Johannes PommeranzVerkehrte Welt: Nürnberger Schembartläufe (1449–1539)Der Text basiert auf einem Vortrag, gehalten am Kolloquium der Schweizerischen Gesellschaft für Symbolforschung am 21.September 2024. Übersicht:
EinleitungDie „fünfte Jahreszeit“, als wichtiges Kulturfest des Christentums fester Bestandteil des Kirchenjahrs, begeistert Menschen seit Jahrhunderten. Der aus dem christlichen Jahresrhythmus erwachsene Brauch versetzt die Welt als “verkehrte Welt” gewissenhaft in einen rauschhaften Ausnahmezustand mit Obszönität und Gewalt als treuen Begleitern. Im Sinne der Zweistaatenlehre des Augustinus stehen sich der irdische Lasterstaat und der heilige Gottesstaat gegenüber, regieren im Narrenreich doch Sünde und Chaos. Narr ist, wer gottfern lebt. Allerorten entwickelten sich im Spätmittelalter Bräuche, die dem bunten Treiben eine Ordnung gaben. Aus heutiger Sicht überraschend, entwickelte sich die Reichsstadt Nürnberg im Verlauf des 15. Jahrhunderts zu einer deutschen Fastnachtshochburg ersten Ranges. Da wurde zur Fastnacht das adeligen Ritterturnieren nachempfundene Gesellenstechen aufgeführt, es gab durch die Stadt ziehende Rotten zu bestaunen und den in Wirtshäusern veranstalteten berühmten Burlesken der Nürnberger Fastnachtsspiele zuzuhören. Ihre Spieltexte verhandeln die großen Themen der Zeit aus Recht und Religion, aus Politik und Wirtschaft, aus Ehe und Geschlechtsrolle. Dabei setzt sich das Fastnachtstheater auch mit der städtischen Ordnung auseinander. Ritualisiert und unter obrigkeitlicher Kontrolle stehend, betrieb das Theater das Spiel der Verkehrung auf kleinen Bühnen. Wie anders dagegen der Schembartlauf. Dieser gemäß den sogenannten „Schembartbüchern“ mit Unterbrechungen von 1449–1539 aufgeführte und über die Stadtgrenzen hinaus berühmte Festumzug markierte Jahr für Jahr den Höhepunkt der Fastnachtsfeierlichkeiten. Der vom Rat der Stadt Nürnberg unterstützte Event gilt als ältestes Beispiel einer obrigkeitlich organisierten Fastnacht in Mitteleuropa. Zum Spaß und Gaudi der Bevölkerung rannten dabei Rotten maskierter Läufer durch die engen Gassen der Stadt. Von nah und fern kamen Zuschauer, um dem Schaulaufen beizuwohnen. Im Laufe seiner Geschichte mutierte der Lauf zu einem spektakulären Prunkaufzug, der sich vor den an europäischen Höfen veranstalteten Festen nicht zu verstecken brauchte. Um dessen Attraktivität zu steigern, wurden seit 1475 als „Höllen“ bezeichnete Umzugswagen mitgeführt, die nachweislich seit 1493, auf dem vor dem Rathaus gelegenen Hauptmarkt öffentlichkeitswirksam in einem Schaufeuer verbrannt wurden. Die berühmteste dieser „Höllen“ stammte aus dem Jahr 1539. Sie thematisiert die Verspottung s (1496–1552) auf einem Narrenschiff. Der Theologe und Reformator war der erste lutherische Pfarrer in Nürnberg und predigte in der Gemeinde St. Lorenz das Wort Gottes. Nürnberg hatte bereits 1525 die Reformation eingeführt. Dieses Motiv wurde über Jahrhunderte nicht nur in Büchern und Grafiken verewigt. Einen sehr repräsentativen Bildzeugen stellt ein großformatiges Glasgemälde aus dem Germanischen Nationalmuseum vor, das einst den „Saal der Reichsstädte“ im 1945 zerstörten Augustinerbau schmückte, einem Erweiterungsbau des 19. Jahrhunderts, der unter Verwendung von Architekturteilen des 1871 abgerissenen Nürnberger Augustinerklosters errichtet worden war.
