Projektionen als soziales Phänomen

Andreas Hebestreit:

Soziale Projektionen.

Beispiele aus der frühchristlichen Symbolik

 

Ich gehe zunächst davon aus, dass wir die sozialen Formen, in denen wir leben, auf die Vorstellungen projizieren, die wir uns von der Wirklichkeit machen. Diese Vorstellungen sind grundsätzlich gesellschaftsförmig oder gesellschaftsgestaltig, sie sind soziomorph. Dieses Wort soziomorph geht meines Wissens vor allem zurück auf den Soziologen Ernst Topitsch. Den Puristen mag das Wort ein Greuel sein, ich persönlich bin Topitsch dankbar dafür. Auch wenn ich es, wie sich gleich zeigen wird, ein bisschen anders und vor allem ein bisschen präziser verwende als er.

Wenn ich hier sage ›präziser‹, dann meine ich damit vor allem, dass ich das Soziale etwas genauer fasse als Topitsch. Denn der Begriff, um den hier alles kreist, die ›Gesellschaft‹, ist bekanntlich ein sehr diffuser Begriff. Aus diesen Gründen bevorzuge ich im Folgenden den Begriff sozialer Körper.

Was nun diesen Begriff angeht, so ist er leider sehr früh zum Opfer eines gelehrten Vorurteils geworden. Während man im englischen Sprachraum durchaus von social bodies oder religious bodies – ›religionsgebundenen Körperschaften‹ sprechen kann, ist der  Begriff ›sozialer Körper‹ in der deutschsprachigen Soziologie völlig verfemt. Offenbar denkt man bei dem Wort Körper sofort an organizistische Modelle und das ist selbstverständlich unzulässig. Nun wird das Wort ›Körper‹ aber bekanntlich nicht nur in einem organizistischen Sinn gebraucht, sondern auch in einem geometrischen. Und in dieser Richtung bewegt sich mein Verständnis. Zunächst also die Frage:

Wie definiert sich ein sozialer Körper? – Was ist ein sozialer Körper?


Am einfachsten erklärt sich das, wenn man die Frage umkehrt: Was ist kein sozialer Körper? – Die Leute, die abends um halb sechs am Bellevue (ein Platz in Zürich) auf ihre Trams warten, sind kein sozialer Körper. – Warum nicht? Erstens, weil sie rein zufällig zusammen sind und kein gemeinsames Ziel haben. Sie steigen ein oder aus, wann und wo es ihnen passt. Und zweitens, weil sie kein gemeinsames Merkmal haben, kein wahrnehmbares Ab- oder Kennzeichen, mit dem sie sich nach außen hin unterscheiden und zu erkennen geben.

Damit hätten wir bereits die beiden Kriterien, die einen sozialen Körper ausmachen: Die gemeinsame Ausrichtung auf ein bestimmtes Ziel …



… und die Kennzeichnung nach außen. Also gegenüber all jenen Unbeteiligten oder Außenstehenden, die offenbar nicht auf dieses Ziel ausgerichtet sind.

 

 

Betrachten wir zunächst den Bezug nach innen hin. Hier geht es um die gemeinsame Absicht, das gemeinsame Ziel, den gemeinsame Nutzen. Nennen wir es

die als ideal empfundene Lebensweise eines sozialen Körpers und die ihm dazu erforderliche Wirklichkeit.

Im Wesentlichen ist das ein qualitativer Bezug. Das gemeinsame Ziel, das der soziale Körper verfolgt, hat jeweils eine ganz bestimmte, unverwechselbare Qualität.
Gleichzeitig befindet sich der soziale Körper aber immer in einer Umwelt oder Oikumene…

 

 

… in die er sich mit anderen sozialen Körpern, also den Nicht-Teilhabenden, Nicht-Beteiligten oder Außenstehenden teilen muss. Hier handelt es sich um einen vorwiegend quantitativen Bezug und in dem gibt es grundsätzlich drei Möglichkeiten.

