Schräge Para//e\en

Überbietungen – Rekreationen – Variationen – Überblendungen u.dgl.

 

Symbole (und noch enger gefasst: Allegorien) verweisen von einer Welt modell-haft auf eine andere. Dabei werden Strukturen und Eigenschaften des Signifié aufs Signifiant abgebildet. Immer bleiben Inkongurenzen, die aber ausgeblendet werden. — Es gibt auch Formen, wo die Element-für-Element-Bezüge zwar zwecks Erkennbarkeit gesetzt sind, aber zusätzlich irgendwie irritierend wirkende Merkmale eingebracht.

Das Motiv, die Struktur, das Handlungsschema wird übernommen und dabei neu geformt: mit sinnfälligen Änderungen, ernst oder witzig, schräg.

Transformationstechniken / Medien:

  • in der Literatur: Parodie und Kontrafaktur; Adaptation courtoise
  • im Medium Bild: Karikatur; …
  • in der Musik: Kontrafaktur (Melodie übernommen; neuer Text dazu)
  • .....

Leitfrage: Welche neue Aussage entsteht so?

  • Die Ausgangs-Gestalt kann als Autorität eingeschätzt werden, die man noch überbieten will;
  • oder als roh und stümpferhaft, was man verbessern möchte;
  • oder als altmodisch, was man aufdatieren möchte;
  • als Wesen, das man karikierend veräppeln will;
  • oft auch wird die \\/// eher spaßeshalber spielerisch verfertigt:

Eine bunte Ideen-Sammlung:

 

➜ Das Verkehrte-Welt-Motiv:

Des abenteuerlichen Simplicii verkehrte Welt. Nicht/ wie es scheinet/ dem Leser allein zur Lust und Kurtzweil: Sondern auch zu dessen aufferbaulichem Nutz annehmlich entworffen von Simon Lengfrisch võ Hartenfels*. Gedruckt im Jahr 1672.
*) Anagramm für Hans Jakob Christoffel von Grimmelshausen

Titul-Kupfers Erklärung

Der Hirsch den kühnen Jäger legt /
Der Ochs manchmahl den Metzger schlägt /
Der Arm dem Reichen Steuer trägt /
Zur Arbeit der Soldat sich regt /
Der Bauer in Waffen sich bewegt /
Solch Ding die Welt zu üben pflegt.

https://www.projekt-gutenberg.org/grimmels/verkwelt/verkwelt.html

➜ Die Laokoongruppe als Affen

Die Laokoongruppe wurde am 14. Januar 1506 in Rom wiedergefunden. Die zugrundeliegende Szene wird geschildert von Vergil: Laokoon mahnt die Trojaner, dem Pferd der Griechen nicht zu trauen (timeo Danaos et dona ferentes), dann kommen Schlangen aus dem Meer und bringen ihn und seine Söhne um (Aeneis II,200–233): et primum parva duorum corpora natorum serpens amplexus uterque implicat.

Vgl. die frühen Stiche von Marco Dente (* um 1490 in Ravenna; † 1527 in Rom) um 1520
> https://de.wikipedia.org/wiki/Marco_Dente und https://en.wikipedia.org/wiki/Marco_Dente

sowie Federico Zuccaro (ca. 1542 – 1609) beim ehrfürchtigen Abzeichnen der Plastik:

> http://www.wga.hu/frames-e.html?/html/z/zuccaro/federico/index.html

Irgendwann taucht dieser nicht signierte Holzschnitt auf:

Quelle: British Museum > http://tinyurl.com/y6knvtko

Die wahrscheinlichste Deutung der Karikatur stammt von H.W.Janson (1913–1982), dem besten Kenner der Affen-Ikonographie: Horst W. Janson, Apes and ape lore in the Middle Ages and Renaissance, (Studies of the Warburg Institute 20), London 1952; Appendix, pp. 355–369

In Kürze: Andreas Vesalius (1514–1564) hatte bei Obduktionen festgestellt, dass die anatomischen Angaben beim antiken Arzt Galen (2. Jh. u.Z.) nicht stimmen konnten und offenbar an Affen gewonnen wurden. Das Bild besagt: So sähen die antiken Kunstwerke aus, wenn die damaligen Künstler die Anatomie nach Affen studiert hätten.

Vesals »De Humani Corporis Fabrica« erschien 1543.

Ausführlicheres dazu hier als PDF zum Download

Die Laokoongruppe wurde und wird häufig für Karikaturen verwendet, vgl. z.Bsp.: Udo Reinhardt, Das letzte von Laokoon. Die neueste Rezeption in Kunst, Karikatur und Werbung > https://www.archaeologie-sachbuch.de/....Texte/Reinhardt1.htm

Die Laokoongruppe als Warnendes Beispiel zeichnete Erich Ohser (1903–1944; Künstlername e.o.plauen) in einem seiner Bücher »Vater und Sohn« (hier aus der Ausgabe München: Südverlag 1952):

Adynaton

> https://wortwuchs.net/stilmittel/adynaton

Der künftige Friedenskönig und sein Reich (Jesaja 11, 6–9):

Dann wird der Wolf zu Gast sein bei dem Lamme und der Panther bei dem Böcklein lagern. Das Kalb, der Löwe und das Schaf weiden beieinander, und ein kleiner Knabe leitet sie. Die Kuh und der Bär werden sich befreunden, und ihre Jungen werden zusammen lagern; der Löwe wird Stroh fressen wie das Rind. Der Säugling wird spielen an dem Loch der Otter, und nach der Höhle der Natter streckt das kleine Kind die Hand aus. Nichts Böses und nichts Verderbliches wird man tun auf meinem ganzen heiligen Berge; denn voll ist das Land von Erkenntnis des Herrn, wie von Wassern, die das Meer bedecken.

Horaz (Epoden, XVI) rät den römischen Bürgern im zweiten Jahr des Bürgerkriegs, in ein glücklicheres Land auszuwandern :

Doch lasst uns dies beschwören: Erst wenn die Felsen aus dem tiefen Meeresgrund nach oben schwimmen, soll die Rückkehr kein Vergehen sein; und dann erst seien wir bereit, die Segel nach der Heimat umzudrehn, wenn der Po den Gipfel des Matinerbergs bespült, wenn der hohe Apennin ins Meer hinabspringt und ein wunderlicher Trieb die wilden Tiere zu ungewohnter Liebeslust vereint, derart dass die Tigerweibchen sich den Hirschen ducken, dass die Taube und die Weihe miteinander Unzucht treiben, wenn die Rinder ohne Angst den wilden Löwen trauen und der unbehaarte Bock die salzige Meerflut liebt. Dies, und was sonst noch die ersehnte Rückkehr verhindern kann, wollen wir beschwören.

Vergil (Ecloga I, 59–63):

Tityrus: Ante leves ergo pascentur in aethere cervi ::: Eher werden also die behenden Hirsche im Äther weiden und das Meer die Fische nackt auf dem Strand ablegen, eher wird nach langem Umherirren der Parther als Flüchtling aus der Saône oder Germanien aus dem Tigris trinken, als dass in meinem Herzen sein [eines jungen Mannes, der im Text nicht genannt wird] Gesicht verblasst.

Paul Fleming (1609–1640), aus »Sehnsucht nach Elsgen«:

Es möchte müglich sein zu messen
Die Flut der Kasper-See,
zu zählen, wie viel Bienen essen
von Hyblens süßem Klee,
[eine Klee-Art aus Sizilien]
nur meine Pein, ein Ding auf aller Erden
kann nicht gezählt, kann nicht gemessen werden.

Ähnlich:


 

➜ Satire

Lucas Cranach d.Ä. (1472–1553) setzt die Szene des demütig auf einer Eselin in Jerusalem einreitenden Jesus (Matthäus 21, 1ff.) derjenigen der prunkvoll einherreitenden katholischen Geistlichkeit (erkennbar der Papst, ein Kardinal, ein Bischof) gegenüber, die auf die Hölle zureiten:

Passional Christi und Antichristi, Wittenberg 1521.
> http://daten.digitale-sammlungen.de/~db/0002/b
sb00027007/images/

Studie dazu (aus katholischer Sicht): Hartmann Grisar S.J. / Franz Heege S.J., Luthers Kampfbilder, I. Passional Christi und Antichristi, Freiburg im Breisgau 1921.

