Fortuna im »Hortus deliciarum« (in: ed. Green / Evans / Bischoff / Curschmann, 1979, Bild 295 = Fol. 215r.).

Bekannt ist die Illustration des Fortuna-Rads im mittelalterlichen Codex Clm 4660 zu den Liedern mit den Versen

Fortunae rota volvitur:
descendendo minoratus;
alter in altum tollitur;
nimis exaltatus
rex sedet in vertice –
caveat ruinam!

[…]

Das Glückskrad reisst in raschem Lauf
Fallende ins Dunkel;
Einen andern trägts hinauf:
hell im Lichtgefunkel
trhont der König in der Höhe …
wird des Sturzes inne!
[…] (Übers. Carl Fischer}

 

O Fortuna,
velut luna statu variabilis!
semper crescis
aut decrescis
[…].

(Carmina Burana, heutige Zählung Nr. 16 und Nr. 17). > https://de.wikipedia.org/wiki/Carmina_Burana

Der sog. Petrarcameister gestaltete zwei Titelblätter für »Von der Artzney bayder Glück, des guten und widerwertigen. Unnd wess sich ain yeder inn Gelück und unglück halten sol. Auss dem Lateinischen in das Teutsch gezogen. Mit künstlichen fyguren durchaus, gantz lustig und schön gezyeret«, Augsburg: Steiner MDXXXII.
> https://gallica.bnf.fr/ark:/12148/bpt6k3142390

Literaturhinweis:

Sibylle Appuhn-Radtke, Artikel "Fortuna", in: Reallexikon zur Deutschen Kunstgeschichte, Bd. X (2005), Sp. 271–401 > https://www.rdklabor.de/w/?oldid=105363

Blick auf die Uhr als Ansporn

 

Horloge de sapience, Bruxelles, Bibliothèque royale de Belgique, Ms. IV 111, fol. XIII v

(Bild größer hier)

= Heinrich Seuse O.P. († 1366) französ. Übersetzung des »Horologium sapientiae«

Dazu der Prolog (ed. Künzle S. 364,8ff.):

Die Göttliche Weisheit ist um das Heil aller besorgt … So beabsichtigt sie mit diesem Werk … die Erloschenen wieder zu entflammen, die Lauen anzutreiben, Andachtslose zur Andacht zu bewegen und die im Schlaf der Nachlässigkeit Verharrenden zur Wachsamkeit der Tugenden zu erwecken (ac somno neglegentiae torpentes ad virtutum vigilantiam excitare)

Unde et praesens opusculum in visione quadam sub cuiusdam horologii pulcherrimi rosis speciosissimis decorati et cymbalorum bene sonantium et suavem ac caelestem sonum reddentium cunctorumque corda sursum moventium varietate perornati figura dignata est ostendere clementia salvatoris

≈ Daher war die Barmherzigkeit des Heilands geneigt, vorliegendes Werklein in einer Vision zu zeigen, im Bild einer wunderschönen Uhr, die mit prächtigen Rosen verziert war und geschmückt mit einer Vielzahl von schönklingenden Glöcklein, die einen süßen himmlischen Ton von sich gaben und die Herzen aller emporhoben. (aus: Stundenbuch der Weisheit = Das "Horologium sapientiae", übers. von Sandra Fenten, Würzburg: Königshausen & Neumann 2007.)

Der Dominikaner (im Habit des O.P.) in der Haltung des Melancholikers wird ermuntert von Sapientia, die handgreiflich auf ein Urwerk verweist; auf der anderen Seite ein Glockenspiel mit der Inschrift Ante secula qui Deus et tempora homo factus est in Maria (≈ Gott, der der Zeit und den Zeitaltern vorangeht, wurde Mensch in Maria; übers. Chr. Kiening)

Ein ähnliches Bild hier > https://en.wikipedia.org/wiki/Horologium_Sapientiae.....png

Die Zeit selbst hat ein Ende!