So sieht es also aus, wenn der soziale Körper gegenüber den anderen Körpern eine große Mehrheit darstellt. Die anderen erscheinen dann daneben als kleine Minderheiten.

So sieht es aus, wenn der soziale Körper die gemeinsame Welt mit einem in etwa gleich großen Körper teilen muss.

Und so sieht es aus, wenn der soziale Körper eine kleine Minderheit darstellt, die sich neben einer übergroßen Mehrheit behaupten muss.

Ein sozialer Körper besteht nur, insofern er die beiden soeben genannten Bezüge – den nach innen und den nach außen –  kommunizieren kann. Nur dann ist er überhaupt als solcher existent und wahrnehmbar. Die dazu erforderlichen Verständigungsmittel sind die Symbole. Wir bedürfen immer des Mediums einer Symbolwelt, um mit der primären Realität umgehen zu können.

Ich muss nicht erst erläutern, dass auch das Symbol – ähnlich wie ›die Gesellschaft‹ – eine etwas komplexe Angelegenheit ist. Die Vorstellungen (und Definitionen) darüber weichen teilweise sehr weit voneinander ab. Aber ich glaube, wir können uns darauf einigen, dass ein Symbol immer eine Mitteilung darstellt. Als Mitteilung hat das Symbol zunächst einmal eine Anschrift oder Adresse. Worin diese Adresse besteht, wäre bereits geklärt: Das Symbol verweist auf irgendeinen Aspekt der für uns relevanten Wirklichkeit. Mit den Worten eines bekannten Fachwörterbuchs ist ein Symbol »jede wahrnehmbare Einheit, die im Rahmen einer Kultur als stellvertretendes Zeichen für bestimmten Sinn, Sinnzusammenhang, Bedeutung, Wert etc. fungiert.« (G.Hartfiel / K.H.Hillmann, Hgg., Wörterbuch der Soziologie, Stuttgart: Kröner 4. Aufl. 1994)



Aber das ist eben nur die halbe Wahrheit. Denn ein Symbol enthält auch immer einen Absender und das ist – in seiner bekanntesten Form – die Sprach-Gemeinschaft derjenigen, die es verwenden, verstehen und sich damit zugleich gegenüber anderen Gemeinschaften abgrenzen. Wenn Sie zum Beispiel irgendwo auf der Welt das Wort épervier hören, erhalten Sie auf einen Schlag zwei Informationen. Erstens erfahren Sie, dass von einem Vogel die Rede ist, und zweitens realisieren Sie, dass diese Mitteilung von einem assoziierten Mitglied der französischen Sprachgemeinschaft ausgegangen sein muss.
Jede Sprache entfaltet eine gewisse Projektionswirkung. Wir sagen in dem Fall auch, sie ›färbt‹ das Verständnis, das die Verwender dieser Sprache jeweils von dem Bezeichneten haben. Es ist eben doch etwas anderes, ob ich in einem Auto fahre oder in einer voiture dahingleite oder in einer machina aufs Gaspedal trete.

Eine Sprachgemeinschaft ist aber zugleich auch ein sozialer Körper. Und dessen Absender ergibt sich, wie wir gerade gesehen haben, aus seinem Größenverhältnis zu den anderen Körpern.

Und nun komme ich zu meiner zentralen These:

Auch der Absender, der sich aus dem Größenverhältnis eines sozialen Körpers zu seinen Nachbarn innerhalb einer ihnen gemeinsamen Welt ergibt, entfaltet eine gewisse Projektionswirkung. Er beeinflusst oder ›färbt‹ das jeweils Adressierte oder Bezeichnete auf eine besondere Weise.

Und diese quantitativ motivierten Projektionen sind es, für die ich das  Wort ›soziomorph‹ reservieren möchte.