Es ist Teil eines insgesamt 16 Glasgemälde umfassenden Zyklus, der Episoden aus der reichsstädtischen Geschichte nacherzählt, darunter gleich sieben Ereignisse aus der Nürnberger Stadtgeschichte. Der Aufbau aller Glasgemälde ist einheitlich: Ein Bleigitter teilt den Mittelteil des Fensters in Rechtecke auf. Den oberen Bereich schmückt eine florale Maßwerkbekrönung, die untere Zeile verzieren textilen Wandbehang imitierende Damastmuster. Das dem historischen Schembartlauf von 1539 vorbehaltene Gemälde zeigt die Erstürmung der Hölle durch die Schembartläufer in der vor allem durch Grafiken tradierten Form, allerdings ohne Osiander vor dem Mast des Schiffes stehend, das von Narren und Teufeln gegen von Wildleuten angeführten Schembartläufern verteidigt wird. Die heftige Polemik gegen Osiander ließ Luther nicht unkommentiert, der den Schembartlauf als Gott mißfallendes ‚Spectaculum‘ bezeichnete. In der Reformationszeit dermaßen verpönt, bedurfte es des Historismus‘, um dem soziokulturellen Phänomen des Schembartlaufs seine herausragende Bedeutung für das kollektive Gedächtnis der Reichsstadt Nürnberg zurückzugeben.
Wie das Wort „Schembartlauf“ zu übersetzen und etymologisch abzuleiten sei, darüber wird in der Forschung kontrovers diskutiert. Gemeinhin bezeichnet man im süddeutschen mit „Scheme“ eine zur Fastnachtszeit getragene Maske und tatsächlich finden sich unter den Dargestellten neben den überwiegenden Glattmasken auch Masken mit Bart. Der Nürnberger Meistersinger Lienhard Nunnenbeck beschreibt bspw. 1518 die Schembartläufer wie folgt: alß ich nun mit dem alten ret, ein schone rotth herlaufen det, die hetten silbrein scheppart, ir klayt roth, weyß vnd roßin[nen]farb auf einer seytten, die ander gell [gelb]. an inen hieng maniche schell, die hetten sie vmb sich gegirt, mit gold waren sie schon gezirt.
Dietz-Rüdiger Moser verfolgte eine andere Spur. Ausgehend von der Beobachtung, dass zahlreiche Motive des Schembartlaufs wie der Unkeuschheit symbolisierende Basilisk oder der für Neid stehende Drache als Personifikationen der Todsünden offenbar in der Tradition spätmittelalterlicher Etymachietraktate stehen. Sie thematisieren als katechistische Abhandlungen die Gegenüberstellung der sieben gebrandmarkten Todsünden mit den sieben christlichen Tugenden. So zeigt bspw. eine nach Ulm lokalisierte und um 1470/75 zu datierende Handschrift aus der Württembergischen Landesbibliothek wie die auf einem Dromedar reitende Superbia (Hochmut) links und die auf einem Panther sitzende Humilitas (Demut) rechts gegeneinander antreten.
Als Helmzier schmückt Superbia ein Pfau mit aufgeschlagenem Rad, Lanzenbanner ist der hoch fliegende Adler und Schildzeichen der überhebliche Löwe. Die Demut dagegen trägt als Helmzier einen Rebstock, auf der Fahne den Greif, der, wie die Demut die Tugend, Edelsteine bewacht, und als Schildzeichen zwei Leitern. Sie symbolisieren die Einsicht, dass nur wer unter sich herabsteigt, über sich emporwachsen kann.