Noch so eines aus der zweiten Hälfte des 16.Jhs.:

Der Herr auff einem armen Thier/
    Der Knecht in höchstem pracht und Zier
Der Herr tregt auff ein thörnin Kron/
    Der Knecht ein Guldin dryfach schon.

Paul Drews, Der evangelische Geistliche in der deutschen Vergangenheit, mit 110 Abbildungen und Beilagen nach Originalen, größtenteils aus dem fünfzehnten bis achtzehnten Jahrhundert 1905. (Monographien zur deutschen Kulturgeschichte Band 12), Abb. 7

➜ Typologische Bezüge von Szenen zwischen dem Altem und dem Neuen Testament. Die AT und NT Ereignisse haben Parallelen; jedoch sind die alttestamentlichen als Prophezeiungen der neutestamentlichen zu verstehen.

links: Entrückung des Enoch (Genesis 5, 24)
rechts: Himmelfahrt des Elia (2 Könige = 4 Reg. 2, 11–12)
im Medaillon in der Mitte: Christi Himmelfahrt (Apostelgeschichte 1,9–11)

Biblia Pauperum Codex Pal. Lat. 871, Fol. 18v, Ausschnitt; Reprod. mit Transkription der Texte von Heike Drechsler, Stuttgart: Belser 1995.

Mehr zur Typologie hier

 

Eulenspiegels schräge Parallelen zum Sprachgebrauch seiner Opfer

Gryllus (Tierkarikatur):

Aeneas mit Anchises und Ascanius als Kynokephaloi (Hundsköpfige) auf der Flucht aus dem brennenden Troja (Wandmalerei in Pompei):

Umzeichnung in: A. Springer, Handbuch der Kunstgeschichte, I: Altertum, 9. Auflage, Leipzig 1911, Abb. 718. — Vgl. das antike Relief (Fundort Ungarn): F. und O. Harl, Ubi Erat Lupa > http://lupa.at/5921

Textgrundlage ist: Vergil, »Aeneis«, II, Verse 720ff. — Und so hat sich das Raffael vorgestellt:

Umzeichnung als Mezzotinto von Ugo da Carpi 1518
> https://albert.rct.uk/collections/raphael-collection/mythology-putti/aeneas-and-anchises-0

Politische Umdeutung

So würde Tell in unseren Tagen handeln:

Bildunterschrift: Zur Montage wurde das Bild des großen Schweizer Malers Ferdinand Hodler “Der Holzfäller” benutzt. Auf der Stange der Geßlerhut, Modell 1937.

John Heartfield (1891–1968) in: Volks-Illustrierte Nr. 47, 24.11.1937

> https://heartfield.adk.de/node/4973

Batrachomyomachia

Die Umsetzung der homerischen »Ilias« in einen Froschmäusekrieg ist ein harmloser literarischer Scherz.

Hier ein Ausschnitt aus der Fassung von Roland Wiegran:

Die Ansprache, recht klug gehalten,
ließ die jungen wie die alten
Frösche stolz vor Mut sich brüsten.
Dann begann man sich zu rüsten.
Der langen Rede kurzer Sinn!
Das Volk rannt’ zu den Waffen hin.

Um zu vermeiden großen Schaden,
band man sich Schilfrohr um die Waden.
Die Krieger, legten selbstbewusst,
sich nun Panzer um die Brust,
die, was man am Teiche hatt’,
man fertigte aus Mangoldblatt.

Das war dafür geeignet gut.
Aus Muschelschale ward der Hut,
aus echtem Perlmutt so gemacht
dass er, vor Schlägen in der Schlacht,
den Kopf des Kriegers schützen sollte,
den keiner gern verlieren wollte.
Als Schild, gewölbt, nach innen hohl,
dienten Blätter frisch vom Kohl.
Sie sollten, weil recht zäh sie waren,
die Frösch‘ im Kampf davor bewahren,
dass des Gegners Lanzenstich
eindringt, das wär’ fürchterlich, in den grünen Wanst, o je,
so wusste jeder, das tut weh.
Die eig’ne Lanze, für die Schlacht,
wurde aus Binsenrohr gemacht,
welches gut acht Ellen maß,
worauf ein Rohrkolbenspitz saß.

Das Ganze auf > http://www.wiegran.de/batrachomyomachia.htm

Es gibt viele Übersetzungen, u.a. von von Thassilo von Scheffer, München: Heimeran 1941.

Griech./dt. Text parallel mit der Übers. von Fabian Zogg in: Manuel Baumbach, Horst Sitta, Fabian Zogg Griechische Kleinepik, de Gryuter 2019 (Sammlung Tusculum), S. 76 – 97.

 

➜Karikatur von Napoléon III (1808–1873):

  

links: Portrait von Frédéric Adolphe Yvon (1817–1893)
rechts: Karikatur von Paul Hadol (1835-–1875) in »La Ménagerie impériale« und hier

➜ Penelope am Webstuhl

Après avoir lu Télémaque, L'Iliade et L'Odyssée … Honoré Daumier (1808–1879) entreprend une suite de cinquante lithographies (publiées dans Le Charivari, entre décembre 1841 et janvier 1843), consacrées à l'histoire et à la mythologie antiques. La caricature, alliée à la parodie, lui permet de tourner en dérision tout l'arsenal conventionnel de l'académisme de la peinture néo-classique.

Les nuits de Penelope
> http://expositions.bnf.fr/daumier/grand/034.htm
> http://arts.mythologica.fr/artist-d/daumier.htm

Zum Vergleich die antike Darstellung im Museo archeologico nazionale, Chiusi

Flornithology von Robert Williams Wood (Experimentalphysiker, 1868–1955)

How To Tell The Birds From The Flowers: A Manual of Flornithology for Beginners Written and illustrated by Robert Williams Wood, Paul Elder & Co. (San Francisco and New York) 1907
> https://archive.org/details/howtotellbirdsf00compgoog/page/n5/mode/2up

https://en.wikipedia.org/wiki/Robert_W._Wood

Erweiterte Edition 1917
> https://archive.org/details/cu31924027175268/page/n7/mode/2up

»Innsbruck, ich muss dich lassen« — Kontrafaktur

1539 christlich geändert

Innsbruck, ich muss dich lassen,
ich fahr dahin mein Straßen
in fremde Land dahin.
Mein Freud ist mir genommen,
die ich nit weiß bekommen,
wo ich im Elend bin.

O welt, ich muß dich laßen
und far dahin mein straßen
ins vaterland hinein.
irdisch freud ist mir gnommen,
die ich nit mer bger zu bekommen,
weil ich in elend bin.

Groß Leid muss ich jetzt tragen,
dass ich allein tu klagen
dem liebsten Buhlen mein.
Ach Lieb, nun lass mich Armen
im Herzen dein erbarmen,
dass ich muss dannen sein.

Groß leid muß ich jetzt tragen,
das ich allein tu klagen
dem liebsten herren mein:
ach Got, nu laß mich armen
im herzen dein erbarmen,
weil ich so arm muß sein!

Mein Trost ob allen Weiben,
dein tu ich ewig bleiben,
stet, treu, der Ehren fromm.
Nun muss dich Gott bewahren,
in aller Tugend sparen, bis dass ich wiederkomm.
Mein trost in allen leiden,
von dir sol mich nicht scheiden
kein not in diser welt,
kein armut sein so schwere,
mein sin und all mein bgere
zu dir allein gestellt.

➜ Das »Evangelium secundum marcam argenti« (Carmina Burana Nr. 44); eine Satire auf die Herrschaft des Gelds in der Kirche aus der 2. Hälfte des 12. Jhs.; zusammengestoppelt aus — Bibelzitaten !