Jetzt könnte ich mir vorstellen, dass jemand sagt: Ja, wollen Sie denn hier allen Ernstes behaupten, dass man an einem Symbol ablesen kann, ob es jeweils im Gebrauch einer Mehrheit, einer Minderheit oder einer Parität steht? – Dieser Person würde ich antworten: Ja, genau das will ich! Ich werde es Ihnen auch gleich vorführen. Und zwar erläutere ich nun es an einigen Beispielen aus der frühchristlichen Symbolik.

Das ist in etwa der Zeitraum, an den hier gedacht ist (die apostolische Zeit):

ca. 50 – 250

Historisch gesehen begann das Christentum als eine adventistische Sekte. Es handelte sich vorwiegend um kleine verstreute Kultgemeinschaften im östlichen Mittelmeerraum, die sich einerseits von der mosaischen Religion abgrenzten und andererseits vom vorherrschenden Polytheismus der Spätantike. Es war also eine Situation, die in etwa diesem Schema entspricht.

Was diese peripher angesiedelten christlichen Gemeinschaften am Leben erhielt, ist nicht so leicht zu sagen. Sie genossen wenig Sympathien. Man beobachtete sie mit Misstrauen.  Wo das nahe Ende der bestehenden Gesellschaftsordnung thematisiert wird, da wachsen in der Regel die gesellschaftlichen Vorbehalte und Vorurteile aus dem Boden. Nicht nur in der Spätantike.

Und damit zu der Frage: Wie wurde diese hier kurz umrissene, eindeutig minderheitliche Situation der christlichen Gemeinden auf ihre Symbole projiziert? Wie hat sie sich soziomorph abgebildet? – Wenden wir uns mit dieser Frage an die anerkannt größte christliche Autorität des zweiten Jahrhunderts, an Clemens von Alexandria (ca.150 – 211/215).

Dieser Titus Flavius Clemens, wie er mit vollem Namen hieß, war ein griechischer Theologe mit einem lateinischen Namen, der in der ägyptischen Stadt Alexandria eine Katechetenschule leitete. Nun ist es vielleicht kein Zufall, dass die größte ägyptische Stadt am Mittelmeer keine ägyptische, sondern eine griechische Gründung ist. Vielleicht ist es ein bisschen übertrieben, wenn ich sage, die Ägypter hätten vor der Gründung Alexandrias mit dem Rücken zum Meer gelebt, aber ein bisschen Wahrheit ist sicherlich dran. Wir sehen das nur schon, wenn wir den alten ägyptischen Pantheon betrachten. Es gab da zwar eine Unzahl von Göttern, aber – einen Gott des Meeres, einen ägyptischen Poseidon oder Neptunus sucht man vergebens. Das unberechenbare, unermessliche, salzige Meer war für den durchschnittlichen Ägypter fürchterlicher als die dürrste Wüste – eine tote, lebensfeindliche Welt. So lag es denn auch für Clemens nahe, im Meer die perfekte Metapher jener Welt zu erkennen, in der sich die christlichen Gemeinden befanden.

Wie lebten nun die christlichen Gemeinden in dieser Umgebung?


In dem Hymnus, den Clemens an den erwarteten Erlöser gerichtet hat, heißt es wörtlich:

Fischer der Sterblichen
Die retten sich lassen
Aus dem Meer der Bosheit
Der du heilige Fische
Aus feindlicher Flut
Mit süßem Leben hervorlockst.

(Der Erzieher III, Hymnus auf Christus)

Man muss gestehen: Das sind nun doch etwas seltsame Fische, von denen da die Rede ist. Denn normalerweise geht man davon aus, dass sich ein Fisch im Wasser wohl fühlt, das ist sogar sprichwörtlich. Aber für Clemens scheint das anders zu sein. Hier ist der Fisch geradezu froh, wenn er endlich aus dem Wasser, aus dem Meer der Bosheit, gezogen wird. (Der entscheidende Satz steht bei  J. Geffcken: »So standen sich die Feinde gegenüber, beide an Kraft einander fast ebenbürtig.« Der Ausgang des griechisch-römischen Heidentums, Heidelberg, 1920, S. 30)

