Herakles am Scheideweg

(The Choice of Heracles/Hercules; Hercule à la croisée des chemins)

Übersicht

Texte zum Thema

Bildliche Umsetzungen

Bild-Text-Verbünde bei Sebastian Brant und im Umfeld

Varianten des Bild-Text-Ensembles vor allem im 16. Jahrhundert

In der Emblematik

Ins Christentum gerichtete Adaptationen

Das Y alleingestellt

Die Weggabelung

Einflüsterungen

Kombinationen mit verwandten Motiven

Die Ähnlichkeit mit der Herakles- / Y-Figur ist nur scheinbar

Weiterleben in der bildenden Kunst

Herakles am Scheideweg in der Musik

Epilog

Literatur zur Forschung

 

Texte zum Thema

Die Zweiwegelehre hat heidnisch-antike wie jüdisch-christliche Wurzeln:

Xenophon (gest. nach 355 BCE), »Memorabilien« (= Erinnerungen an Sokrates) 2, 1, 21–34.

Als Herakles im Begriffe stand, aus dem Knaben- in das Jünglingsalter überzutreten, in dem die Jünglinge bereits selbständig werden und zeigen, ob sie den Weg der Tugend oder des Lasters zu ihrem Lebenswege machen wollen, sei er an einen einsamen Ort hinausgegangen, habe sich daselbst niedergesetzt, unschlüssig, welchen von beiden Wegen er einschlagen solle.

Da habe er zwei Frauen auf sich zukommen sehen; die eine war schön anzusehen und edel, ihr Leib war rein, ihre Augen schamhaft, ihre Haltung sittsam; ihre Kleidung war weiß. Die andere war wohlgenährt bis zur Fleischigkeit und Üppigkeit, sie war geschminkt, so dass sie weißer und röter sich darzustellen schien, als sie wirklich war, und ihre Haltung so, daß sie gerader zu sein schien als von Natur; die Augen habe sie weit offen gehabt und ein Kleid aus feinem Stoff getragen, aus dem die jugendliche Schönheit hindurchschimmerte; wiederholt habe sie sich selbst angesehen, aber auch sich umgesehen, ob sie auch ein anderer beschaue, oft habe sie auch nach ihrem eigenen Schatten hingesehen.

Die üppige Dame möchte Herakles verführen zu einem angenehmen Leben; die edle Frau stellt ihm Anstrengungen auf dem Weg zum Glück in Aussicht usw. – Den ganzen Text kann man in der Übersetzung von Otto Güthling (1883) hier nachlesen
> https://www.projekt-gutenberg.org/xenophon/erinneru/chap003.html

Bekannt war die lat. Fassung von Cicero, de officiis I,118, mit dessen Kritik vgl. unten (4a).

Das Exzerpt aus Xenophon mit der Hercules-Geschichte kursierte in lateinischen Übersetzungen seit der Mitte des 15.Jhs. in Hss.; vgl. David Marsh, in: Virginia Brown, Paul Oskar Kristeller u.a., Catalogus Translationum Et Commentariorum: Medieval and Renaissance Latin Translations and Commentaires, Vol. 7, Washington, D.C. 1992, pp. 164ff. und Wuttke S. 118ff. – Der griechische Text der Memorabilia wurde erst 1516 im Druck ediert.

Matthäus-Evangelium 7,13–14: Geht hinein durch die enge Pforte. Denn die Pforte ist weit und der Weg ist breit, der zur Verdammnis führt, und viele sind's, die auf ihm hineingehen. Wie eng ist die Pforte und wie schmal der Weg, der zum Leben führt, und wenige sind's, die ihn finden!

Schon in Jeremias 21,8 ist das Bild ausgeprägt: Siehe, ich lege euch vor den Weg des Lebens und den Weg des Todes.
Sprüche 28,6. 18 erscheinen die zwei Wege als fest geprägter Terminus.
In der altjüdischen Literatur ist das Bild ziemlich häufig, vgl. [Hermann Strack] / Paul Billerbeck, Kommentar zum Neuen Testament aus Talmud und Midrasch, 6 Bde., München 1922–1961, Bd. I, 460–464.

Wegen ihrer multiplizierenden Potenz sei aus der Fülle der Belegstellen hervorgehoben die Stelle bei Isidor von Sevilla, »Etymologien« (I,iii,7), der sagt, dass der rechte Weg beschwerlich (dextra pars ardua) ist, der linke bequemer (facilior):

Υ litteram Pythagoras Samius ad exemplum vitae humanae primus formavit; cuius virgula subterior primam aetatem significat, incertam quippe et quae adhuc se nec vitiis nec virtutibus dedit. Bivium autem, quod superest, ab adolescentia incipit: cuius dextra pars ardua est, sed ad beatam vitam tendens: sinistra facilior, sed ad labem interitumque deducens. De qua sic Persius ait (3,56):

Et tibi qua Samios deduxit littera ramos,
surgentem dextro monstravit limite callem.

Der Kirchenvater Basilius von Cäsarea († 379), »Mahnwort an die Jugend über den nützlichen Gebrauch der heidnischen Literatur« (Ad adolescentes), kennt die Geschichte:

4. Kapitel […] der Sophist von Chios [Prodikos] hat sich irgendwo in seinen Schriften ähnlich zur Tugend und zum Laster geäußert; auch ihm müssen wir unsere Aufmerksamkeit schenken; denn der Mann ist nicht zu verachten. Sein Bericht – ich entsinne mich nur des Inhaltes; denn vom Wortlaut weiß ich nur soviel, daß er schlicht und in ungebundener Rede gesprochen – besagt etwa folgendes: Dem jungen, etwa euch gleichaltrigen Herkules seien in der Schwebe, welchen Weg er einschlagen solle, ob den beschwerlichen Weg zur Tugend oder den andern, ganz leichten, zwei Frauen erschienen, nämlich die Tugend und das Laster. Obschon sie geschwiegen, hätten sie schon in ihrem Äußern ihre Verschiedenheit verraten. Die eine, künstlich aufgeputzt und verschönt, sei vor Lust und Schmachtung fast vergangen und hätte in ihrem Gefolge einen ganzen Haufen von Vergnügen gehabt, habe diese und noch mehr angeboten, um so den Herkules an sich zu locken. Die andere sei mager und schmucklos gewesen und ernst ihr Blick, und sie hätte ganz anders gesprochen: sie habe nichts Leichtes und Angenehmes in Aussicht gestellt, sondern unzählig viel Schweißtropfen und Mühen und Gefahren allüberall zu Wasser und zu Lande; aber zum Lohne dafür würde er, wie jener Bericht lautet, ein Gott werden. Ihr nun sei Herkules bis zu seinem Tode gefolgt.