Das letzte Werk von William Hogarth (1697–1764):
THE BATHOS, or Manner of Sinking in Sublime Paintings, inscribed to the Dealers in Dark Pictures. (March 3.d 1764)

Freilich meint das Bild damit weniger den "Jüngsten Tag" (vgl. 2.Petrusbrief 3,10) als seinen eigenen Darstellungs-Stil:

Gut vergrößerbare Digitalisate
> https://cle.ens-lyon.fr/anglais/arts/peinture/william-hogarth-finis-on-the-bathos
> https://artsandculture.google.com/asset/tailpiece-or-the-bathos....

Die Vorzeichnung dazu
> https://www.rct.uk/collection/913466/the-bathos

BATHOS* — Die erschöpfte Gestalt des geflügelten Chronos, zwischen Ruinen, auf einen Grabstein gestützt – mit zerbrochener Pfeife und Sense – sprechend das Wort FINIS – sein von den drei Parzen signiertes Testament umklammernd, in dem Chaos als Testamentsvollstrecker bestimmt wird – eine zerbrochene Sanduhr am Boden – auf dem Buch unten links wie bei englischen Theaterstücken am Ende: Exeunt omnes (alle treten von der Bühne ab) – auf der Aktentasche mit dem Siegel: Nature Bankrupt. – Phöbus liegt tot auf seinem abstürzenden Sonnenwagen. Usw.

Georg Christoph Lichtenberg in seinen Erklärungen der Hogarthischen Kupferstiche (1794–99) dazu: »Dies Blatt bezweckte eine Verspottung der sogenannten academischen Malerschule, welche zu Hogarth’s Zeiten noch in genügendem Ansehen stand. Bekanntlich gefiel sich dieselbe in allegorischen Darstellungen, und in Compositionen, worin antike Mythologie und neuere Verhältnisse zusammengeworfen wurden, um auf pedantisch gelehrte Weise irgend ein modernes Sujet zu behandeln.«
> https://de.wikisource.org/wiki/Das_Ende_aller_Dinge

* Báthos (altgriechisch βάθος ≈ die Tiefe) ist eine Verballhornung von Pathos, die erhabene Poesie, wie dies "Martinus Scriblerus" (wohl Alexander Pope) 1727 schon karikierte: »Peri Bathous, Or the Art of Sinking in Poetry«

Die Bilder und Texte unten auf dem Blatt beziehen sich auf Hogarths »Analysis of Beauty«; der Bezug zum Thema ist wohl, dass Hogarth sein Konzept von Schönheit den seiner Meinung nach überholten Vorstellungen nochmals entgegensetzen wollte. Sie wurden in Nachdrucken des Kupfers (Ernst Ludwig Riepenhausen) weggelassen; auch Lichtenberg geht nicht darauf ein.

Kleine Anthologie von Zeit-Zitaten

Sapientia (Buch der Weisheit) 2,5 Umbrae enim transitus est tempus nostrum, et non est reversio finis nostri: quoniam consignata est, et nemo revertitur. ≈ Unsere Zeit geht vorüber wie ein Schatten, unser Ende wiederholt sich nicht; es ist versiegelt, und keiner kommt zurück.

Ecclesiastes (Prediger) 9,12 Nescit homo finem suum; sed sicut pisces capiuntur hamo, et sicut aves laqueo comprehenduntur, sic capiuntur homines in tempore malo, cum eis extemplo supervenerit. ≈ in Luthers Übersetzung 1545: Auch weis der Mensch seine zeit nicht / Sondern wie die Fisch gefangen werden mit eim schedlichen Hamen [Angelhaken] / Vnd wie die Vogel mit eim Strick gefangen werden / So werden auch die Menschen berückt zur bösen zeit / wenn sie plötzlich vber sie fellt.

Sed fugit interea, fugit inreparabile tempus… Vergil, Zwischenbemerkung des Schreibenden in Georgica (III, 284) ≈ Doch es flieht unwiederbringlich die Zeit...