Ich kann und will hier nicht in extenso über das Fisch-Symbol sprechen. Dafür gibt es genügend Literatur. Hier soll der Hinweis genügen, dass in den römischen Katakomben Fisch-Darstellungen häufiger sind als jede andere; gezählt wurden an die siebzig. Was der Fisch in Japan oder bei den Indianern der amerikanischen Nordwest-Küste bedeutet, ist daneben eine völlig andere Sache. Und das meine ich vor allem als kleine Warnung vor einem unkritischen Gebrauch von Symbol-Lexika.

Es lohnt sich eben immer, ein bisschen genauer hinzuschauen. So könnte man sich z.B. die Frage stellen, an was für eine Art von Fisch Clemens denn eigentlich gedacht hat. Wie sah dieser christliche Fisch für ihn aus?

Im ersten Moment denkt man da natürlich an einen Schwertfisch oder einen Thunfisch oder eher noch an kleinere Fische. (Sprotten, Makrelen, Sardinen, Äschen, Brassen oder Barben.) Aber es könnte auch sein, dass Clemens an so ein Tier gedacht hat:

– also an einen Tintenfisch. Wie es scheint, war der Tintenfisch in der antiken Welt sprichwörtlich für seine metis – also für seine listige Intelligenz. Und die moderne Biologie gibt den alten Griechen in dem Fall sogar Recht. Gedacht war da vor allem an die Fähigkeit des Tintenfischs, sich von Fall zu Fall unsichtbar zu machen. Einerseits durch eine farbliche Anpassung an die Umgebung und andererseits durch seine dunklen Tintenwolken. Das war eine Fähigkeit, die sich in diesen Zeiten auch mancher Christ gewünscht haben dürfte. Ihre Treffen fanden häufig im Schutze der Dunkelheit statt. Also dann, wenn die Nächte tintenschwarz waren. Und was die List betrifft, so hatte ja auch Christus selbst nach Auffassung mancher Kirchenlehrer einiges an List anwenden müssen, um bei seinem Erscheinen in der Welt den Nachstellungen der mächtigen Dämonen zu entgehen. – Dieser Exkurs über den Tintenfisch ist allerdings – wie ich gestehen muss – ein wenig hypothetisch. In der christlichen Symbolik erscheint der Tintenfisch zwar explizit bei Ambrosius, aber das ist erstens bedeutend später und zweitens ist er dort eindeutig negativ besetzt.

Und damit kommen wir zum nächsten Symbol. In seinem »Der Erzieher« genannten Werk gibt Clemens Auskunft darüber, welche Symbole von Christen auf ihren Siegelringen getragen werden dürfen. Neben dem soeben erwähnten Fisch-Symbol gibt er noch vier weitere Symbole an. Zwei davon verweisen noch einmal eindeutig auf das Meer. Nämlich der Anker und das Schiff.

Das Schiff repräsentiert die kleine christliche Gemeinde, wie sie sich auf einem stürmischen, feindlichen Meer ausgesetzt fühlt. Aber auch das zu erwartende Heil steht in Verbindung mit dem Schiff. Für uns ist es völlig klar, dass Clemens bei seinem Schiffs-Symbol an die Fischer am See Genezareth gedacht hat. Auch an Jesus wird er gedacht haben, der einmal vom Schiff aus predigt. Und dann an die gefährlichen Schiffsreisen von Paulus und Lukas. Tatsächlich hat Clemens aber nicht gezögert, auch die Schiffsreisen des Odysseus als eine Paraphrase des Christseins zu deuten. So wie sich die Gefährten des Odysseus die Ohren verstopfen mussten, um nicht den Sirenen zum Opfer zu fallen, so müssen sich auch die Christen die Ohren vor den Lehren der griechischen Philosophen verstopfen.