Moser nun versteht gemäß des berühmten "scheinpart-spruch" des Nürnberger Meistersingers Hans Sachs von 1548 den Schembartlauf nicht als „Maskenlauf“, sondern als „Scheinbotenlauf“. Galten doch die Aufständischen des Nürnberger Handwerkeraufstand von 1348/48 als Sendboten des Teufels, die in Etymachietraktaten als „Scheinboten“ bezeichnet werden. Darauf nimmt Hans Sachs Bezug, wenn er den Lauf in besagtem Spruchgedicht als Allegorie dieses Handwerkeraufstandes begreift und darstellt: Nun merck! Dieser scheinpart / Mit aller seyner arth Ist ein haymlich figur/Vergangener auffrur.Gegen diese Theorie sprechen allerdings die zahlreichen Einträge in den Ratsverlässen der Stadt Nürnberg, in denen das Recht mit Maske zu laufen, immer als großes Privileg dargestellt wird. Die Vermummung machte für die Schembartläufer den Reiz aus, konnten sich die Läufer aufgrund der Vermummung doch leichter außerhalb der städtischen Ordnung stellen. Was sollte daher der Schembartlauf anderes sein, als der über Jahrzehnte immer wieder in den Quellen aufgeführte Maskenlauf? Der Deutung, in den Schembartläufern Personifikationen maskentragender Teufel als Erinnerung an den historischen Handwerkeraufstand in Nürnberg zu sehen, widerspricht das nicht.
Der MetzgertanzVerdankt doch der Schembartlauf seine Entstehung offenbar diesem Aufruhr von 1348/48. Der in zahlreichen Schembartbüchern und Chroniken überlieferten Legende nach hatten die Metzger von Kaiser Karl IV. das Privileg zugesprochen bekommen, zu Fastnacht einen Tanz aufführen zu dürfen, weil sie sich nicht an dem Aufstand beteiligt hatten. Findet dieser Tanz erstmals 1397 urkundliche Erwähnung, so setzt dessen bildliche Überlieferung gemäß den überkommenen Zeugnissen erst im 16. Jahrhundert ein.
Die Tänzer des Reigens sind gemäß einer Schembartbuch-Darstellung aus dem Besitz der Merkelschen Familienstiftung mit bunten Kostümen bekleidet. Sie tragen als Kopfbedeckung Hüte oder Kappen, die teils lange Federn schmücken und Schnabelschuhe gemäß der Mode der Zeit-.
Tanzend bilden sie eine Menschenkette, indem jeder in einen runden Riemen greift, den sein Vordermann ihm reicht und bewegen sich so, aneinander ziehend, durch einen von Reitern begrenzten Raum, den gelegentlich in der Forschung als Verbildlichung der Todsünden interpretierte Reittiere begrenzen: Pferd, Widder, Esel und Einhorn treten hier als Pappkameraden auf. Als umgehängte Attrappen stehen sie nicht auf eigenen Beinen, sondern sind am Schultergurt des „Reiters“ eingehängt. Die Tänzer werden von drei Trompetern stimuliert, über deren Musik wir wenig wissen, da sich keine Noten aus der Zeit erhalten haben. Rechts hält ein Metzger ein mit Wurstringen geschmücktes Bäumchen in die Höhe. Selbstbewusst werden an den Reigenenden die Zunftembleme präsentiert. Diese Darstellung des Metzgertanzes scheint durchaus authentisch zu sein und wird durch zahlreiche Textzeugen unterstützt. Gemäß den Ratsverlässen begleiten städtische Musiker und Schutztruppen den Tanz, um eine störungsfreie Aufführung zu gewährleisten. Die Teilnehmer der Schutzrotte mussten dem Rat im Voraus angemeldet werden. Als Waffen trugen sie stumpfe Holzspieße und mit Knall- und Brandzeug ausgestattete Pflanzenbuschen bei sich, um für die tanzenden Metzger Platz zu schaffen. Aus dieser Schutztruppe entwickelte sich offenbar der Schembartlauf, der den Schembartbüchern zufolge ab 1449 losgelöst vom Metzgertanz aufgeführt wurde. Gemäß dieser Quelle waren es die