Des heiligen Kirchenlehrers Basilius des Grossen ausgewählte Schriften, aus dem Griechischen übers., (Bibliothek der Kirchenväter, 1. Reihe, Band 47) Kempten / München: Kösel / Pustet 1925.

Notkers († 1022) Kommentar zu Martianus Capella:

»Literam quoque quam prudens samius .i. phitagoras estimauit asserere uim mortalitatis. in locum proximum sumit.« Sî nám ouh nâh témo chi . dén bûochstáb tén phitagoras . fóne samo insula . uuânda dero ménniscôn lîb zéigôn . íh méino . y. dér fóne éinemo zínken in zuêne síh spáltet . álso óuh ter ménnisco nâh tero chíndiskûn éinfalti . éinuueder gefáhet zu zéseuuûn . also zu uuínsterûn. dáz chît ad uirtutes . álde ad uitia

Ausgabe von Sehrt / Strack 1935, S.124; Handschrift: Stiftsbibliothek S.Gallen, Codex 872, fol. 91; Digitalisat der Hs.: https://www.e-codices.ch/de/csg/0872/91

Der Gesprächspartner "Franciscus" des Dialogs in Petrarcas »de secreto conflictu curarum mearum« (1347–1353 entstanden) erkennt, dass er mit dem pythagoreischen Y den Irrtum in seinem Lebens beschreiben kann:

Franciscus: Litere velut pithagoree, quam audivi et legi, non inanem esse doctrinam. Cum enim recto tramite ascendens ad bivium pervenissem modestus et sobrius, et dextram iuberer arripere, ad levam – incautus dicam an contumax? – deflexi; neque michi profuit quod sepe puer legeram:

Hic locus est partes ubi se via findit in ambas;
dextera que Ditis magni sub menia ducit.
Hac iter Elysium nobis; at leva malorum
exercet penas, et ad impia Tartara mittit.

(Aeneis VI, 540ff.; Siyblle weist Aeneas die Wege ins Elysium und in den Tartarus)

Hec nimirum, quanquam ante legissem, non tamen prius intellexi quam expertus sum. Ex tunc autem obliquo sordidoque calle distractus et sepe retro lacrimans conversus, dextrum iter tenere non potui, quod cum deserui, tunc, profecto tunc, fuerat illa morum meorum facta confusio. […]

Augustinus: Sed cum obstupuisses ad illius occursum, cur ad levam potissimum deflexisti? Franciscus: Puto quia proclivior videbatur et latior; dextera enim et ardua et angusta est.

Lat. Text > https://petrarch.petersadlon.com/read_secretum.html?s=3

Secretum meum. lateinisch - deutsch; herausgegeben, übersetzt und mit einem Nachwort von Bernhard Huß und Gerhard Regn, Mainz: Dieterich'sche Verlagsbuchhandlung 2004; Kommentar S.456f.; 2. Aufl. 2013.

Johannes Heynlin aus Stein (* um 1430 † 1496)

Beschreibung des Weges zum Rosengarten. Dieser Weg lässt sich durch einen einzigen Buchstaben bezeichnen, das Y, ein Buchstabe, der von dem trefflichen Philosophen Pythagoras erfunden sein soll und von den Griechen hypsilon, von den Lateinern y greca, vom Volk aber oya genannt wird. Damit ihr ihn aber erkennt, er hat Ähnlichkeit mit einem Zweizack oder einer auf diese Weise geöffneten menschlichen Hand (hier hob der Prediger die Hand in der Weise, dass der Daumen abstand, die vier langen Finger geschlossen aneinanderlagen), ein Stumpf also, von dem zwei Hörner ausgehen. Diese Figur ist ein Sinnbild des menschlichen Lebens. Denn sie bezeichnet zuerst einen gemeinsamen, dann zwei sich teilende Wege. In dem ersten, der durch das Handgelenk veranschaulicht wird, wandeln wir von unserer Geburt an bis zu den Jahren der Entscheidung, dann teilt sich der Weg, da entspringen die beiden Hörner des Buchstabens.
Der eine der beiden Wege geht nun nach rechts, das ist der Weg der Tugend, er ist sehr eng und schmal und schwer zu beschreiten, aber er führt zu der himmlischen Wonne.
Der andre geht nach links, der ist breit und lieblich zu begehen und er führt nach unten zum Rosengarten der Welt, hernach aber hinab zur Hölle.
Wenn wir nun bis ans Ende des ersten Weges gekommen sind, so stehen wir vor der schweren Frage, welchen beschreiten? und somit vor einer Überlegung, die von allen die schwierigste ist, wie Cicero im ersten Buch der officia sagt. Hier finden wir nun zwei Führer auf uns warten: einen guten Engel und einen bösen, den Verführer. Beide suchen uns zu überreden, ihnen zu folgen, allein der Böse verblendet unser Auge, sodass wir den schmalen Pfad nicht sehen, und so geraten wir auf den breiten, der nach dem Rosarium mundi führt
.

Max Hossfeld, Johannes Heynlin aus Stein. Ein Kapitel aus der Frühzeit des deutschen Humanismus, in: Basler Zeitschrift für Geschichte und Altertumskunde VII (1908), S. 177f. > https://www.e-periodica.ch/digbib/view?pid=bzg-002:1908:7::486#183

Johann Georg Zimmermann (1728–1795), »Über die Einsamkeit« (1785) Dritter Theil, Zehntes Capitel: Vortheile der Einsamkeit für den Geist

Zwey Wege hast du vor dir. Jenen dort, der zwischen düftenden Gärten und Lustwäldern hinleitet, der dir die schönsten Ruheplätze anbietet, von manngfaltigem Grün, und mit Rosen bewachsen. Musik, Tanz, und Liebe, locken da überall; jenen Weg gehen die meisten. Wenige trifft man auf dem zweiten Wege an, der holperigt ist, und steil; man kommt nur langsam darauf fort, und fällt oft von den Felsen herab, wenn man glaubt, man sey schon weit. Wilde Ochsen begegnen dir da brüllend; das Geschrey der Waldesel hallet durch Berg und Thal; allenthalben umgiebt dich das Gekrächze der Raben, und das Gezische der Schlangen, und ein ganzes Fliegenvolk, Hornissen, Wespen, und Mücken; eine weite schwarze Einsamkeit macht dir jede Aussicht schauerlich. Der schöne Weg dort, zwischen den Gärten, ist der Weg der Welt; der rauhe Weg hier, ist der Weg der Ehre. Jener führet mitten in das gesellschaftliche Leben, in Aemter und Bedienung, bey Hofe und in der Stadt; dieser immer tiefer in die Einsamkeit. Auf jenem wirst du, ein süsser allbeliebter Mann, auch wohl ein Schurke; auf diesem wirst du verhaßt, miskennt, und ein Mann nach meinem Herzen.