Und sogar der Gott und Gottessohn Dionysos konnte in dieser Zeit in einem christlichen Sinn verstanden werden, wenn er mit geschwelltem Segel durch die blaue Ägäis fuhr.

Für einen Christen gab es allerdings kein so entspanntes Dahinsegeln wie für Dionysos. Ein Christ durfte erst aufatmen, wenn er vom stürmischen Meer kommend im sicheren Hafen festgemacht hatte. Das ist zumindest das Bild, mit dem der Bischof Cyprian sein persönliches Bekehrungserlebnis im Jahre 246 charakterisiert hat.

Aber es gibt da noch einen anderen Aspekt, der Clemens durch den Kopf gegangen sein dürfte. ›Schiff‹ bedeutete im damaligen Alexandria vor allem eines, nämlich Reichtum. Tatsache ist, dass die Schiffsfahrtsunternehmer, die Reeder, die navicularii oder naukleroi damals in Ägypten zu den geachtetsten, privilegiertesten und reichsten Leuten überhaupt gehörten. Einer von ihnen stiftete der  Christengemeinde in Rom Anfang der vierziger Jahre des zweiten Jahrhunderts 200’000 Sesterzen. Dieses  beträchtliche Kapital/Millionenvermögen erhielt der Mann dann aber zurück, nachdem sich herausgestellt hatte, dass seine Vorstellungen vom Christentum in keiner Weise mit denjenigen der Gemeindemehrheit vereinbar waren. Sein Name war übrigens Marcion und er gilt in der frühen Kirchengeschichte als der große Häretiker schlechthin. Adolf von Harnack hat hingegen die Frage aufgeworfen, ob sich die Linie über die Propheten, Jesus und Paulus »nicht zutreffend nur in Marcion fortsetzt«.

250 – 450

Im Verlauf des dritten Jahrhunderts verändert sich nun die demographische Situation. Das heißt, die christlichen Gemeinden verlassen den reinen Minderheits-Status und werden – nein, noch lange nicht zur Mehrheit – sondern zur Parität.

Genaue Zahlen gibt es nicht, aber man darf davon ausgehen, dass die in den Städten konzentrierten christlichen Gemeinden nunmehr den verschiedenen Gruppierungen der Nicht-Christen durchaus die Stange halten konnten. Man fühlte sich gleichrangig und ebenbürtig. Die anderen Religions- oder Kultgemeinschaften waren keine Bedrohung mehr, wie zuvor, sie bildeten eher eine Herausforderung, der man sich stellen konnte und musste. Für einen Mann wie Augustinus waren die alten Götter immer noch vorhanden und durchaus lebendig.

Wir haben also einen Paradigmenwechsel vor uns. Was das für die christliche Symbolik bedeutet, kann ich leider nicht in seiner ganzen Breite schildern. Ich muss mich auch hier auf einige wenige Aspekte konzentrieren. Einen ersten wichtigen Hinweis finden wir bei Tertullian. Tertullian ist offenbar der erste, der das, was man in den christlichen Gemeinden bisher als mysterion gekannt hatte, nun mit dem lateinischen Wort sacramentum bezeichnet. Das griechische Wort mysterion hatte die Bedeutung "Geheimplan", das lateinische sacramentum stammt hingegen aus der Sprache des Militärs. Sacramentum ist ursprünglich etwas, das ungefähr unserem Fahneneid entspricht.

Das ist nun doch ein ganz neuer Ton. Denn: das Urchristentum war grundsätzlich pazifistisch eingestellt. Ob Justin, Tatian, Athenagoras, Origenes, Cyprian, Arnobius oder Laktanz – sie alle vertraten das Prinzip strengster Gewaltlosigkeit.