Patriziersöhne, die ab 1458 den Metzgern das Privileg abkauften, Schembart zu laufen. QuellenlageDer gemeine Nutzen des lebensbejahenden Fests war groß. Bürger und Besucher tranken und aßen, sangen und tanzten gemeinsam. So viel Gemeinsinn ließ sich die Stadt etwas kosten. Der Rat der Stadt Nürnberg reglementierte daher nicht nur, er finanzierte damals anders als heute die Feierlichkeiten auch, zumindest in Teilen. Es überrascht daher kaum, dass die zeitgenössischen Sitzungsbeschlüsse, die sogenannten Ratsverlässe, als ein wahrer Schatz kollektiver Erinnerung das historische Festgeschehen umfänglich und zuverlässig dokumentieren. Aus ihnen können die inneren Strukturen des Schembartlaufs herausgefiltert werden. Der berühmteste Schembartlauf aus dem Jahr 1539 beispielweise ist u.a. mit folgendem Eintrag erwähnt: Und dieselben zwei Tage allein im Schempartlauff fewrwerk auss kolben und den Händen schiess und auch nicht werfen sollen, solchs den Hauptleuten auch sagen.
Das Gros der weiteren schriftlichen Überlieferung setzt dagegen erst ab 1550 ein, zu einem Zeitpunkt, als der Lauf schon seit Jahren nicht mehr aufgeführt worden ist. Diese Einträge sind breit gestreut und finden sich in Chroniken und Wappenbüchern, in Turnier- und Trachtenbüchern und eben Schembartbüchern, die diesen gemeinschaftsstiftenden Festzug auf einzigartige Art und Weise dokumentieren.
Der Aufbau dieser Text- und Bildzeugen ist dabei weitgehend identisch: Einer Bildseite mit der Darstellung des Anführers der Rotte steht eine Textseite gegenüber, die zuvorderst den Namen des Hauptmanns nennt und des Weiteren Auskunft über das Kostüm, über die Anzahl der Läufer, den Auszugsort, die an die Metzger als Abschlagszahlung gezahlte Summe und ab 1475 über die mitgeführte „Hölle“ geben. Ein Schembartbuch aus der Paul Wolfgang Merkel’schen Familienstiftung zeigt für das Jahr 1475 einen der Frey-Brüder als Hauptmann in repräsentativer Ganzkörperansicht.
Ihn kleidet ein buntes Mi-Parti-Kostüm als Ganzkörperanzug mit Schellengürtel für Hüfte und Knie. Sein Gesicht ist mit einer Glattmaske vermummt. Seine Rechte hält eine Lanze, seine Linke ein Blattbüschel. Das rechte Blatt zeigt neben dem Text zudem als „Hölle“ des Jahres 1475 einen feuerspeienden Drachen, der auf einem Schlitten durch die Stadt gezogen wurde. Neben der Stadt profitierten von dem Auflauf vor allem die Schembartläufer. Deren Anführer gewesen zu sein, wurde im Verlauf der Eventgeschichte zu einer Frage des Prestiges. Schembartbücher bilden als illuminierte, frühneuzeitliche Handschriften eine eigene Buchgattung. Insgesamt sind die in der Regel reich kolorierten Zeichnungen sehr flächig gehalten. Dem Betrachter gewähren sie gleichwohl aufschlussreiche Einblicke in die Mode des Spätmittelalters – oder zumindest von der Vorstellung des Renaissancemenschen davon. Unter allen aufgezählten Quellenarten sind sie mit ihren dekorativen Federzeichnungen besonders schön anzuschauen. Wie es überhaupt zu dieser Buchgattung kam, ist noch nicht abschließend geklärt. Vermutlich verdanken Schembartbücher ihre Existenz zuvorderst memorialem Handeln. Das würde nicht nur erklären, warum die Produktion erst nach dem eigentlichen Geschehen einsetzt, es würde auch erklären, warum sie bis ins 18. Jahrhundert fortgeführt wurde. Denn erst mit dem Ende des 18. Jahrhunderts verlor der Memoriagedanke an Bedeutung. Insbesondere gilt es noch zu untersuchen, welche Rolle bei den Schembartbüchern die städtische Memoria und