Carmina Burana. Texte und Übersetzungen [und Kommentare] , hrsg. von Benedikt Konrad Vollmann Bibliothek des Mittelalters, Band 13, Frankfurt am Main, 1987 ( Deutscher Klassiker-Verlag im Taschenbuch Bd. 49). Nr. 44

➜ Die Bibel nacherzählt mit lauter Vergilzitaten: der sog »Cento« (Flickengedicht) der Dichterin Proba (2. Hälfte des 4. Jhs.)

Boccaccio in »De mulieribus claris« (Kap. 97) schreibt über Proba: Als sie die Werke Vergils wieder einmal – vielleicht scharfsinniger und aufmerksamer – las, kam ihr die Idee, man könne sie dazu verwenden, in gefällig-leichten und kraftvollen Versen (placido atque expedito et succipleno versu) die gesamte Geschichte des alten und neuen Testaments zu schreiben.

Hier ein Probe-Stück (Geburt Jesu) als PDF zum Download (Zusammengestellt noch vor der Publikation von Wolfgang Fels:)

Faltonia Betitia Proba: Die Heilige Schrift kurz erzählt mit den Worten des Vergil - Cento Vergilianus. Übersetzt und kommentiert von Wolfgang Fels. Mit einem einleitenden Essay von Katharina Greschat (= Bibliothek der Mittellateinischen Literatur, Band 13). Hiersemann, Stuttgart 2017.

Proba hier am Werk; man erkennt deutlich die Cento-Technik (!):

The Morgan Museum NY, MS M.381 fol. 60r (ca. 1460)
> http://ica.themorgan.org/manuscript/page/40/76925

Ein ähnlicher, heidnisch-antike Zitate für christliche Aussagen verwendender Text ist »Christias« von Marcus Hieronymus Vida [ca. 1485 – 1566]:

Eva von Contzen, Reinhold F. Glei, Wolfgang Polleichtner, Michael Schulze Roberg (Hgg.): Marcus Hieronymus Vida: Christias, Wissenschaftlicher Verlag Trier 2013 (= Bochumer Altertumswissenschaftliches Colloquium, Bände 91 und 92).
(Kritische Edition, Quellennachweise, deutsche Übersetzung und Kommentar)

Palinodie (?) — Umformung eines weltlichen Gedichts / Anlasses in einen mystagogischen Text. Beispiele:

• Das Badliedli Woluff, im geist gon Baden!

• Murners Badenfahrt:

Thomas Murner, Ein andechtig geistliche Badenfart/ des hochgelerten Herren Thomas murner/ der heiligen geschrifft doctor barfüser orden/ zuo Straßburg in dem bad erdicht/ gelert vnd vngelerten nutzlich zu bredigen vnd zu lesen. Straßburg: Johannes Grüninger 1514.
> bei GoogleBooks
> http://daten.digitale-sammlungen.de/bsb00083105/image_5

Hauptmann Hammer und Josef

Urs Josef Hammer (1779–1843) hatte ein bewegtes Leben; er stand 25 Jahre lang in fremden Diensten. (Vgl. Jules Pfluger in: Jurablätter, 52.Jahrgang / Heft 4, April 1990.)

Die satirische »Kurze und faßliche Beschreibung der Lebensgeschichte meines Herrn Vetters«, erschien im »Schweizerischen Bilderkalender für das Jahr 1839«, S.31–36; der Text stammt von von Peter Felber (1805–1872; tatsächlich verwandt mit Hammer) / die Bilder hat Martin Disteli (1802–1844) als Federlitho realisiert. (Im Kalender für 1846 erscheinen S. 34–37 Die letzten vier Kapitel).
Digitalisat > http://doc.rero.ch/record/209269

Der Text zum Bild:

Daneben hatte Keiner seiner Mitsoldaten die Knöpfe so blank geputzt wie er, und hatte er die Polizeimütze auf's linke Ohr gesetzt, so sah gar manches Mädchen mit gierigen Augen auf den gattlichen [= für eine Liasion passenden] Soldaten, auf den wohl genährten runden Kreuzwirthssohn von Egerkingen. Nicht ohne Gründe sagt daher mein Vetter (siehe Figura Nro. 1): „Das ist bi Gott selb mol ne G'spaß gsy.”

(Hammer zieht mit Teresina nach Italien und blufft vor ihr mit seinen bisherigen Taten. Er war 1806–1811 in französischen Diensten und machte Kriegszüge in Italien mit.)

Das Alles scheint dein üppigen Mädchen nichts Neues zu seyn und sie hört ihm mit südlicher Bequemlichkeit zu, während das Hündchen, das mein Vetter damals immer mit sich führte, seine ungeduldige Eifersucht laut werden läßt.

Raffe dich auf, Krieger! Ein höheres Ziel ist dir gesteckt! — Und wirklich, er raffte sich auf aus dieser und mancher anderen Gefahr; wirklich, er floh, wie Joseph aus den Händen der Putipharin, aber klüger als Joseph, ließ er niemals den Mantel dahinten.

Das Bild zeigt den bramarbasierenden Hauptmann unter dem Bild mit der Szene, wo Josef vor Potifars Weib flieht (1.Moses 39,12: da ergriff sie ihn bei seinem Gewand und sagte: Liege bei mir! Er aber ließ sein Gewand in ihrer Hand, floh und lief hinaus.)

Detail:

Vorgeschwebt hat Disteli ein Bild dieser Szene evtl. aus einer Bilderbibel — eine schräge Parallele:

Biblische Figuren des Alten und Newen Testaments gantz künstlich gerissen. Durch den weitberhümpten Vergilium Solis zu Nürnberg (1562)

Und hier noch eine Variante des Motivs:

Karl Friedrich Flögel (1729–1788): Flögel’s Geschichte des Grotesk-Komischen, neu bearbeitet und erweitert von F.W.Ebeling, Leipzig 1862; 5.Auflage 1887.
> https://archive.org/details/floegelsgeschich00flog/page/n8/mode/1up

A B C zwei mal

Allerliebsts
Beschaidens
Czuckersüß
Durchgepreyßts
Erentreichs
Frölichs
Güttigs
Hochgelobts
Immertröstlichs
Kind!
Lustliche
Maget!
Natürliche
Obroste
Pietterin!
Quick!
Rainclicher
Schatz!
Triulichs
Versenen!
Xps [Christus]
Yesus
Zerbräch dir alles leiden!

Abgefaymbte,
Bübische,
Czupringerin!
Durchgesottene
Erenlose
Falsche
Giftige
Huor!
Inhitzige
Krotensack!
Lebersüchtige
Morderin!
Nasenstinckende,
Orenlose,
Pfäffische
Quattrerin! *
Rotzige
Schwätzerin!
Trostlose
Verschmächerin
Xpi,
Ymmer vnd ymmer
Ze schelten!

*) Iterativbildung zu mhd. queden = reden

Aus dem sog. Liederbuch der Clara Hätzlerin (1452–1476 nachweisbar); hg. Carl Haltaus, (Bibliothek der gesammten deutschen National-Literatur), Quedlinburg/Leipzig, 1840.

Zur Gattung der Abecedarien vgl. Joseph Kiermeier-Debre / Fritz Franz Vogel, Poetisches AbracadabraN euestes ABC- und Lesebüchlein, München: Dt. Taschenbuch-Verlag 1992 (dtv 2305); hier S. 102.

Bildersteine

Athanasius Kircher zeigt – nebst solchen, die wir heutzutage als Versteinerungen wirklicher Tiere ansehen – Bilder, die man in Steinen gefunden hat:

Figurae volucrum, quas natura in lapidibus depinxit …

Athanasii Kircheri E Soc. Jesu Mundus Subterraneus: in XII Libros digestus […], Amstelodami : apud Ioannem Ianssonium & Elizeum Weyerstraten, 1664; Band 2, pag.35
> https://www.digitale-sammlungen.de/de/view/bsb10806648?page=49
> https://www.e-rara.ch/zut/content/zoom/4411545

Signaturen-Lehre

Aufgrund korrespondierender morphologischer Ähnlichkeiten wurden Pflanzen Heilkräfte für bestimmte Organe zugeschrieben:

Giambattista Della Porta (1535–1615), Phytognomonica

   

Phytognomonica. Io. Baptistae Portae Neap. Octo libris contenta. In quibus noua, facillimaque affertur methodus, qua plantarum, animalium, metallorum, rerum denique omnium ex prima extimae faciei inspectione quiuis abditas vires assequatur. Accedunt ad haec confirmanda infinita propemodum selectiora secreta, Neapoli 1588
> https://archive.org/details/bub_gb_rpEOJ68g8vUC/page/n172/mode/1up

Hier nach der Ausgabe Francofurti: apud Ioannem Wechelum & Petrum Fischerum 1591.
> https://archive.org/details/phytognomonicai00fiscgoog/page/n231/mode/1up
> https://www.e-rara.ch/zut/content/titleinfo/12265319

Wolfgang Ambrosius Fabricius (1625–1653)

Stirpium aliquot partes nonnullas Corporis humani figuris externis repræsentantium.