Doch nun, in der zweiten Hälfte des dritten Jahrhunderts findet der militärische Jargon offenbar große Verbreitung. Für Bischof Cyprian (gest. 258) (aber auch für Augustinus) ist Christus der Feldherr (imperator), die Märtyrer sind die Offiziere, die Getauften das Fußvolk, die Taufe ein Fahneneid, das Fasten ein Wachestehen und das Kreuz ein Feldzeichen. Kaiser Julians (332–363) Versuch, die ihm verhassten Christen zumindest wieder aus dem Offizierskader zu entfernen, mit der Begründung, ihre Religion verbiete ihnen ja den Kriegsdienst, kam offenbar zu spät. Die Synode von Arles hatte bereits 314 den Beschluss gefasst, Kriegsdienstverweigerer seien zu exkommunizieren.

Nun könnte man hier natürlich einwenden: Diese ganze vom Militärischen inspirierte Symbolik lag ganz einfach im Stil der Zeit. Man muss nur ein wenig in den Annalen eines Septimius Severus oder eines Domitian nachschlagen und man wird unweigerlich sehen, dass die gesellschaftliche Realität der Spätantike zunehmend in militärische Kategorien eingezwängt wurde.

Die gesamte Zivilverwaltung nahm militärische Züge an. Die Beamten wurden zu Offizieren oder Soldaten umfirmiert. Die ganze Zivilverwaltung wurde als militia bezeichnet und man musste extra den Ausdruck militia armata einführen, um weiterhin zwischen ziviler und rein militärischer Verwaltung unterscheiden zu können.

Das ist alles sicherlich richtig und zutreffend. Und doch kann ich den Einwand, die vom Militär inspirierte Symbolik des Christentums hätte ganz einfach dem Zeitgeist entsprochen, nicht wirklich gelten lassen. Denn der Umstand, dass etwas ›in der Zeit liegt‹, lässt es immer noch offen, wie wir uns dieser Situation stellen. Das ursprünglich klar pazifistisch orientierte Christentum hätte diese Kategorien ja nicht akzeptieren müssen. Es hätte nicht so weit gehen müssen, Getaufte, die den Kriegsdienst verweigern, aus der christlichen Gemeinschaft auszustoßen. Wenn es seine ursprünglich pazifistische Haltung aufgegeben und den neuen Sprachgebrauch akzeptiert hat, dann eben auch aus jener soziomorphen Übereinstimmung heraus, deren Grundlagen ich soeben skizziert habe.

Und damit möchte ich zu dem zweiten, nunmehr wirklich zentralen Symbol übergehen, an dem der genannte Einwand auf jeden Fall abprallt. Vielleicht erinnert sich hier noch jemand an den einstigen Kolossalstreifen »Ben Hur«, mit Charlton Heston in der Hauptrolle. Darin gibt es eine Szene, in der der Versammlungsort einer frühchristlichen Gemeinde in Rom zu sehen ist. Und natürlich ist da im Hintergrund ein Kreuz zu sehen. Zwar ist es lediglich ein mit zwei Ästen angedeutetes, aber es ist zweifellos ein Kreuz. Diese Darstellung ist nun aber, wie man mit einiger Sicherheit festhalten darf, absolut unhistorisch. Nicht einmal Clemens, der ja rund 150 Jahre nach diesem fiktiven Ereignis lebt, hat das Kreuz als christliches Symbol erwähnt.  Zwar – das Kreuzschlagen als eine herkömmliche, die Dämonen abwehrende Geste, wird relativ früh bezeugt, aber was konkrete Kreuzeszeichen betrifft, so äußert sich selbst das Lexikon für Theologie und Kirche sehr zurückhaltend.

Wenn man sich die Aufgabe stellen würde, ein Symbol zu schaffen, das als wichtigste Aussage die exakt definierte Begegnung zweier Richtungen zum Ausdruck bringt, dann könnte dieses Zeichen nur ein Kreuz sein. Zwei Richtungen, zwei Welten, zwei Haltungen zum Heil stoßen aufeinander und überschneiden sich in einem Punkt.  Der Soziologe G. Simmel sprach einmal von der »Kreuzung sozialer Kreise« – das könnte man sich dann etwa so vorstellen.