Gottfried Wilhelm Leibniz (1646–1716):

Le present est plein de l’avenir, et chargé du passé. »Nouveaux Essais sur l’entendement humain«, Préface

Et comme tout présent état d’une substance simple est naturellement une suite de son état précédent, tellement que le présent y est gros de l’avenir. »La Monadologie«, ¶ 22

Das ist eine Regel […] daß das Gegenwärtige mit dem Zukünftigen allezeit schwanger gehet, und daß derjenige, der alles siehet, auch in dem, was ist, dasjenige siehet, was seyn wird. [Hintergrund hier: GOtt siehet den gantzen Zusammenhang dieser Welt … auf einmahl.]

Herrn Gottfried Wilhelm von Leibnitz Theodicaea, Oder Versuch und Abhandlung, Wie die Güte und Gerechtigkeit Gottes, In Ansehung Der Menschlichen Freyheit, und des Ursprungs des Bösen, zu vertheidigen; Aus dem Frantzösischen übersetzt, Bey dieser dritten Auflage an vielen Orten verbessert. Hannover: Förster 1735, III.Theil, § CCCLIX

Wer die Zeit der Saat verschläft, braucht in der Ernte nicht zu schwitzen.

892 solche (gelegentlich auch etwas triviale) Sprichwörter, Redensarten, Phraseologismen in: Karl Friedrich Wilhelm Wander, Deutsches Sprichwörter-Lexikon, Band 5. Leipzig 1880, Sp. 523-561,1821.
> http://www.zeno.org/nid/20011774231

Kurt Marti (Bern 1921–2017): verchehrsornig

mer fahre
de vorfahre
ou we mer vorfahre
nache

mer fahre
de nachfahre
ou we sie vorfahre
vor.

...

Überlegungen zur Zeit in der Philosophie

 

>>> versch. Autoren, Artikel "Zeit" in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, hg. Joachim Ritter / Karlfried Gründer, Band 12, Spalte 1186–1262, Basel/Stuttgart: Schwabe 2005.

Søren Kierkegaard (1813–1855), »Die Wiederholung«, 1848

Edmund Husserl (1859–1938), Vorlesungen zur Phänomenologie des inneren Zeitbewusstseins. Hrsg. von Martin Heidegger, Niemeyer, Halle 1928.
> https://freidok.uni-freiburg.de/fedora/objects/freidok:5974/datastreams/FILE1/content

Eugène Minkowski (1885-1972), Le temps vécu. Études phénoménologiques et psychopathologiques, Paris: Payot 1933.
dt. Übers.: Die gelebte Zeit, Salzburg: O. Müller 1971/72.

Emmanuel Levinas (1905–1995), Le temps et l'Autre; erste Veröffentlichung 1948 im Sammelband Le Choix, le Monde, l’Existence.

Georges Poulet (1902–1991), Études sur le temps humain, Plon 1949.
dazu: Pierre Grotzer: «Mesure de l’instant». Zu Poulet’s neuesten Studien über das Zeitbewusstsein. In: Romanische Forschungen, 81, 1969, S. 204–213.
> https://www.jstor.org/stable/27937545

Allgemeine Literaturhinweise

Erwin Panofsky, "Father Time", in: Studies in Iconology, New York 1939, pp. 69–95.

Lieselotte Möller, Chronos, in: Reallexikon zur Deutschen Kunstgeschichte, Bd. III (1953), Sp. 753–764 > https://www.rdklabor.de/w/?oldid=92633

Ernst Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen, Dritter Teil (1929) Kapitel IV: Die Zeitanschauung (2. Auflage 1954: S.189ff.).

Nobert Elias, Über die Zeit. Arbeiten zur Wissenssoziologie II, Frankfurt a.M. 1984.

Heinrich Theissing, Die Zeit im Bild, Darmstadt: Wiss. Buchges. 1987.

Harald Burger, Zeit und Ewigkeit. Studien zum Wortschatz der geistlichen Texte des Alt- und Frühmittelhochdeutschen, Berlin: de Gruyter 1972 (Studia linguistica Germanica 6); Reprint 2017.

Samuel L. Macey (Ed.), Encyclopedia of Time, New York: Garland Publishing 1994.

Veronika Pirker-Aurenhammer, Modelle der Zeit in symbolischen Darstellungen des Mittelalters, in: Das Münster, Zeitschrift für christliche Kunst und Kunstwissenschaft 53 (2000), S. 98–119.