Gottfried Keller, »Kleider machen Leute«

Da stand er nun, gleich dem Jüngling am Scheidewege, auf einer wirklichen Kreuzstraße; aus dem Lindenkranze, welcher die Stadt umgab, stiegen gastliche Rauchsäulen, die goldenen Turmknöpfe funkelten lockend aus den Baumwipfeln; Glück, Genuß und Verschuldung, ein geheimnisvolles Schicksal winkten dort, von der Feldseite her aber glänzte die freie Ferne; Arbeit, Entbehrung, Armut, Dunkelheit harrten dort, aber auch ein gutes Gewissen und ein ruhiger Wandel; dieses fühlend, wollte er denn auch entschlossen ins Feld abschwenken. Im gleichen Augenblicke rollte ein rasches Fuhrwerk heran; es war das Fräulein von gestern, welches mit wehendem blauem Schleier ganz allein in einem schmucken leichten Fuhrwerke saß, ein schönes Pferd regierte und nach der Stadt fuhr. Sobald Strapinski nur an seine Mütze griff und dieselbe demütig vor seine Brust nahm in seiner Überraschung, verbeugte sich das Mädchen rasch errötend gegen ihn, aber überaus freundlich, und fuhr in großer Bewegung, das Pferd zum Galopp antreibend, davon.
> https://www.projekt-gutenberg.org/keller/kleider/kleid008.html

Lukian von Samosata (um 120 u.Z.) dreht die beiden Aspekte um. Hier ist die attraktivere Seite nicht die schäbig in Lumpen gehüllte und mühselig arbeitende Figur, sondern die prachtvoll gekleidete Dame:

Lukian blickt in seiner Autobiographie zurück auf die Hinwendung zur Gelehrsamkeit (paideia) in seiner Jugend. Er entstammte einer einfachen Familie und wollte wie sein Onkel Bildhauer werden. Doch da ihm ein Werkstück unter der Hand zerbricht, wird er von diesem mit der Peitsche geschlagen. Er läuft nach Hause und schläft über seinem Gram ein. Da hat er einen Traum.

Es erscheinen zwei Frauen und versuchen, ihn mit Gewalt zu sich zu ziehen.

Die erstere hatte ein arbeitsames und männisches Ansehen, ihre Haare waren schmutzig, ihre Hände voller Schwielen, ihr Rock hoch aufgeschürzt, ihre ganze Person mit Kalk bestäubt; kurz, sie sah geradeso aus wie mein Oheim, wenn er Steine polierte. Die andere hingegen war eine Frau von feiner Gesichtsbildung, von edelm Anstand und zierlich gekleidet. Endlich wurden sie zu meinem Glücke einig, es auf mich selbst ankommen zu lassen, bei welcher von beiden ich bleiben wollte.

Die eine Frau ist die personifizierte Bildhauerkunst die andere die Paideia, die verspricht:

vorzüglich aber werde ich dein edelstes Teil, dein Herz, mit Mäßigung, Gerechtigkeit, Frömmigkeit, Sanftmut, Billigkeit, Klugheit und Standhaftigkeit, mit der Liebe zum Schönen und mit Aufstreben nach jeder Vollkommenheit zieren; denn diese Tugenden sind der Seele wahrer unvergänglicher Schmuck. […] alles das wolltest du von dir stoßen, um in einen armseligen groben Kittel zu kriechen, einen sklavenmäßigen Anstand anzunehmen, Hebel und Grabeisen und Schlägel und Meißel in den Händen zu führen, immer den Kopf auf deine Arbeit gebückt mit Leib und Gemüt am Boden zu kleben...

Ihr wendet sich Lukian entschieden zu. Die Handwerkskunst knirscht mit den Zähnen. Und Paideia lässt ihn auf einem Wagen durch die Lüfte fahren und kleidet ihn prächtig.

https://de.wikisource.org/wiki/Lukians_Traum (übersetzt von Christoph Martin Wieland)

Bildliche Umsetzungen

Die bildliche Umsetzung der Zweiwegelehre hat unterschiedliche Ausprägungen.

Es können auch die beiden Frauengestalten aus Prodikos’ Erzählung bei Xenophon dargestellt sein: eine üppige (gern nackte) und eine karge (züchtig bekleidete) Frau.

Die Vorstellung des Buchstabens Y findet sich als prägnant ausformulierter Text zuerst bei Persius (34–62), Satire III, Vers 56f. Er schreibt (gegen die verweichlichte römische Jugend):

et tibi quae Samios diduxit littera ramos
surgentem dextro monstrauit limite callem.

Auch zeigte dir jener Buchstabe, der die pythagoreischen Äste auseinanderklaffen [ließ >] lässt, durch seinen rechten Strich den emporsteigenden Bergpfad.

Kommentar: littera ist das Subjekt von diduxit. – Samios ramos (Akkusativobjekt): Pythagoras stammt aus Samos. – diduxit: ›diducere‹ ›auseinandersperren‹; der resultative Charakter des Perfekts deduxit (wie im Griechischen) wird als Präsens wiedergegeben. – dextro limite: mit dem rechten Strich.

In den beiden Versen sind bereits die Bildpotentiale angelegt, die später immer wieder vorkommen: littera: der Buchstabe Y – rami, diducere: die gegabelten Zweige am Baum – callis: der Weg – surgens: aufsteigend, bergan – dexter: rechts.

Die sparsamste Variante zeigt nur den (von Pythagoras oder einer Trägerfigur emporgehaltenen) Buchstaben Y. — Das Y kann ausgestaltet sein als zwei Zweige an einem Stamm: der eine verdorrend, der andere blühend.