Wolfgang Ambrosius Fabricius, Ἀπορημα βοτανικον [Aporêma botanikon], de Signaturis Plantarum, Norimbergæ: Wolfgang Endter 1653.
> https://gdz.sub.uni-goettingen.de/id/PPN594723604

Beizuiehen wäre:

Oswaldus Crollius: De signaturis internis rerum. Die lateinische Editio princeps (1609) und die deutsche Erstübersetzung (1623). Hg. und eingeleitet von Wilhelm Kühlmann und Joachim Telle. (= Oswaldus Crollius. Ausgewählte Werke. Bd. 1.), Stuttgart 1996. — Einleitung der Hgg..

Guido Jüttner, Die Signatur in der Pflanzenabbildung, in: Pharmazeutische Zeitung 116 (1971) S. 1998–2001.

Physiognomie

Giambattista Della Porta (1535–1615), »De humana physiognomia« 1558 (und weitere Auflagen)

Menschen mit kleinen Ohren werden nicht allein für vnverständig vnd närrisch/ sondern auch für Mörder vnd vnkeusche Leute gehalten.

Vgl. > http://www.enzyklopaedie.ch/dokumente/Temperamente&Emotionen.html#dellaporta

Mehr dazu auf www.enzyklopaedie.ch/dokumente/Temperamente&Emotionen.html#dellaporta

Johann Caspar Lavater (1741–1801) bezieht sich auf Giambattista Della Porta:

Bei der Ähnlichkeit der Gesichter von Affe und Mensch würde man dem Charakter des Menschen viel Aeffisches zutrauen — einen grossen Grad von Seelenlosigkeit, Untheilnehmung, Unherzlichkeit — Allein man hüte sich sehr um dieser allenfalls auffallenden, gewiß in der Natur nicht gegründeten — Aehnlichkeit willen, die Charaktere durchaus ähnlich zu glauben.

J.C. Lavaters physiognomische Fragmente zur Beförderung der Menschenkenntniss und Menschenliebe, verkürzt herausgegeben von Johann Michael Armbruster, Winterthur, in Verlag Heinrich Steiners und Compagnie, Winterthur, 3 Bände 1783 / 1784 / 1787; Band 2, Kapitel IX,D: Aehnlichkeit der Menschen- und Thier-Physiognomien, S. 153ff.

Ohne Anspruch auf Erkenntnis der Psyche zeigt Heinrich Schaumann 1869 solche Parallelen unter dem Titel Gleich und Gleich in den »Deutschen Bilderbogen für Jung und Alt«, Nummer 113 (Verlag Gustav Weise in Stuttgart; Preis: 1 Groschen, color. 2 Groschen). Hier 2 von 16 Paaren:

➜ Vom Frosch zum Apoll

J. K. Lavater meditierte auch über Sur les Lignes d’Animalité: Essai sur la physiognomonie, destiné à faire connoître l'homme et à le faire aimer. Par Jean Gaspar Lavater; Quatrième Partie; La Haye: van Cleef 1803; in den Tafeln nach S. 322 tstehen dazu 24 kleine Kupfer, die den Übergang vom Frosch zum Apoll darstellen > https://gallica.bnf.fr/ark:/12148/bpt6k5606388p/f400.item

Diese Tafeln wurden bald darauf kopiert: Gradation de la tête de grenouille jusqu'au profil d'Apollon d'après les idées du célèbre Lavater
> https://www.britishmuseum.org/collection/object/P_2010-7054-5
> https://www.loc.gov/item/2013646654/

Daher hat wohl Grandville (1803–1847) die Idee für seine Darstellung im Magasin Pittoresque 1844, p.272, wo der Übergang geschieht au moyen d’une inclinaison de plus en plu sensible de la ligne…

Grandville hat die schrägen Parallelen zwischen Tier und Mensch in seinem Buch Scènes De La Vie Privée Et Publique Des Animaux. Études De Mœurs Contemporaines, […], Paris: J. Hetzel Et Paulin, Éditeurs 1842 breit ausgemalt:

Der Poet Kacatogan in »Histoire d’un merle blanc«.

> https://archive.org/details/ScenesViePriveeAnimauxBnf01/page/n25/mode/2up

Vgl. Bilder aus dem Staats- und Familienleben der Thiere, hg. August Diezmann, Leipzig: Teubner, 1846. Neuausgabe mit Nachwort von Karl Riha (insel taschenbuch 214) 1976.

➜ Verzerrte Proportionen

Albrecht Dürer, Hierinn sind begriffen vier bücher von menschlicher Proportion durch Albrechten Dürer von Nürenberg erfunden und beschriben/ zuo nutz allen denen/ so zuo diser kunst lieb tragen M.D.XXViij. (Reprint Nördlingen: Uhl 1980)

➜ Das Satiremagazin »Lilliput«

Stefan Lorant (1901–1997) (> https://de.wikipedia.org/wiki/Stefan_Lorant) gründete 1937 das Satiremagazin »Lilliput«. Darin publizierte er immer wieder parallel zwei Fotos, wie z.Bsp. hier

(Die Tänzerin ist Loïe Fuller, 1862–1928)

> https://designyoutrust.com/2019/04/101-best-picture-comparisons-from-lilliput-or-chamberlain-and-the-beautiful-llama/

> http://museumstudiesleeds.blogspot.com/2013/10/curating-photography-stefan-lorant.html

 

Physisch \\ // psychisch

Der Arzt der Irren (Stultorum Medicus) sagt von sich: Durch meine Kunst soll mein ganzes Hirn nur Weisheit sein. Der Patient links wird mittels eines im Bauch montierten Zapfhahns purgiert – dem Patienten rechts werden die Wahnideen mittels eines Glaskolbens exstirpiert – was irgendwie an die moderne Psychologie erinnert.

Proscenivm vitæ hvmanæ, siue Emblematvm secvlarivm, ivcvndissima, & artificiosissima varietate vitæ hvmanæ & seculi huius deprauati mores, ac studia peruersissima adumbrantium […] Sculptore Ioan. Theodoro de Bry, Francofvrti, Impensis G. Fitzeri, anno 1627.
> https://archive.org/details/proscenivmvith01bryj

Mehr Bilder dazu bei Eugen Holländer (1867–1932), Die Karikatur und Satire in der Medizin. Mediko-kunsthistorische Studie, Stuttgart: Enke 1921, S.205ff.

➜ Virgil’s Aeneis travestirt

Es war einmal ein großer Held,
     Der sich Aeneas nannte :
Aus Troja nahm er’s Fersengeld
     Als man die Stadt verbrannte,
Und reiste fort mit Sack und Pack :
Doch litt er manchen Schabernak
     Von Jupiters Xantippe.

Was mochte wohl Frau Wunderlich
     So wider ihn empören ?
Man glaubt, Göttinnen sollten sich
     Mit Menschen gar nicht scheren :
Doch Göttin her und Göttin hin !
     Genug die Himmelsköniginn
Trug’s faustdick hinter’n Ohren
.