Das Kreuz ist zunächst der bildliche Ausdruck für ein ›Übers-Kreuz-Sein‹ und ein ›Durchkreuzen‹ aller fremden Intentionen. Das Kreuz signalisiert Kampf, aber zugleich auch eine sehr genau definierte, punktuelle Übereinstimmung oder – wenn wir an das Schweizerkreuz denken – ein gegenseitig festgelegtes Übereinkommen von Gleichberechtigten. Eine verbreitete frühchristliche Überlieferung drückt diese Ambivalenz sehr schön aus, wenn sie sagt, der senkrechte Arm des Kreuzes verjage die Dämonen, während der waagerechte Arm die Verstreuten sammle.

Mit dem bekannten römischen Marterinstrument hat dieses Kreuz nur eine sehr äußerlich zu nennende Ähnlichkeit. Man könnte sagen, dass sich die beiden Kreuze, das hölzerne und das symbolische, in einem bestimmten historischen Moment begegnen, sie kommen übereinander zur Deckung. Der Zeitpunkt ihrer Verschmelzung stimmt dabei ungefähr überein mit der legendären Entdeckung des so genannten wahren Kreuzes durch Helena, die Mutter Konstantins, die sich angeblich im Jahre 326 ereignete. – Besser kann eine Legende wohl kaum datieren.

Aber nicht nur zeitliche Aussagen lassen sich den verschiedenen Kreuz-Symbolen entnehmen, sondern auch räumliche. Wenn wir daran denken, dass sich die Ausbreitung des Christentums in Richtung Norden bekanntlich sehr langsam vollzogen hat. Zwischen dem Toleranzedikt Konstantins und der Taufe des Sachsenkönigs Widukind liegen immerhin 472 Jahre – also fast ein halbes Jahrtausend. Während das Christentum im Mittelmeerraum bereits zur Religion der Mehrheit aufgerückt war, war man weiter nördlich auch zweihundert bis dreihundert Jahre später immer noch auf dem Niveau, das ich mit diesem Schema charakterisiert hatte.

Und was ist nun das? –

Das sieht fast so aus, als hätte jemand eine schematische Darstellung von Simmels »Kreuzung sozialer Kreise« entwerfen wollen. Tatsächlich sahen zwischen 750 und 825 im keltisch-germanischen Raum rund 30 Prozent aller getragenen Gewand-Fibeln so aus.
Schließlich gelangen wir von der späten Antike in die Übergangsphase zum
Mittelalter.

550 – 1517

Hier ist das Christentum, die doctrina christiana, die alles übergreifende und umfassende Lehre. Die Auffassung der großen, der überwiegenden Mehrheit. Ich will mich hier auf eine einzige Soziomorphie beschränken, die das verdeutlichen soll.

Bitte halten sie diese Kugel nicht für ein Symbol unserer Erdkugel, hier ist nicht der Planet Erde gemeint, sondern es handelt sich um eine symbolische Darstellung des gesamten Kosmos. Dieser durch die vereinheitlichende Kultur des Hellenismus erlebte Kosmos kann nur als perfekte, in sich geschlossene, sich selber genügende Form begriffen werden. Die Erde, auf der wir leben, war hingegen flach wie ein Spiegelei. Daran ändert sich auch mit dem Sieg des Christentums nichts. Im Gegenteil: Laktanz, Tertullian und Augustinus spotteten über die völlig abstruse Idee, die uns bekannte Erde könnte auch eine bewohnte Unterseite haben. Womit sie vor allem die noch bestehenden heidnischen Philosophenschulen in globo ins Lächerliche ziehen wollten.

Keinen Einwand gab es hingegen, wenn sich das römische Imperium als perfekte Kugel darstellte, als die imperiale Kosmos-Kugel. Und das erklärt uns auch, warum sich hier ein so völlig reibungsloser Übergang vollzogen hat. Die kirchliche Administration beerbte die staatliche. Die Diozösen wurden zu Verwaltungseinheiten. Wir haben z.B. diese Kosmoskugel aus dem 5.Jahrhundert (vermutlich), die von einer Victoria, gekrönt ist, die ihrerseits einen Siegerkranz emporhält. Zweifellos ein symbolischer Ausdruck für den Anspruch des imperium romanum auf die Weltherrschaft.