Es kann eine Weggabelung in einer Landschaft gezeigt werden, entweder schlicht oder mit entsprechenden Stationen ausgebaut.

Die Konnotationen von rechts und links: Zu erinnern ist an

  • die Szene der Kreuzigung: Zur Linken von Jesus ist der böse Schächer mit verkrümmtem Körper, ggf. empfängt ein Teufelchen seine aus dem Mund austretende Seele – zu seiner Rechten ist der reuige Schächer (apokryph Dismas genannt), zum Himmel aufblickend, ggf. mit Heiligenschein.
  • Szene des Jüngsten Gerichts: zur Linken des Haupts von Gottvater ein Schwert; zur Rechten eine Lilie. – Die Sünder werden zu seiner Linken abgeführt; die Guten wandeln zu seiner Rechten ins Paradies.
  • Herakles: Es gibt zwei Varianten. Variante (1): vom Betrachter aus ist der Tugendweg rechts (so bei Jakob Locher) links (so bei Gerard de Jode, J.-J. Boissard); – Variante (2): vom zum Betrachter blickenden Herakles aus ist der Tugendweg rechts, das heißt: rechts im heraldischen Sinne (so bei Lucas Cranach, G.Rollenhagen, Ch. Murer, C. Meyer). So auch bei T. Stimmer, aber mit der Komplikation, dass sich Herakles ins Bild wendet.

Eine spezielle Ausprägung der Idee ist die, dass zwei Wesen der Figur, die sich zu entscheiden hat, Gedanken einflüstern.

Das werden wir jetzt dann alles auf dieser Bildstrecke antreffen:

Bild-Text-Verbünde bei Sebastian Brant und im Umfeld

P.Virgi.M. De littera y.

Ein pseudo-vergilisches Gedicht; ediert in der Vergil-Ausgabe des Sebastian Brant Straßburg 1502. (Der Text galt im 16. Jh. als antik; er wird noch von Cesare Ripa zitiert. Moderne Datierungen schwanken zwischen dem 5. und 11. Jh.)

Littera Pythagorae discrimine secta bicorni,
Humanae vitae speciem praeferre videtur.
Nam via virtutis dextrum petit ardua callem
Difficilemque aditum primum spectantibus offert,
Sed requiem praebet fessis in vertice summo.
Molle ostentat iter via lata, sed ultima meta
Praecipitat captos; voluitque per ardua saxa.
Quisquis enim duros calles [casus] virtutis amore
Vicerit, ille sibi laudemque decusque parabit.
At qui desidiam luxumque sequetur inertem
Dum fugit oppositos incauta mente labores
Turpis inopsque simul miserabile transigit aevum.

Publij Virgilij maronis opera cum quinque vulgatis commentariis … expolitissimisque figuris atque imaginibus nuper per Sebastianum Brant superadditis, … 1502.
> https://digi.ub.uni-heidelberg.de/diglit/vergil1502/0855/image

Hans Sachs hat das am 24. Juli 1534 so umgedichtet:

Der buchstab Pitagore Y, bayderley straß, der tugent und untugend.

Virgilius, der best poet,
Gantz klerlichen beschreiben thet
Zu undterricht der zarten jugend
Beyde der wollüst und der tugendt
Durch ein kriechischen buchstab (wist!),
Der hie oben verzeichnet ist,
Welchen Pitagoroß erfand
Und wirt ein ypsilon genandt,
Virgilius der spricht (versteh!):
Dieser buchstab Pytagore
Ist oben zerspalten von weytten
Gleich wie zway hörner auff baid seyten,
An zu schawen, sam zeig er, das
Menschlichs lebens zwayerley straß.

Erstlich der hoch weg zayget an
Der tugend straß, der ghrechten pan;
Die bringet erstlich im anfang
Entgegen ein hertten angang;
Den müden aber gibt er rhu.
So sie kummen hin nauff darzu
Der höchsten tugentsamen spitzen,
Da mügen sie geruhsam sitzen.

Die ander straß gar senfft und weit
Zeigt uns an die wollustbarkeit.
Aber das letst zil stürtzt die armen
Ab durch die felsen an [ohne] erbarmen.

Wer nun der hertten fell entpfind,
Durch lieb der tugend uberwind,
Der wirt im zu ewigen zeitten
Lob, ehr und grosses preiß bereyten.
Wer aber in faulkeyt besteht
Und dem schnöden wollust nach geht,
Sich vor der tugent arbeit hüt
Mit unfürsichtigem gemüt,
Der selbig arm, elend und schendlich
Verzeren muß sein alter endlich.

So end sich des poeten dicht,
Ein schöne kurtze undterricht
Zwischen dem wollust und der tugend
Zu Warnung der blünden Jugend,
Die allmal ein falsch urtail feit,
Wollust für tugend ausserwelt.

Der tugent straß haist streng und hart,
Langwillig und trawriger art;
Derhab sie auch mit grossem hauffen
Der schnöden woüst nach ist lauffen.
Die Straß dünckt sie süß, senfft und gut.
Darauff verdirbt manch junges blut.

[…]

Hans Sachs, Werke hg. Adelbert von Keller Band III, S.92–94 (Bibliothek des Litterarischen Vereins in Stuttgart CIV), Tübingen 1870.

Sebastian Brant, »Narrenschiff« (1494); Kapitel 107 (moderne Zählung) Von lon der wisheit

Zůr rechten hand fyndt man die kron
Zůr lyncken hant / die kappen ston
Den selben weg / all narren gon
Vnd fynden entlich / bœsen lon

> http://www.hs-augsburg.de/~harsch/germanica/.../Brant/bra_n107.html

> http://daten.digitale-sammlungen.de/bsb00036978/image_295

Der Text bei Brant nimmt ausführlich Bezug auf Hercules. Die beiden Zweige des Y werden mit Krone und Narrenkappe markiert; auf der (im heraldischen wie moralischen Sinne) rechten Seite steht ein schlicht gekleideter Gelehrter mit Buch / links ein protzig gekleideter Mann ohne Buch; wenn der Hintergrund etwas besagt: rechts vor einem Wald / links vor einer Stadt.

Tobias Stimmer hat in der überarbeiteten Ausgabe 1547 (hier Der CVI. Narr) das Bild verändert: Der Mann auf der Narren-Seite hält ein Buch / der Mann auf der rechten Seite in bürgerlichem Gewand hält kein Buch; allerdings hat er auch die Hintergründe ausgetauscht.