welche Rolle die Familienmemoria spielte. Für beide Ausrichtungen gibt es Anhaltspunkte. Der überwiegende Teil überkommener Schembartbücher stammt aus Nürnberger Patrizierfamilien. Unterstützten sie die Eltern vielleicht bei der Ausformung eines patrizischen Klassenbewusstseins ihrer Kinder, sich des Schembartbuchs als genealogischer Quelle bedienend, gewissermaßen als eine Art Familienchronik? Ein Exemplar, eine Leihgabe der Freiherrlich von Loeffelholz’schen Familien-Sammlung an das Germanische Nationalmuseum, zieren die Nürnberger Stadtwappen auf dem Einbandspiegel. Offenbar ist hier die Stadt selbst der ursprüngliche Auftraggeber gewesen. Als ersten Standort darf man daher für dieses Buch die Ratsbibliothek vermuten. Sollten sie im Rat die Erinnerung an das Festgeschehen wachhalten, das für die Stadt von überregionaler Bedeutung war? Strittig ist auch ihr Quellenwert. Bis in die heutige Zeit hinein ließ sich die Kritik immer wieder dazu verleiten, Schembartbücher als authentische Dokumente des Festgeschehens anzusehen, obwohl die Gattung erst aufkam, als die Feste nicht mehr aufgeführt wurden. Letzte Exemplare dürften sogar erst im 18. Jahrhundert entstanden sein.
Weitere QuellenNeben dem bereits erwähnten „scheinpart-spruch“ von Hans Sachs haben sich nur wenige Zeitzeugenberichte erhalten. Zu ihnen zählt eine handschriftliche Notiz in einem Sammelband von dem aus alten Nürnbergischen Geschlecht stammenden Kaufmann und Reiseschriftsteller Hieronymus Köler d.Ä. (1507–1573). Der auf das Jahr 1538 datierte Band enthält neben aufgeklebten Holzschnitten und Schriftproben, neben Karten und Gedichten auch eine Liste der „Höllen“, die in den Nürnberger Schembartumzügen als Festwagen mitgeführt worden sind. Besonders authentisch lässt das Blatt den Eintrag zum Jahr 1511 erscheinen, wenn Köler schreibt: A° 1511 wassen drey linthwurm, die gedenk ich, als ich 4 jar alt was.
KostümeIn den Quellen zur Nürnberger Geschichte des Spätmittelalters werden unter den Kostümierten, neben „Personen im rauhen Kleid“, am häufigsten „wilde Leute“ erwähnt. Sich als „Wilder Mann“ oder als „Wilde Frau“ zu verkleiden, war ein Klassiker. Sie wurden mit den Germanen gleichgesetzt. Hatte Tacitus in seiner „Germania“ die Germanen noch als unzivilisierte Wildleute beschrieben und damit das Germanenbild über Jahrhunderte geprägt, bewertete der Dichter Conrad Celtis (1459–1508) und sein Humanistenkreis sie ganz anders. Sie galten nunmehr als stark und urwüchsig, reklamierten für sich gar einen Führungsanspruch. Auch zahlreiche Schembartbücher zieren Darstellungen von Wilden Männern und Frauen. Unschwer ist hier das Motiv des Aufbegehrens gegen obrigkeitliche Regeln und Verordnungen zu erkennen. Als Wilde Leute gelten im Verständnis des Spätmittelalters menschenähnliche Wesen, die im Wald ihr Zuhause gefunden haben. Sie charakterisiert ferner ihre nahezu vollständige Körperbehaarung sowie überdurchschnittliche Körpergröße und -kraft. Sie gelten als kriegerisch und zeichnen sich zudem durch ihren starken Sexualtrieb aus. Galten sie gemeinhin auch als Fantasieprodukte, hielt man ihre Existenz zumindest für möglich, spätestens seitdem frühneuzeitliche Berichte von wilden Völkern aus Afrika und Amerika regelmäßig das christliche Abendland erreichten. Derartige Reiseberichte brachte der von patrizischen Familiengesellschaften betriebene Fernhandel nach Nürnberg, der die Reichsstadt im Spätmittelalter zu einer bedeutenden Handelsmetropole machte.