Anouk Janssen, Grijsaards in zwart-wit. De verbeelding van de ouderdom in de Nederlandse prentkunst (1550–1650). Zutphen: Walburg Pers 2007. Darin bes. das Kapitel Levensfasenstheorieën en ouderdom in beeld. S. 67–174.

Simona Cohen, Transformations of Time and Temporality in Medieval and Renaissance Art, (Brill's Studies on Art, Art History, and Intellectual History, Band 228/6), Leiden 2014.

Christian Kiening, Erfahrung der Zeit 1350–1600, Wallstein Verlag 2022. Inhaltsverzeichnis als PDF

Vgl. das SNF-Projekt »Hybride Zeiten. Temporale Dynamiken 1400–1600«
Projektnummer 175976 — April 2018 bis Juli 2022 — Zugesprochener Betrag
CHF 542'282 {time is monyey…}
> https://data.snf.ch/grants/grant/175976

Das Projekt erforscht, in welchem Masse im 15. und 16. Jahrhundert Zeitindikatoren in textuellen wie visuellen Formen zunehmen, inwiefern Zeitsemantiken eine immer grössere Rolle spielen, wie Zeit in ihren multiplen Schattierungen und Gegenläufigkeiten ausgelotet wird. Der Reiz, sich auf diesen Zeitraum zu konzentrieren, ergibt sich aus einer methodologischen Herausforderung: den Blick auf das zu richten, was nicht eindeutig als neuartig, sondern zunächst einmal als experimentell und hybrid zu erkennen ist. Es geht darum, sowohl zu erfassen, welche temporalen Semantiken, Modelle und Ordnungen im 15. und 16. Jahrhundert existierten, als auch zu beschreiben, wie sie in der materiellen Überlieferung in-, mit- und gegeneinander agierten. Herausgegriffen werden fünf historisch-literarische, untereinander verbundene Felder, auf denen temporale Dynamiken besonders gut zu beobachten sind: Reiseberichte, Prosaromane, Kalendarien, lyrische Texte und Moralitäten. Sie werden mit Mitteln der Historischen Semantik, der Narratologie und der Mediologie analysiert. Das innovative Potenzial dieser Analysen liegt auf mehreren Ebenen: (1) in der Erforschung temporaler Pluralisierungen und Hybridisierungen und ihrer Verschränkung mit medialen Entwicklungen; (2) in der Erarbeitung eines differenzierten Instrumentariums zur Beschreibung der temporal-medialen Vielschichtigkeit historisch-literarischer Artefakte; (3) in der Konturierung einer neuen Perspektive auf die historiographische Signatur der Zeit zwischen 1400 und 1600; (4) in der Historisierung eines zentralen auf die Moderne und die Gegenwart bezogenen Narrativs der Geistes- und Kulturwissenschaften.

International Society for the Study of Time (ISST) > https://studyoftime.org/

Since 1966, the International Society for the Study of Time (ISST) has been providing a framework for an interdisciplinary dialogue about the nature of time. KronoScope, edited by an international board of scholars, carries forward the work of ISST....

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Es kommt dann noch mehr hierzu; bitte um etwas Geduld bis morgen!

Sebastian Brant verwendet im »Narrenschiff« (1494) (Nr. 31) die Idee, dass der Rabe mit seinem Gekrächz das lateinische Wort cras (›morgen‹) spricht.

Wer singt Cras Cras glich wie eyn rapp [Rabe]
Der blibt eyn narr biß jnn syn grapp
[Grab]
Morn hat er noch ein grösser kapp

Der ganze Text hier

Die Idee der ›Procrastination‹ hat eine lange Tradition, vgl. den Aufsatz von Uwe Ruberg, Signifikative Vogelrufe. ”Ein rapp singt all zeit cras cras cras”. In: W. Harms / H. Reinitzer (Hgg.), Natura loquax. Naturkunde und allegorische Naturdeutung vom Mittelalter bis zur frühen Neuzeit, (Mikrokosmos 7), Frankfurt/M. 1981, S. 183–204.