Das passt besser zu den Eingangsversen Brants (und zu seinem Zitat 1.Cor 3,19: Sapientia hujus mundi stultitia est apud Deum):

Noch grosser kunst steltt mancher thor
Wie er bald werd meyster/ doctor/
Vnd man jnn haltt/ der weltt eyn liecht

Welt Spiegel/ oder Narren Schiff darinn aller Ständt schandt vnd laster/ vppiges leben/ grobe Narrechte sitten/ vnd der Weltlauff/ gleich als in einem Spiegel gesehen vnd gestrafft werden: alles auff Sebastian Brands Reimen gerichtet; Aber/ […] Durch den hochgelerte Johan. Geyler in Lateinischer sprach beschrieben. Jetzt aber mit sonderm fleiß auß dem Latein inn das recht hoch Teutsch gebracht […] Durch Nicolaum Höniger von Tauber Königshoffen, Basel: Heinricpetri 1574.

In einer späten Neufassung des Narrenschiffs sieht das so aus:

Wol-geschliffener Narren-Spiegel. Worinnen hundert und vierzehen Arten allerley Narren Ihr Eben-Bild und ungestaltes Wesen ersehen und sich von ihrer Unsauberheit vermittelst des klaren Wassers Wahrer Weißheit reinigen können […]. Freystadt/ Gedruckt in diesem Jahr.

> http://digital.wlb-stuttgart.de/purl/kxp1760720968

Zur Autorschaft und Datierung: In seiner Lebensbeschreibung sagt Wilhelm Stettler (1643–1708), er habe anlässlich seines Aufenthalts in Straßburg bei Abraham Aubry (1638–1682) mit anderen zusammen Zeichnungen zu Dr. Brands Narren=Schiff … in Kupfer gemacht; er selbst über 100. und etliche Figuren.

In der lateinischen Übersetzung des Narrenschiffs von Jacob Locher (1497) wird Herkules träumend gezeigt; eine Erfindung Brants, der sich von der Szene des Paris-Urteils hat inspirieren lassen (vgl. Panofsky S.58ff.)

Stultifera navis, a Jacobo Locher, cognomento Philomusum Suevum in latinum traducta translata, cum suppletionibus eiusdem Sebastian Brant, Basel: Johann Bergmann 1497.

fol. 130r: Concertatio virtutis cum voluptate

Vorzüglich erschlossenes Digitalisat der TU Darmstadt:
> http://tudigit.ulb.tu-darmstadt.de/show/inc-ii-219

(Erste) Bildunterschrift:

Wettstreit von Virtus und Voluptas

Betrachte den Kampf der Virtus und der schamlosen Voluptas, sieh sodann ihre eitlen Freuden! Herkules° so lesen wir, sah, als er einmal schlafend dalag, [vor sich] zwei unterschiedlich schwierige Wege. Die Beschaffenheit und das Ende beider und sein Leben und Ziel bedenkend, begann er den Weg der Virtus zu gehen. (Übersetzung von N. Hartl)

°) Ἀλκεΐδης, lat. Alcides, ist ein Beiname des Herakles (als ›Enkel‹ des Alkaios von Tirynth); hier Akkusativ Alciden, abhängig von legimus + AcI.

Bild:

Auf der Bild-Ebene der Wirklichkeit liegt ein Mann mit Rüstung (den Helm mit Helmbusch hat er abgelegt) – Herakles – schlafend auf dem Boden (Rüstung: auch Bezug zur Vorstellung des ›miles christianus‹?). Die beiden Hügel mit Frauen gehören zur Bild-Ebene des Traums.

Die Bild-Ebene ist bildnerisch und inhaltlich zweigeteilt. Das entspricht den Ausdrücken concertatio (Titel) und conflictum (Z.1) sowie ambiguas / difficilesque.

Ein Weg verzweigt sich und führt auf zwei Hügel.

Der (vom Betrachter aus gesehen linke = falsche) Weg ist breiter und auf ihm gibt es keine Steine. Auf dem Hügel steht eine bis auf ein Band, das die Scham halb verdeckt, unbekleidete junge Frau (Gesicht ohne Falten) – gemäß dem Text die Wollust (voluptas) - vor einem blühenden Busch, aus dem ein Skelett (= der Tod) hervorschaut (vgl. im Text: gaudia vana). Darüber entlädt sich ein Gewitter.

Der rechte (= richtige) Weg ist schmaler und steinig. Auf dem Hügel steht eine bis auf das Gesicht verhüllte alte Frau (Gesicht mit Falten) - gemäß dem Text die Tugend (virtus) - vor einem Gestrüpp. In der rechten Hand hält sie eine Kunkel, symbolisch für die häusliche Arbeit. Darüber wölbt sich ein Sternenhimmel.

Die im Text berichtete - hier im Traum stattfindende - Erwägung (scrutans) und Entscheidung (virtutis coepit inire viam) kann im Bild nicht dargestellt werden. Auf anderen Bildern weist Herakles mit einer Handgeste auf die rechte Seite.

Nina Hartl, Die »Stultifera navis«: Jakob Lochers Übertragung von Brants »Narrenschiff«, Teiledition und Übersetzung. Münster u.a.: Waxmann 2001 (2 Bände); Nr. 114: Concertatio Virtutis cum Voluptate = Herakles am Scheideweg = Band I, S. 150ff. / II, S. 316–333 [Text und dt. Übersetzung]

Varianten des Bild-Text-Ensembles vor allem im 16. Jahrhundert

Holzschnitt von Hans Burgkmair d. Ä. zu dem in Prosadialogen gestalteten, den jungen Karl (geboren 1500; ab 1520 Kaiser Karl V. HRR), Maximilians I. Enkel, ermahnenden Spiel »Virtus et Voluptas«.

Johann Pinicianus (1477/78 – 1542), Carmen ad libellum ut sibi patronum querat. Virtus et voluptas. Carmen de origine ducum Austriae et alia. Carmen de armis Venetorum, Augustae: Joh. Othmar 1511.

> http://daten.digitale-sammlungen.de/bsb00013835/image_11

Vgl. Franz Joseph Worstbrock, Artikel »Pinicianus, Johannes« in: Deutscher Humanismus 1480-1520. Verfasserlexikon Band 2 (2009ff.), Sp. 445-465.