Überhaupt waren seit dem Mittelalter insbesondere die merkantilen und künstlerischen Beziehungen zwischen Italien und Oberdeutschland eng. In unserem Zusammenhang ist interessant, dass Wilde-Leute-Tänze und Kostüme nicht nur in Deutschland zu einem klassischen Festelement avancierten, sondern bald auch cisalpin Verbreitung fanden. So enthält bspw. Francesco Bertellis beeindruckende, ausschließlich dem venezianischen Karneval mit dessen Maskeraden und Kostümen gewidmete Suite „Il Carnevale Italiano Mascherato“ von 1642 Darstellungen von Wildleuten. Sie zählt zu den frühesten ihrer Art. Geht schon Bertellis Stichserie auf das Trachtenbuch „Diversarum nationum habitus“ seines Vaters Piero zurück, liegen die Anfänge dieser Verbindung nachweislich im frühen 16. Jahrhundert. Denn für Venedig sind Tänze von als „uomini selvatici“ kostümierten, oberdeutschen Kaufleuten bereits für 1517 bei Faschingsbällen im Fondaco dei Tedeschi dokumentiert. Man kann daher mit einigem Recht behaupten, dass oberdeutsche Fastnachtstraditionen auch transalpin nicht nur bekannt, sondern offenbar goutiert worden sind. Es ist bemerkenswert, dass in vorreformatorischer Zeit in Nürnberg derart gegen Obrigkeiten opponiert wurde.Ein ungleich größerer Freiheitsgedanke war die Einführung der Reformation. Auch hier übernahm die Reichsstadt Nürnberg eine Vorreiterrolle. Das reformatorische Gedankengut veränderte die Lebensrealität der Nürnberger Bürger erheblich. Es herrschte Aufbruchsstimmung: Die Heilslehre änderte sich grundlegend und damit auch feste Elemente des Kirchenjahres. Dazu zählt auch die Ablehnung des Fastengebotes, da die Überzeugung vorherrschte, dass durch orchestrierte Handlungen wie Fleischverzicht, keine Buße für Sünden geleistet werden könne. Ein gottgerechtes Leben sei eine dauernde Pflicht. Der Wegfall der Fastenzeit machte die Fastnacht überflüssig, die von den Reformern ob ihrer Ausschweifungen generell abgelehnt wurde. Das wilde Spektakel mit Tollheiten auf den Straßen und Masken entsprach offenbar nicht mehr den Vorstellungen eines gottgefälligen Treibens. So fand nach dem Religionsgespräch 1525 lange Zeit kein Schembartlauf mehr statt, und zwar bis 1539. Dort Andreas Osiander arg zu verunglimpfen, führte zum Verbot des Schembartlaufs.
HöllenIn den 90 Jahren seines Bestehens fand der Schembartlauf gemäß den Schembartbüchern 63 mal statt, 23 mal wurden auf Kufen oder Rädern montierte Festwagen als Höllen mitgeführt. Besonders beliebte Motive wie das Narrenschiff oder der turmbewehrte Elefant wurden wiederholt aufgegriffen. Und es ist mit Jürgen Küster anzunehmen, dass sie im Kontext christlicher Allegorese zu sehen sind.
Zu den spektakulärsten Höllen des Schembartlaufs zählt der Festwagen mit aufmontierter Kanone, der „alte Weiber“ als Munition dienen.