[…………]

[Aloys Blumauer 1755–1798] Virgil's Aeneis travestirt von Blumauer, [3 Bände] Wien, bey Rudolph Gasser 1784, 1785, 1788

> https://archive.org/details/bub_gb_GNcpAAAAYAAJ/page/n5/mode/2up

> https://books.google.ch/books?id=89rYtKCjjjgC&hl=de&source=gbs_navlinks_s

Vergleiche: [Pierre de Marivaux 1688–1763] L'Homère travesti, ou L'Iliade en vers burlesques... Paris: Pierre Prault 1716.
> https://gallica.bnf.fr/ark:/12148/bpt6k118344f

➜ Horatius travestitus

Christian Morgenstern (1871–1914), Horatius travestitus. Ein Studentenscherz, Berlin: Schuster & Loeffler 1897 (und Neuauflagen)

Hier das Titelbild von Karl Walser zur Ausgabe 1912:

Textprobe:

Horaz Ode III,30

Exegi monumentum aere perennius
regalique situ pyramidum altius,
quod non imber edax, non Aquilo inpotens
possit diruere aut innumerabilis

annorum series et fuga temporum. […]

Übersetzung von Moritz Becker (lateinoase.de)

Ich habe mir ein Denkmal errichtet, dauerhafter als Erz und höher als der königliche Bau der Pyramiden, welches nicht der gefräßige Regen und nicht der unbändige Nordwind zerstören kann oder die unzählige Anzahl an Jahren oder der Lauf der Zeiten. Ich werde nicht ganz sterben, und ein großer Teil von mir wird den Tod meiden; permanent werde ich durch den Ruhm der Nachwelt neu wachsen, […]

Morgenstern:

Wenn die Bürger mir ein Monument stifteten,
ob aus Gips oder Holz, Erz oder Marmerstein,
– Sommers sonnt es sich froh, kinderwagenumringt,
Winters baut man ein Dach drüber aus Papp' und Stroh –

kann man eins gegen zehn wetten:
Der Zahn der Zeit nagt so lange daran, bis es in Trümmer fällt.
[…]

> https://babel.hathitrust.org/cgi/pt?id=njp.32101039340680&seq=1

> http://12koerbe.de/pan/horaz.htm

➜ •• Parodie und ••• Parodie der Parodie

• Im sog. höfischen Minnesang (Blütezeit in der deutschen Literatur ca. 1190 bis 1220) hat der Dichter, ritterliches Glied einer Hofgesellschaft, als Aufgabe, die übermächtige Liebe zu seiner Dame von hohem Stand zu bekennen. Ihr Name darf nicht genannt werden, um sie nicht zu kompromittieren. (Es gibt auch Aufpasser.) Vergeblich sehnt er sich nach ihrer Huld, wobei als das Ziel seiner Wünsche oft die letzte Gunst sehr offen genannt wird. Die Dame ist der Inbegriff des Höchsten und Schönsten. Gerade darum ist es aber gar nicht zu wünschen, daß sie sich zum Liebhaber herablässt: Eine erfüllte Minne würde sich selbst aufheben. Das Äusserste ist ein freundlicher Gruß, der aber nicht so leicht zu haben ist. Das Dichten ehrt die Dame und erfreut die Zuhörer; aber der Dichter ist aus großer Liebe so todtraurig, dass er kaum singen kann. Vielleicht verbittet sich die Dame überhaupt, besungen zu werden. Alles, was der Dichter ist, verdankt er seiner Dame und der Minne zu ihr; und doch hat er sich in dieser Minne selbst verloren, ist verirrt. Vielleicht bedarf es der Dame gar nicht, da sie von der Minne doch nicht erreicht werden kann, nicht erreicht werden darf. Vielleicht gibt es die Dame überhaupt nicht. (Text nach Max Wehrli, Deutsche Lyrik des Mittelalters, 1955) — So formuliert, ist dies ein abstraktes literaturwissenschaftliches Konstrukt, mit demdas poetische generative Prinzip umrissen ist. In den Gedichten selbst gibt es nur interessante Ausprägungen davon.

Beispiele für klassische Ausprägungen:

Reinmar: Sô wol dir wîp, wie reine ein nam! (Minnesangs Frühling 165,10ff.; 3.Strophe)

Heinrich von Morungen: Ez tout vil wê, swer herzeclîche minnet … (MF 134,14ff.)

Wolfram von Eschenbach: maht du trœsten mîn gemüete? (Lachmann 735, = Kraus Liederdichter Nr.69, VI)

•• Dieses Konzept wird aber gleichzeitig auch unterwandert oder auch parodiert. Es gibt die Mädchenlieder, zum Beispiel von Walter von der Vogelweide das Lied »Under der linden an der heide, dâ unser zweier bette was« (ed. Lachmann 39,11ff.).

Als Form etablierte sich sodann gleichzeitig das Tagelied: Hier wird geschildert, wie der Sänger und seine Dame nach keineswegs entsagungsvoll gemeinsam verbrachter Nacht beim Tagesanbruch Abschied nehmen müssen, nachdem der Morgenstern oder ein Vöglein oder der Burg-Wächter eine(n) der beiden geweckt hat. Die beiden müssen sich vor den Aufpassern (mittelhochdeutsch: merkære) hüten, damit ihr süezer wehsel nicht bekannt wird.

Beispiel: Dietmar von Eist (Minnesangs Frühling 39,18ff.)

„Slâfest du, friedel ziere?
man wecket uns leider schiere.
ein vogellîn sô wol getân,
daz ist der linden an daz zwî gegân.“

„Ich was vil sanfte entslâfen,
nu rüefest du kint ‚Wâfen‘.
[≈ Alarm!]
liep âne leit mac niht gesîn.
swaz du gebiutest, daz leiste ich, friundîn mîn.“

Diu frouwe begunde weinen:
„Du rîtest und lâst mich eine.
wenne wilt du wider her zuo mir?
ôwê, du füerest mîn fröude sament dir!“

••• Wolfram von Eschenbach gibt noch eins drauf: Er parodiert die Gattung Tagelied! (Lachmann 5,35 = Kraus Leiderdichter Nr.69, IV):

Der hel<n>den minne ir klage
du sunge ie gên dem tage,
Daz sûre nâch dem süezen,
swer minne und wîplich grüezen
alsô enpfienc, daz si sich muosen scheiden,–
swaz dû dô riete in beiden,
dô ûf gienc
Der morgensterne, wahtære, swîc,
dâ von niht sinc.

Klagen über die sich versteckende Liebe / sangst du immer bei Tagesanbruch. / Bitteres folgte auf Süßes. / Wenn jemand Liebe und Zärtlichkeit der Geliebten nur unter der Bedingung / empfangen konnte, / daß sie sich wieder trennen mußten, / was immer dein einem solchen Liebespaar geraten hast, / als der Morgenstern aufging, / schweig Wächter, / singe nicht davon.

Swer pfliget oder ie gepflac,
daz er bî liebe <n wîben> lac,
Den merkæren unverborgen,
der darf niht durch den morgen
dannen streben.
er mac des tages erbeiten.
man darf in niht ûz leiten
ûf sîn leben.
Ein offen<iu> süeze wirtes wîp
kan sölhe minne geben.

Wer es so hält oder je gehalten hat, / daß er bei einer geliebten Frau lag, / Ohne sich vor den Aufpassern zu verstecken, / der braucht sich nicht am frühen Morgen / davonstehlen. / Er kann den Tag in Ruhe erwarten. / Man braucht ihn nicht fortzubringen, / um sein Leben zu retten. / Solche Liebe kann eine / rechtmäßige zärtliche Ehefrau schenken. (Übers. M.Backes, mit kleinen Änderungen)

Moderne kritische Ausgabe online
> https://www.ldm-digital.de/show.php?au=Wolfr&hs=C&lid=1617

Später dichtet Oswald von Wolkenstein († 1445) weitere solche Tagelied-Parodien, gelegentlich mit obszönen Passagen, weshalb wir hier nur scheu auf ein solches Lied verweisen (Ausgabe von K.K.Klein, ATB Nr.55, Lied 53: Frölich, zärtlich, lieplich...)

> https://www.gedichte-lyrik-online.de/froelich-zaertlich-lieplich-und-klaerlich.html

> http://wolkenstein-gesellschaft.com/texte#Fr%C3%B6lich,-z%C3%A4rtlich

Martina Backes, Tagelieder des deutschen Mittelalters, mhd/nhd., Einletung von Alois Wolf (RUB 8831), Stuttgart: Reclam 1992.