Johann von Schwarzenberg (1463/65 – 1528) gestaltet das Bild ohne weibliche Personifikationen:

Das Büchle Memorial, das ist ein angedänckung der Tugend, von herren Johannsen vonn Schwartzenberg jetzt säliger gedächtnuss, etwo mit Figuren und reimen gemacht, Augsburg: H.Steiner 1534.
> http://daten.digitale-sammlungen.de/bsb00029340/image_253

Vgl. das Bild in der Trogener Handschrift:
> https://www.e-codices.unifr.ch/de/cea/0013//47r

Aus der Welt(Kugel) hält die eine Hand Dornenzweige, die andere eine Schatulle (mit Münzen?)

Dazu gehören die Banderolen oben; die "Welt" spricht:
Stät bistu in der tugent paw/
Drumm gib ich dir die dörner raw.
[die rauhen Dornen]

Deine dienst thuon mir gefallen/
Darumb lon ich dir vor allen.

Der Mann an der Stelle des Herakles sagt:
Ich acht nit hoch der tugent preiß/
Wann jr belonung find ich leiß.
[≈ schwächlich]

Der mit einem einfachen Rock gekleidete alte Mann links spricht:
Der wirt mit warheit weiß genenet/
Der tugent übt biß an sein end.

Der höfisch ausstaffierte Geck rechts sagt:
Ich lob die welt vnnd jre kind/
Vnd schreib mich stäts jr hofgesind.

Ganz im Gegenteil muss Herakles bei Lucas Cranach dem Älteren (1472–1553) zwischen zwei Frauen sich entscheiden:

Sollicitant iuvenem virtus ac blanda voluptas (≈ Es irritieren den Jüngling die Tugend und die einschmeichelnde Sinnlichkeit.) Quelle: Wikimedia

Lorenzo Lotto malt 1550 eine »Allegoria degli appetiti dell’anima razionale« (Washington, National Gallery of Art)

Hier sind die beiden Orientierungen durch den grünenden und den abgebrochenen Teil eines Baumes realisiert;
auf der guten Seite beschäftigt sich ein nacktes Kind mit Zirkel, Winkelmaß und dergleichen;
auf der schlechten Seite ergibt sich ein Faun dem Trunk; im Hintergrund ein Schiffbruch.

> http://upload.wikimedia.org/.../Lorenzo_Lotto_-_Allégorie.....JPG

In der Emblematik

 

Gerard de Jode (1509–1591), Mikrokósmos = Paruus mundus, Antwerpen: de Jode 1579.

Hercules elegit virtutis callem = Hercules wählte den Pfad der Tugend. Als Hercules unter einer Fichte schlief, erblickte er auf der einen Seite die Göttin der Tugend, die ihm einen schwierigen Weg in die Höhe wies, auf der anderen Seite Venus, die ihm einen angenehmen Weg zeigte, der jedoch abschüssig ist und ins Verderben führt.

> http://www.uni-mannheim.de/mateo/desbillons/mikro/seite54.html

Mit deutscher Übersetzung von Martin Meyer 1670:
> https://babel.hathitrust.org/cgi/pt?id=uiuo.ark.....;view=1up;seq=112

Nikolaus Reusner (1545–1602), Aureola Emblemata, Thobiae Stimmeri Iconibus affabre effictis exornatus, Straßburg: B. Jobin 1587.

Die Wege links und rechts sind im heraldischen Sinne als bös und gut konnotiert, so wie auf den Bildern, wo Herakles den Bildbetrachter anschaut und wie ein Lehrer sagt: rechts ist der gute Weg.

Tobias Stimmer zeigt den Herakles, als hätte sich dieser eben umgedreht, in Rückenansicht (repoussoir). Das fordert den Betrachter auf, sich mit Herakles zu identifizieren. – Aber die Konnotationen von rechts und links stimmen so nicht mehr.

> http://www.uni-mannheim.de/mateo/camena/reus4/jpg/s021.html

> http://daten.digitale-sammlungen.de/bsb00071517/image_31

Der Holzschnitt von Tobias Stimmer erscheint zuerst in: Johann Fischart, Affenteurliche und Ungeheurliche Geschichtschrift vom Leben, rhaten und Thaten der ... Helden ... Grandgusier ... Gorgantoa u. Pantagruel, [Straßburg] : [Jobin] 1575.
> https://www.digitale-sammlungen.de/de/view/bsb00047235?page=292,293

dann in Fischarts Ehzuchtbüchlein (1578; weitere Auflagen 1591, 1597);

dann in Holtzwarts Emblematum Tyrocinia (1581). (Weitere Auflagen 1591 und 1600.)

Gabriel Rollenhagen / Crispin de Passe, Nucleus Emblematum, Arnheim 1611/13; I,14

Nescio quo me vertam

Ich weiss nicht, wohin ich den Sinn wenden soll, hierhin ruft die überaus mühselige Tugend,
dorthin Venus und herrliche Schwelgerei.
Du aber, wenn du klug bist, ahme die Arbeiten des Herkules nach,
Verachte das Vergnügen und fliehe die Lustbarkeit.

In griechischen Buchstaben über Herakles steht πότερον (póteron) = ›einer von beiden‹ / ›welcher von beiden‹ / ›ob … oder‹.

> https://archive.org/stream/veridicvschristi00davi#page/64/mode/2up

unter dem Titel: Sinn-Bilder hg. und übersetzt von Carsten-Peter Warncke (Bibliophile Taschenbücher 378), Dortmund 1983.

Aegidius Albertinus (1560–1620) zitiert in seinem Hiren schleifer, München Niclas Hainrich 1618 die antike Geschichte nur gerade an und zieht sonst ähnliche biblische Vorstellungen bei.

Der Titel lautet: Der Hercules schläfft vnder einem baum. Der Text zum Bild beginnt: Es sahe der H.Johannes in seiner Offenbarung am 12.Cap. zwey Weiber/ die waren einander sehr vngleich/ die eine ward ein Braut deß Bräutigams genennt/ die andere aber ein Huer: Die Braut des Lambs verzehrte ihr Leben in der Einöd/ mit Müh vnnd Arbeit: Die andere aber in allerhandt Wollüsten […].

> https://books.google.ch/books?id=...de&source=gbs_navlinks_s

Der Kupferstecher hat die beiden Frauengestalten mit Dornen bzw. Blumen umgeben; hinter der tugendhaften erhebt sich ein Berg. Aber die Symbolik des Baums (blühender/verdorrender Ast) hat er nicht ganz erfasst.