Und wir haben diese etwa zeitgleiche Darstellung einer byzantinischen Kaiserin, die eine Kosmoskugel trägt, die bereits von einem (griechischen) Kreuz gekrönt ist. Sinnbild eines christlichen Imperiums und der Prototyp des kaiserlichen Reichsapfels des Mittelalters.

Aus dem Anfang des folgenden Jahrhunderts stammt auch dieses überaus kunstvolle Elfenbein-Relief des heiligen Michael. (Datiert auf ca. 518, British Museum, London)

 

Ich hoffe, ich konnte Ihnen einen gewissen Einblick vermitteln in das, was ich unter soziomorphen Projektionen verstehe. Seine eigentliche Daseinsberechtigung erlangt ein Wort erst dann, wenn es tatsächlich einen Erkenntnisgewinn und einen Wissenszuwachs ermöglicht. Und was diese Frage betrifft, so glaube ich zuversichtlich, sie bejahen zu dürfen. Wenn wir an einem Symbol ablesen können, ob dahinter eine kleine Minderheit, eine Parität oder eine große Mehrheit steht, dann ist das ein Wissenszuwachs. Wenn wir überall dort, wo wir auf ein Kreuz-Symbol stoßen, auf zwei oder mehr in etwa gleichrangige soziale Körper schließen dürfen, die sich in einer kritischen Auseinandersetzung und/oder einer genauen Verständigung befinden, dann ist das ein nicht unbeträchtlicher Erkenntnisgewinn.

Literatur:

Rudolf Bultmann: Das Urchristentum im Rahmen der antiken Relgionen, Zürich: Aremis 1949.

Reinhard Feldmeier: Die Christen als Fremde, Die Metapher der Fremde in der antiken Welt , in Urchristentum und im 1. Petrusbrief, Tübingen: Mohr 1992.

Olof Gigon: Die Antike Kultur und das Christentum, Gütersloh: Mohr 1966.

Adolf von Harnack: Militia Christi – die christlicheReligion und der Soldatenstand in den ersten drei Jahrhunderten, Tübingen 1905.

Andreas Hebestreit: Die Vielen, die Wenigen und die Anderen, Münster: Votum-Verlag 1995.

Tonio Hölscher: Victoria Romana, Mainz: von Zabern 1967.

Otto Kaiser: Die mythische Bedeutung des Meeres in Ägypten, Ugarit und Israel. Berlin: töpelmann 1959.

Eric Peterson: Christus als Imperator, in Catholica 5 (1936), S. 64–72.

Hugo Rahner: Symbole der Kirche, Salzburg: Müller 1964.

Albert E. Fr. Schäffle: Bau und Leben des sozialen Körpers. Encyclopädischer Entwurf einer realen Anatomie, Physiologie und Psychologie der menschlichen Gesellschaft mit besonderer Rücksicht auf die Volkswirthschaft als socialen Stoffwechsel 4 Bde.,Tübingen: Laupp 1875–78.

Percy Ernst Schramm: Sphaira - Globus - Reichsapfel. Wanderung und Wandlung eines Herrschaftszeichens von Caesar bis zu Elisabeth II. Ein Beitrag zum ›Nachleben‹ d. Antike, Stuttgart: Hiersemann 1958.

Sven Spiong: Auf der Suche nach Identität, Fibeln und Gewandnadeln als Indikatoren, in: Stefan Burmeister / Nils Müller-Scheeßel (Hgg.) Soziale Gruppen – kulturelle Grenzen, Die Interpretation sozialer Identitäten in der Prähistorischen Archäologie, Münster: Waxmann 2006. (bes. S. 282)

 

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