Sie findet ihr unmittelbares Vorbild in einem Holzschnitt der Lazarus-Dichtung „Das Büchlein von den peinen“. Es erschien erstmals 1506 in Straßburg bei Bartholomäus Kistler und enthält zahlreiche Prosaexempel über Hölle und Fegefeuer. Möglicherweise stammen die ganzseitigen Holzschnitte von Kistler selbst.
Häufig ähneln sich die von den Schembartbüchern festgehaltenen Höllenmotive bis in die Details. Überraschende Bildfindungen zeigt dagegen die Schembarthandschrift „2009.M.38“, die sich seit 2009 im Besitz der Getty Research Library (Los Angeles) befindet.
Rezeptionsgeschichtlich besonders interessant ist die Ausgestaltung der „Hölle“ des Jahres 1520, die der Beschreibung zufolge ein Teuffelshaus mit alten Trudten, also Frauen, war.
Der Briefmaler nutzte hier einen um 1500 entstandenen Holzschnitt Albrecht Dürers mit einer rückwärts auf einem Ziegenbock reitenden Hexe als Vorbild, wie Jürgen Küster herausstellte.
FeuerwerkTrugen die mitgeführten „Höllen“ schon das Ihrige zum Spannungsbogen des Fests bei, so setzte die eingesetzte Pyrotechnik das i-Tüpfelchen. Nürnberg spielte bekanntlich im Spätmittelalter bei der Entwicklung von Geschützen eine bedeutende Rolle. Bereits 1388 fertigte man in Nürnberg Kanonen und um 1500 exportierten die beiden Gußhütten der Pegnitzer und Beheim ihre Geschütze nach ganz Europa. Zum Kriegsfeuerwerk aber trat das Lustfeuerwerk hinzu, was zahlreiche Darstellungen in den Schembartbüchern bezeugen. Das Blattbüschel in der erhobenen Hand zählt zur Grundausstattung des Schembartläufers. Eine Darstellung in Johann Bischoffs Nürnberger Stadtchronik zeigt, was es damit im Besonderen auf sich hat.
Zwar lässt sich nicht entscheiden, welcher der drei Hauptleute des Jahres 1489 hier dargestellt ist, in Frage kämen Jobst Topler, Jörg Rösler oder Sebaldt Deichler, aber der eigentliche Zweck des Blattbüschels ist gut ersichtlich: Es diente verstecktem Feuerwerk als Tarnung. Eine Gebrauchsanleitung lieferte der Nürnberger Büchsenmeister Franz Joachim Brechtel (1554–1593) in seinem erstmals 1591 erschienenen Handbuch der „Büchsenmeisterey“, der den zum Vergnügen und Schrecken der Schaulustigen mitgeführten Feuerkolben minutiös beschreibt: Der gedrechselte Kolben bestand aus Holz, in das Öffnungen gebohrt wurden, die mit Feuerwerk, nach ihren Trägern „Schönbart-Rörlein“ benannt, befüllt waren. Sie wurden mit Papierlunten angezündet. Mehrere Schüsse waren möglich. Diese brennenden Kolben in der Hand mitführen zu dürfen, war ein hohes Privileg, das der Rat offiziell oftmals nur den Schembartläufern erlaubte. Man darf mutmaßen, dass die Verstöße gegen dieses Gebot zahlreich waren.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass der Schembartlauf und seine Überlieferungstradition einzigartig sind. Es gibt im spätmittelalterlichen Deutschland tatsächlich kein zweites Bürgerfest, von dem sich vergleichbar viele Text- und Bildzeugnisse erhalten hätten. Schembartläufe kommen in ihrer Bedeutung den örtlichen, nahezu zeitgleich einsetzenden Fastnachtspielen gleich. Fanden diese in vielen anderen Städten Nachahmer, blieb der Schembartlauf bis heute eine Nürnberger Spezialität. |