➜ Petrarcistische Liebeslyrik parodiert:

Shakespeare, Sonnet 130

My mistress' eyes are nothing like the sun
Coral is far more red than her lips' red;
If snow be white, why then her breasts are dun;
If hairs be wires, black wires grow on her head.

I have seen roses damask'd, red and white,
But no such roses see I in her cheeks;
And in some perfumes is there more delight
Than in the breath that from my mistress reeks.

I love to hear her speak, yet well I know
That music hath a far more pleasing sound;
I grant I never saw a goddess go;
My mistress, when she walks, treads on the ground:

And yet, by heaven, I think my love as rare
As any she belied with false compare.

Übersetzung von Gottlob Regis (1836):

Von Sonn' ist nichts in meines Liebchens Blicken:
Wenn Schnee weiß, ist ihr Busen graulich gar:
Weit röter glüht Rubin als ihre Lippen:
Wenn Haare Draht sind, hat sie drahtnes Haar.

Damaskusrosen weiß und rot erblickt' ich;
Doch nicht auf Liebchens Wangen solchen Flor:
Und mancher Wohlgeruch ist mehr erquicklich,
Als der aus ihrem Munde geht hervor.

Gern hör' ich, wenn sie spricht; doch zu gestehen
Bleibt, daß Musik mir weit ein süß'rer Gruß.
Zwar keine Göttin hab' ich schreiten sehen:
Mein Liebchen, wenn es wandelt, geht zu Fuß.

Und doch, gewiß, so hoch beglückt sie mich
Als irgendeine, die man schlecht verglich.

> http://www.zeno.org/nid/20005695333

Jörg Jochen Berns, Die demontierte Dame. Zum Verhältnis von malerischer und literarischer Porträttechnik im 17. Jahrhundert. in: Daß eine Nation die ander verstehen möge. Festschrift für Marian Szyrocki zu seinem 60. Geburtstag. Hrsg. von Norbert Honsza und Hans-Gert Roloff, in: Chloe 7, (1988), S. 67–96. Wieder in: Berns, Die Jagd auf die Mymphe Echo, Bremen 2022, S. 205–226.

➜ Der Winter ›küsst

in Rom war es üblich, einen Freund, dem man begegnete, (auf die Hand, die Stirn u.a.) zu küssen. Martial 40–104) spottet im Epigramm XI,98 über die lästige Wut des Küssens; in XIII,18 emfpiehlt er, nach dem Genuss von Lauch mit geschlossenem Mund zu küssen. In Epigramm VII,95 werden wir vom Winter geküsst:

Bruma est et riget horridus December,
audes tu tamen osculo niuali
omnes obuius hinc et hinc tenere
et totam, Line, basiare Romam
. [……]

> https://www.thelatinlibrary.com/martial/mart7.shtml

Winter ist's, der December starret schaurig,
Und mit eisigem Kusse wagst du dennoch
Jeden, der dir begegnet, anzuhalten,
Linus,* und das gesammte Rom zu küssen.
Was Grausameres und was Aergres könnt’ßt du
Anthun, wärst du gestoßen und geschlagen?
Küssen wird mich die Gattin nicht bei  d e m  Frost,
Nicht mit schmeichelndem Mund die junge Tochter.
Du bist lieblicher freilich auch und süßer,
Denn es hänget von deinen Hundenüstern
Bläulich Eis dir herunter und dein Bart starrt
Dem gleich, welchen Cinypher ** Böcken abmäht
Eines Ciliker Hirten krumme Scheere.
Hundert schmuzige Zungen *** treff’ ich lieber,
Minder fürcht ich den frisch gemachten Gallen.****
Wenn du also Vernunft und Scham besitzest,
Dann, ich bitte, mein Linus, dich verschiebe
Bis zum Monat April die Winterküsse.

* Was bedeutet Linus hier?

Galán Vioque schreibt: "Linus: a fictional character, cf. 7,10,1."
Roscher, Ausführliches Lexikon der griechischen und römischen Mythologie II/1 (1894ff.), Sp. 2053–2063:
Λίνος ist einer der Erfinder der Kithara, vgl. Plinius nat.hist. VII,lvii,20
Nach Pausanias 9,29,6–9 wurde Linus von Apoll getötet, weil er sich ihm im Gesang gleichstellte.
Nach Diodorus Siculus, bibl. hist. III,67 war Herakles zu stumpfsinnig, um diese Kunst zu begreifen, wurde von Linus mit Schlägen bestraft und erschlug darauf Linus mit der Cither.
Auch nach Apollodor II,iv,9 2,63 wurde Linos von Herakles getötet.
Linus gilt als Personifikation des Klagegesangs.
Evtl. schräge Assoziation mit lat. linio ≈ etwas beschmieren, besudeln.

** Cinyphus ein Fluß in Afrika zwischen den Syrten, eine Gegend in welcher die Ziegenböcke sehr langhaarig waren.

*** Schmutzige Zungen: cunnilingi (Oralsex)

**** Gallus: ein frisch entmannter Cybelepriester; Andere verstehen darunter einen in Rom frisch angekommenen Gallier, welche in Folge unmäßiger Lebens weise übelriechend sein sollten.

Die Epigramme des Marcus Valerius Martialis, in den Versmaßen des Originals übersetzt und erläutert von Alexander Berg, Stuttgart: Krais & Hoffmann 1864. — Vgl.: Martial, Epigramme. Übers von Rudolf Helm, Zürich: Artemis 1957 [mit völlig ungenügendem Kommentar].

Martial, Book VII., translated by J. J. Zoltowsky, Commentary by Guillermo Galán Vioque, Leiden: Brill 2002 (Mnemosyne, Supplements 226).

Wir sind gepannt auf die Antrittsvorlesung von Privatdozent Fabian Zogg an der Universität Zürich am 13.November 2023.

➜ »Mit fremden Federn«

Schon der Titel des Parodien-Buchs von Robert Neumann (1897–1975), »Mit fremden Federn« 1927 ist doppeldeutig:

Zeus wollte einen König der Vögel einsetzen und er gab ihnen einen bestimmten Zeitpunkt an, zu dem sie sich einfinden sollten. Eine Dohle aber, die sich ihrer Unansehnlichkeit bewusst war, ging überall herum und hob die Federn auf, die anderen Vögeln ausgefallen waren, und steckte sie sich an. Als der Tag gekommen war, kam sie bunt geschmückt zu Zeus. Als Zeus vorhatte, die Dohle wegen ihrer auffallenden Erscheinung zum König zu ernennen, ärgerten sich die anderen Vögel und umringten die Dohle. Und jeder einzelne Vogel nahm seine Feder aus ihrem Gefieder wieder heraus. So geschah es, dass sie ihren Federschmuck verlor und wieder eine Dohle wurde.

Aesop (Perry # 101) — Übersetzung von Rainer Nickel

Etwas anders erzählt die Fabel Der Stricker (gest. um 1250):

Ein Rabe quam an ein gras,
dô vant er, daz im liep was,
pfâwenvederen ein vil michel teil,
des wart er vrô unde geil.
die stiez er alle an sich,
dô wart er harte wünneclich
und gie, dâ er sîne genôzen vant
. […]

Der ganze Text mit Übersetzung hier:
> http://www.fabelnundanderes.at/der_stricker.htm#Der_Rabe_mit_den_Pfauenfedern

   

links: Harrison Weir's illustration of The Vain Jackdaw, 1881
> https://en.wikipedia.org/wiki/The_Bird_in_Borrowed_Feathers

➜ Ein Dreh genügt, und …

Spottbild um 1540: Kardinal \ Narr:

Ohne genaueren Nachweis bei: Paul Drews, Der evangelische Geistliche in der deutschen Vergangenheit, mit 110 Abbildungen und Beilagen nach Originalen, größtenteils aus dem fünfzehnten bis achtzehnten Jahrhundert 1905. (Monographien zur deutschen Kulturgeschichte Band 12), Abb. 39.