1622 verfertigen der Glasmaler Hans Heinrich Rordorf und der Verleger Johann Rudolf Wolf ein Emblembuch, dessen Bilder sie aus Bühnenbildern zu einem nie aufgeführten Drama von Christoph Murer (1558–1614) beziehen, die Murer für eine vorgesehene Druckausgabe bereits in Kupfer gestochen hatte – und holprige Verse dazu schreiben.

XXXIX. Wäg zum Leben oder Todt – VIA VITAE vel MORTIS

Hercules/ der verrümbte Held/
Als er sich an den Scheidweg stelt/
Seins gefallens solt erwellet han/
Der Tugendt als der Laster ban:
Als er betracht jhr beyder end/
Hat sich zum weg der Tugendt gwendt.

XL Emblemata miscella nova. Das ist: XL underschiedliche Außerlesene Newradierte Kunststuck: Durch Weiland den Kunstreichen und Weitberuempten Herrn Christoff Murern von Zürych inventiret unnd mit eygener handt zum Truck in Kupffer gerissen; An jetzo erstlich Zuo nutzlichem Gebrauch und Nachrichtung allen Liebhabern der Malerey in Truck gefertiget/ vnd mit allerley dazu dienstlichen aufferbaulichen Reymen erkläret: durch Johann Heinrich Rordorffen/ auch Burgern daselbst. Gedruckt zuo Zürych bey Johann Ruodolff Wolffen. Anno .DC.XXII
> http://dx.doi.org/10.3931/e-rara-10598

Literatur: Thea Vignau-Wilberg, Christoph Murer und die ›XL Emblemata miscella nova‹, Bern: Benteli 1982, S. 107ff.

Murer hatte das Motiv auch (mehrmals) für Scheibenrisse gezeichnet. Herakles hier – im Gegensatz zur Radierung mit Löwenfell und Keule; die beiden Personifikationen in anderer Haltung. (Vgl. unten links das Familienwappen von Murer) :

> https://www.metmuseum.org/art/collection/search/335020

Ein weiterer Scheibenriss von 1595 mit dem Wappen der Familie Hirzel (Vignau-Wilberg Abb.127) befindet sich im Kunsthaus Zürich.

Aus dem kleinen Ratssaal Winterthur hat sich eine Ofenkachel erhalten, die dann Murers Bild und Text übernimmt:

Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung des Museums Lindengut Winterthur, in dessen Sammlungsdepot sich das Objekt heute befindet.

Jos Murer hatte der Virtus-Gestalt nicht nur einen Spinnrocken als Attribut beigegeben; vor ihr liegen Maurer-Werkzeuge (und gleich dort hat Murer signiert: CM). Seine Tugend liest in ihrem Buch BIBLIA, während ihre Winterthurer Kollegin – weitaus passender zu den vor ihr liegenden Werkzeugen – in ihrem Buch LABOR liest. Winterthur hatte offenbar immer schon eine positive Haltung zur Arbeit.

Vgl. Margrit Früh, Winterthurer Kachelöfen für Rathäuser (Diss. Uni Zürich 1977), in: Keramik-Freunde der Schweiz, Mitteilungsblatt Nr. 95 (Rüschlikon 1981); Tafel 22 / Abb. 34. > http://dx.doi.org/10.5169/seals-395155

Kupferstich von Conrad Meyer (1618–1689); Text von Johann Wilhelm Simler (1605–1672), Einer Tugendliebenden Jugend in Zürich, ab der Bürgerbibliothec für das 1652. Jahr, verehrt.:

Am Scheidwäg nit verfehl, die rechte Straß erwehl.

O, es wöll, es wöll der Himmel! daß, zuo diser Zweyfelzeit,
die bald heüratreiffe Jugend von dem Scheidewäg nicht weit,
nicht verfehl der Tugendstraß, die zwar rüher
[rauher] wird geschetzet
alß die sanfte Wollustbahn; aber nicht wie selbe letzet
[Übles zufügt].
Tugendstraß zum Leben führet, in des Abrahamen Schoß
[Luk 16,22],
da, wie Lazarus zuo werden höchster Freüden mitgenoß.
Aber jenner Wollustwäg, wie gebahnet er gepreiset,
mit dem Schlämmer in den Teich, ach! in Schwäfelteich verweiset.

Dazu: Martina Sulmoni, "Einer Kunst- und Tugendliebenden Jugend verehrt". Die Bild-Text-Kombinationen in den Neujahrsblättern der Burgerbibliothek Zürich von 1645 bis 1672, Bern: Lang, 2007 (Deutsche Literatur von den Anfängen bis 1700; Band 46), S.164–189.

Anders inszeniert derselbe Conrad Meyer die Wahl in Nutzliche Zeitbetrachtung / fürgebildet Durch Conrad Meÿern Maalern in Zürich [1675]:

Zu 20. Altersjahr heisst es: Da regt sich des Geistes kämpfen [.] Tugend mit den Lastern streit[et].

Der junge Mann verweist auf zwei Bilder (beachte die Handgesten!):
Das von einem teuflischen Wesen dargebotene Bild zeigt eine mit Pfauenrad gekrönte fischschwänzige Sirene, die einen Pokal mit Trauben darbietet.
Das von zwei Engeln präsentierte Bild zeigt den perasserischen Sohn beim Schweinetrog – er wird sich wieder auf den rechten Weg zurückwenden!

Unter dem Bild stickt die tüchtige Frau; der Anker mag die Constantia oder die Hoffnung bedeuten.

Der ganze Text hier > http://www.e-rara.ch/zuz/content/pageview/15596183

David Frölich (1595-1648) Bibliotheca, seu Cynosura Peregrinantium, hoc est, Viatorium, Ulm: Endter 1644.

> http://digitale.bibliothek.uni-halle.de/vd17/content/pageview/9239713

Unter der züchtig gekleideten Frau mit dem zum Tempel führenden Berg im Hintergrund steht der berühmte Satz Per aspera ad astra – unter der üppig gekleideten Dame mit dem Lustgarten im Hintergrund steht Per læta ad letum [durch Freudiges zum Tod*].