 

Ich bin reich, wohlhäbig, und bedarf keines Menschen. Offenb. 3

… und wenn man die Seite "auf den Kopf stellt", die Fortsetzung des Zitats:

Siehe, lieber Mensch, wie bin ich doch zu nichte worden […] Offenb. 3

[Matthäus Merian / Jacques-Antony Chovin:] Todten-Tanz, wie derselbe in der löbl. u. Welt-berühmten Stadt Basel, als ein Spiegel menschlicher Beschaffenheit künstlich gemahlet und zu sehen ist : nach dem Original in Kupfer gebracht. Basel: Joh. Rud. Im-Hof 1744. (hier S. 85)

> https://digital.slub-dresden.de/werkansicht/dlf/16000/1

➜ ›Mit gleicher Münze zurück‹

[…] Es kam vff ein mal ein armer man/ ein betler in eins wirtzhauß/ da was ein groser braten an dem spiß. Der arm man het ein stück brotz das hůb er zwischen den braten vnd das feür/ das der geschmack von dem braten in das brot gieng/ da aß er dan das brot. das thet der arm man biß das er kein brot me het/ da wolt er hinweg gon.

Der würt hiesch im die ürten [forderte die Bezahlung für die Zeche]. Der arm man sprach: ir haben mir doch nichtz zů essen noch zů trincken geben/ was sol ich bezalen.

Der wirt sprach: du hast dich gesettigt von dem meinen/ von dem geschmack des bratens/ das soltu mir bezalen.

Sie kamen mit einander an das gericht/ da ward die sach vff geschlagen [aufgeschoben]/ biß vff ein andern gerichtztag/ da was der gerichtz herren einer/ der het ein narren da heim/ vnd ob dem tisch da ward man der sach zůred.

Da sprach der nar: er sol den wirt bezalen mit dem klang des geltz/ wie der arm man ersettiget ist worden von dem geschmack des bratens.

Da nun der gerichtztag kam da bleib es bei dem vrteil/ das vrteil fand der nar.

Johannes Pauli (1455–1535), Schimpf vñ Ernst heiset das bůch mit namẽ/ durchlaufft es d. welt handlung mit ernstlichen vnd kurtzweiligen exemplen/ parabolen vnd hystorien/ nützlich vnd gůt zů besserung der menschen, Straßburg: Grieninger 1522. Von schimpff das xlviii: KAN AUCH ETWAN EIN NAR EIN VRTEIL FINDEN, das ein weis<s>er nit finden kan

Ausgabe von Hermann Österley in: Bibliothek des Literarischen Vereins in Stuttgart 85 (1866); Nr. 48; im Anhang S.478 Quellen und Parallelen
> https://www.digitale-sammlungen.de/de/view/bsb10737735?page=52

Die Geschichte wird auch erzählt von François Rabelais, »Der heroischen Thaten und Rhaten des guten Pantagruel« Drittes Buch, 37. Kapitel:

Zu Paris, in der Garküch zum kleinen Schlössel verzehrt' ein Rauhknecht am Heerd des Garkochs sein Brod beim Bratenrauch, und fand es, also durchräuchert, gar lecker. .... daß der Rauhknecht, der sein Brod bey dem Rauch des Bratens verzehret hat, den Koch zu Recht bezahlt hab mit dem Klang des Geldes.

> http://www.zeno.org/nid/20005517877

Echo

Antoine de BOURGOGNE / Abraham VAN DIEPENBEECK, Linguae vitia & Remedia emblematice expressa, Antuerpiæ: Apud vidua Cobbaert, 1652.
> https://gallica.bnf.fr/ark:/12148/bpt6k15193682

Mireille Schnyder / Damaris Leimgruber (Hgg.), Echo in Musik und Text des 17. Jahrhunderts, Zürich: Chronos 2019 (Medienwandel – Medienwechsel – Medienwissen, Band 43)

Damaris Leimgruber, "Redt, von Gräbern her, das Leben". Deutsche Echo-Leich-Gedichte und -Lieder des 17. Jahrhunderts, in: Die Tonkunst 11 (2017), S. 196–204.

Überbietung einer Deutung

Im Straßburger Münster gab es aus gotischer Zeit gegenüber der Kanzel zwei Kapitelle, die einen Begräbniszug und einen Totenmesse zeigen, die mittels Tierfiguren dargestellt ist [in Leserichtung von rechts nach links]:

ein Lektor als Esel, dem ein Affe das Messbuch hält;
der Priester als Hirsch vor dem Messkelch;
der ›Leichnam‹ als Fuchs auf einer von einem Schwein und einem Ziegenbock getragen wird;
darunter ein Hund, der das Schwein unzüchtig berührt;
davor ein Hase mit Kerze;
ein Wolf mit Kreuz;
ein Bär mit Weihwasser und -Wedel.

Travestie einer Begräbnisfeier, wobei die Tiere nach gängigen allegorischen Auslegungen die sündhaften Kleriker oder sogar Ketzer bezeichnen und zur Glaubenstreue ermahnen: der Bär steht für den Zorn; der Wolf für den Geiz, der Hund für den Neid usw., vgl. zur mittelalterlichen Tiersymbolik.

Johann Fischart (ca. 1545 – 1591) interpretiert die Kapitelle 1576 als Verfechter des Protestantismus polemisch gegen die Papisten, gegen die Römisch Mißbräuch – gleichsam eine Satire im Quadrat. Die moralische Deutung verwandelt er in eine konfessions-polemische.

Flugblatt aus den Wickiana in der Zentralbibliothek Zürich: Abzeichnus etlicher wolbedenklicher Bilder vom Römischen abgotdienst, Strassburg: Bernhard Jobin 1576.
Das ganze (zusammengeflickte) Blatt hier > https://doi.org/10.3931/e-rara-55725

Fischart basiert (wie fast immer) auf einer älteren Dichtung und hat Änderungen vorgenommen: So ist es nicht mehr ein Leichenzug, sondern eine (für die Altgläubigen typische) Prozession, mit einem schlafenden Fuchs als (Pseudo-)Heiligtum. Fischart geht auch über die im Vor-Bild liegende Deutung hinaus. Nach im sollen »die alten Straßburger Bilder beweisen, dass es schon damals eine ›protestantische‹ Kritik am Papsttum gegeben habe.« (Hillenbrand S. 112).

Die Saw zeigt an die Epicurer/
die Pfründsäw/ Mastschwein/ Bauchknecht/ Hurer/
Wie gmeinlich ist die Pfaffenherd/
Die dieses Heyligthumbs sich nehrt.
¶ Hinter demselben Schwein ihr finden/
Die unverschampt Besti/ die Hündin/
Welche dem schwein greifft vntern schwantz/
[im Holzschnitt nicht deutlich]
Für solche Braut ein rechter Krantz/
Das deut die Pfaffenkrawerin/
Eheschänder vnd Leibkällerin/
Die jhnen helfen jhr liebs Pfündlin
Durchschweden mit den Bankartshündlin
[…]
(Text nach dem Blatt der ZBZ)

Der Franzsikaner Johannes Nas (1534–1590) repliziert bald darauf mit einer anti-protestantischen Deutung (Hillenbrand S.112ff.). Hier werden dann Lutherus samt seinen Nachfolgern Caluinus/ Zwingel vnd Butzerus als stinckend Böck vnd wüste Säw gedeutetet.

Vgl. Illustrierte Flugblätter aus den Jahrhunderten der Reformation und der Glaubenskämpfe. Herausgegeben von Wolfgang Harms. Bearbeitet von Beate Rattay. Kunstsammlungen der Veste Coburg 1983, Nr. 19

und die vorzügliche Studie von Rainer Hillenbrand, Kontroverstheologische Bildinterpretationen von Fischart und Nas, in: Daphnis 42 (2013), S. 93–139.

Sehweisen

Pablo Picasso (1881–1973) schuf 1950 eine Neufassung des Bilds von Gustave Courbet (1819–1877) »Les Demoiselles des Bords de la Seine« (1856/57) sowie weitere solche Re-Inszenierungen, z.Bsp. von Ingres, Goya.

(Die Bilder sind im Web viral zu finden.)

»Es geht nicht um die Frauen, die dort liegen, sondern um den Betrachter, der sie liegen sieht und gewissermassen neu auflegt.« (so Fritz G. in Z.) — Picasso lenkt den Blick weg vom dargestellten Objekt auf den Blick, der so »ins Bild kommt«. Nicht Gegenstände, sondern die Sehweisen werden zum Thema.

Dazu einige Ideen der sog. ›Kubisten:‹ Äusserliche Zufälligkeiten wie z.B. die Beleuchtung aus éiner Richtung oder die Zentralperspektive sind zu vermeiden. — Das Objekt muss unter dem je aufschlussreichsten Winkel gezeigt werden; es kann mehrere Blickpunkte geben um alle vom Maler erkannten wesentlichen Aspekte sichtbar werden zu lassen. — Statt eine Re-Präsentation zu erzeugen und dabei ggf. Anmut zu evozieren, will der Maler den Prozess des Sehens Gestalt werden lassen.

Vgl. die Textsammlung von Edward Fry, Der Kubismus, DuMont Dokumente 1966.

Goyas ›Nackte Maja‹ und Picassos Variation davon (1964) waren 2019 im Prado nebeneinander ausgestellt. Mehr zu dessen Überarbeitungen hier.

 

Man Ray (1890–1976) bezog sich bei seiner Fotografie »Le Violon d’Ingres« (1924) auf das Bild von Jean-Auguste-Doninique Ingres (1780–1867) »La Baigneuse Valpinçon« (1808).

   

(Bilder auf Wiki Commons)

Wie kommt Man Ray dazu? Ingres avait une seconde passion artistique, puisqu'il consacrait ses moments libres à jouer du violon (und er soll stolz darauf gewesen sein). C'est ainsi que, depuis le début du XXe siècle, avoir un violon d'Ingres s'emploie à propos d'une personne qui pratique une activité non professionnelle avec une certaine passion. Und so bedeutet die Redewendung violon d'Ingres: une activité à laquelle on aime se consacrer en dehors de sa profession; un hobby.

»Würde der Frauen«

Friedrich Schiller, »Würde der Frauen«, in Musen-Almanach für das Jahr 1796.

August Wilhelm Schlegel, Schillers Lob der Frauen

Ehret die Frauen! sie flechten und weben
Himmlische Rosen ins irdische Leben,
Flechten der Liebe beglückendes Band,
Und in der Grazie züchtigem Schleier
Nähren sie wachsam das ewige Feuer
Schöner Gefühle mit heiliger Hand.

Ehret die Frauen! Sie stricken die Strümpfe,
Wollig und warm, zu durchwaten die Sümpfe,
Flicken zerrißene Pantalons aus;
Kochen dem Manne die kräftigen Suppen,
Putzen den Kindern die niedlichen Puppen,
Halten mit mäßigem Wochengeld Haus.

Ewig aus der Wahrheit Schranken
Schweift des Mannes wilde Kraft,
Unstet treiben die Gedanken
Auf dem Meer der Leidenschaft.
Gierig greift er in die Ferne,
Nimmer wird sein Herz gestillt,
Rastlos durch entlegne Sterne
Jagt er seines Traumes Bild.
Doch der Mann, der tölpelhafte
Find’t am Zarten nicht Geschmack.
Zum gegohrnen Gerstensafte
Raucht er immerfort Taback;
Brummt, wie Bären an der Kette,
Knufft die Kinder spat und fruh;
Und dem Weibchen, nachts im Bette,
Kehrt er gleich den Rücken zu.
[…] […]

Schiller selbst in »Über naive und sentimentalische Dichtung«: In der Satire wird die Wiklichkeit als Mangel dem Ideal als der höchsten Realität gegenübergestellt.

 

Homonym und umfunktioniert

Friedrich Jenni (1809–1849) verlegte in den spannungsgeladenen Jahren 1843 bis 1849 ein Witzblatt, in dem er radikal die Gegner der liberalen Gesinnung in der Eidgenossenschaft karikierte: Der GUKKASTEN, Zeitschrift für Witz, Laune und Satyre

Die Zeitschrift ist jetzt digital einsehbar
> https://www.e-rara.ch/zuz/doi/10.3931/e-rara-97713

Ansicht der Brille, durch welche die Volkszeitung und der Beobachter gewöhnlich gelesen werden. Gukkasten 5. Juni 1847

(Grimm, DWB: "Brille" auch runde Öffnung im Sitz eines heimlichen Gemachs. – Idiotikon: runde Öffnung des Sitzbrettes im Abort)

Welche Zeitungen sind gemeint? Der »Beobachter der östlichen Schweiz« erschien 1838 bis Ende 1844. Die Fortsetzung erschien als »Eidgenössische Zeitung« in Zürich. Politische Ausrichtung?

Schembartlauf

Nürnberger Schembart-Buch, Handschrift des 17. Jahrhunderts; Ratjen Cod. ms. KB 395 (UB Kiel)
> https://dibiki.ub.uni-kiel.de/viewer/!image/PPN504316125/247/

Literaturhinweise:

Johannes Pommeranz, Cui bono? Schembartbücher werfen Fragen auf
> http://archiv.ub.uni-heidelberg.de/artdok/6827/

Jürgen Küster, Nürnberger Schembartlauf (2008); in: Historisches Lexikon Bayerns
> http://www.historisches-lexikon-bayerns.de/Lexikon/Nürnberger_Schembartlauf

Alice hinter den Spiegeln (Lewis Carroll, »Through the Looking Glas and What Alice Found There« 1871)

➜ Der babylonische Turm variiert

 

➜ Bekannte Gemälde und Skulpturen werden in die Welt der Enten von Walt Disney versetzt: www.duckomenta.com

 

Mise en abyme:

Goethe in einem Brief an Carl Jacob Ludwig Iken, 27. September 1827:

Da sich gar manches unserer Erfahrungen nicht rund aussprechen und direct mittheilen läßt, so habe ich seit langem das Mittel gewählt, durch einander gegenüber gestellte und sich gleichsam in einander abspiegelnde Gebilde den geheimeren Sinn dem Aufmerkenden zu offenbaren.
http://www.zeno.org/nid/2000486087X

 

 


 

Klärungsbedarf

Wie kann man die Begriffe definieren:

Parodie, Travestie (Ersetzung des Inhalts; die Form bleibt) — Palinodie (die Form wird übernommen, der Inhalt durch einen antithetischen ersetzt) — Kontrafaktur (ein geistlicher Text wird über ein ursprüngl. weltliches Lied gelegt oder umgekehrt) — Persiflage — Pasquill — Pastiche ???

 


 

Hinweise zur Forschung:

JurgisBaltrušaitis, Aberrations. Quatre Essais sur la Legende des Formes. [Paris]: Olivier Perrin 1957. — Jurgis Baltrušaitis, Imaginäre Realitäten: Fiktion und Illusion als produktive Kraft. Tierphysiognomik, Bilder in Stein, Waldarchitektur, Illusionsgärten, Köln: DuMont-Buchverlag 1984.

Martin Heinrich Müller, ›Parodia Christiana‹. Studien zu Jacob Baldes Odendichtung, Zürich: Juris-Verlag 1964.

Karl Eric Maison, Bild und Abbild. Meisterwerke von Meistern kopiert und umgeschaffen, München 1960 (Themes and variations. Five centuries of interpretations and re-creations, London: Thames and Hudson [1960]).

Theodor Verweyen, Theorie und Geschichte der Parodie (2001)
> http://www.erlangerliste.de/vorlesung/parodie_0.html

Reinhold F. Glei / Robert Seidel (Hgg.), Parodia: Aspekte intertextuellen Schreibens in der lateinischen Literatur der Frühen Neuzeit (Frühe Neuzeit Band 120) de Gruyter 2012.

Seraina Plotke / Stefan Seeber (Hgg.), Parodie und Verkehrung. Formen und Funktionen spielerischer Verfremdung und spöttischer Verzerrung in Texten des Mittelalters und der Frühen Neuzeit, Göttingen: V&R unipress 2016.
https://www.vr-elibrary.de/doi/book/10.14220/9783737006644

usw....