Dazwischen steht neutral moniti meliora sequemur [≈ Ermahnt, werden wir das Bessere verfolgen.**]

*) Zur Paronomasie laetum / letum vgl. z.B. die Sequenz Zyma vetus expurgetur von Adam von St. Viktor (hier mit laetum als ewige Freude): Mane novum, mane lætum, / Vespertinum tergat fletum, / Quia vita vicit letum, / Tempus est lætitiæ (http://hymnarium.de/hymni-ex-thesauro/sequenzen/247-zyma-vetus-expurgetur)

**) moniti ist Zitat aus Aeneis III,188: cedamus Phoebo et moniti meliora sequamur.

Zum Titel: Cynosura: Polarstern, ist die Orientierungshilfe für Reisende.

Das Buch von Frölich enthält eine Apodemik, d.h. eine Unterrichtung, wie man reisen soll. Deshalb links im Bild die Statue von Merkur (mit Flügelhelm und Caduceus), der Gott (auch) der Reisenden; vgl.: Virgilio Masciadri, Hermes. Ein vielgestaltiger Gott der Antike (2013) hier als PDF

An der Wand hängt ein Bild mit der Herakles-Szene – der Text ist moralingesättigt, aber ausser: Er prüfet alles und behält das Beste. Er läßt sich von keinen Verheissungen verführen … gibt es keinen Bezug auf das Bild:

Jüngling und Jungfrau, Neujahrsblatt der Stadtbibliothek Zürich [1760], Kupfer von Salomon Gessner (1730–1788)

(Danke Andreas M. für den Hinweis! — Mehr zum Thema Bild-im Bild hier)

Ins Christentum gerichtete Adaptationen


Der Mensch muss sich zwischen Gesetz (Moses mit den Gesetztestafeln) und Gnade (IHC XCP; repräsentiert durch Johanens mit dem Schaf, das zur Schlachtbank geführt wird) entscheiden:

Theatrum vitae humanæ A I.I. Boissardo Vesuntino conscriptum, et à Theodoro Bryio artificiosissimis historiis illustratum. [Metz: Excussum typis Abrahami Fabri, Mediomatricorum Typographi 1596]
> https://hdl.handle.net/2027/uiuo.ark:/13960/t8mc9gs3b

Die eherne Schlange hinter Moses und der Gekreuzigte bilden ein typologisches Paar.

Mit ›P[ieter] Nagel [aktiv 1569–1604] fecit‹ ist dieses Bild signiert:

> https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Nagel_Law_and_grace.jpg

Der Mensch (ego miser; nicht Herakles) steht zwischen zwei Männern: Moses und Johannes dem Täufer. Die Bildunterschrift: Lex per Moisen data est; gratia et veritas per Iesvm Christvm Dominvm nostrvm

Auf der Moses-Seite: Sündenfall, Grab mit dem Skelett des Sünders; Moses weist auf die eherne Schlange (Numeri 21,6–9)

Auf der Christus-Seite: die Kreuzigung, der Auferstehende, der Tod der Hölle.

Eine Kombination von pythagoreischem Y und dem Motiv des Lebensbaums zeigt ein (von Schreiber auf ca. 1460 datierter) Einblattdruck:

Wien, Grafische Sammlung Albertina, Inv.-Nr.: DG1930/204
> http://tinyurl.com/jrq6feg

Der Jüngling mit dem Titulus der freiwille steht auf einem gegabelten Baum. Ein Spruchband lässt ihn sprechen: Ich habe czweyerhande wege | hilf got daz ich deʒ besten phlege.

Auf der heraldisch linken Seite ruft ihm ein Teufel namens Werrebald u.a. – eine Geldkiste darreichend – zu: wiltu nach meyme [ = meynem] wiln leben | so wil ich dir diz gelt czu eygen geben.
Auf der guten Seite spricht ein Engel u.a.: mensche kere dich czu mir | das hymelrich daz gebe ich dir.
(Oben links erscheint Gottvater als Verheissung.)

Der Baumstamm wird von zwei teuflischen Gestalten abgesägt; links und rechts zeigen die Bilder von Mond und Sonne, dass damit die Zeit gemeint sein könnte. (Das erinnert an das Motiv der schwarzen und weißen Maus, die den Lebensbaum in der Einhornparabel bei »Barlaam und Josaphat« absägen.)

Beschreibung bei Wilhelm Ludwig Schreiber, Handbuch der Holz- und Metallschnitte des XV. Jahrhunderts, Band 4: Holzschnitte darstellend religiös-mystische Allegorien, Lebensalter, Glücksrad, Tod, Kalender, Medizin, Heiligtümer, Geschichte, Geographie, Satiren, Sittenbilder, Grotesken, Ornamente, Porträts, Wappen, Bücherzeichen, Münzen, Leipzig Hiersemann 1927; Nummer 1867 unter dem Titel "Der Jüngling auf dem Lebensbaum"
> http://digital.ub.uni-duesseldorf.de/ihd/content/pageview/3558931

Interpretation von Nikolaus Henkel, Schauen und Erinnern. Überlegungen zu Intentionalität und Appellstruktur illustrierter Einblattdrucke des 15. Jahrhunderts, in: Einblattdrucke des 15. und frühen 16. Jahrhunderts. Probleme, Perspektiven, Fallstudien, hg. von Volker Honemann / Sabine Griese / Falk Eisermann, Tübingen 2000, S. 209–244.

Postum erscheint ein Werk von Laurentius von Schnüffis (1633–1702): Lusus mirabiles orbis ludentis. Mirantische Wunder-Spiel der Welt, vorstellend die zeitliche Eitelkeit und Boßheit der Menschen/ auch anweisend Zur wahren/ und ewigen Glückseeligkeit. Opusculum posthumum A V.P. Laurentij von Schniffis […] durch einen seiner Brüder zum Druck befördert und vermehrt. Auch mit schönen Kupffern gezieret, Kempten: Gedruckt durch Caspar Rollen, und in Augspurg zu finden bey Andreas Maschenbauer 1707. (Druckerlaubnis datiert 1702)

Im Vorwort seht: Die Welt unter denen Menschen ist anders nicht als ein eitel Spielwerck/ wie auf einer Schau=Bühne/ wo man eine Comœdie agiret/ allerhand Abwechslungen und Spiele fürgestellet werden. Einer kegelt/ der andere wirfft Kugeln. Jener spielt mit Karten/ diser mit Würffeln. […] Alles erzehlte aber/ und was mehr dergleichen ist/ bestehet in der Eitelkeit/ in dem Wahn und einer blossen Einbildung. – Dagegen setzt Laurentius sein Buch, in dem die Spiele allegorisch-moralisch gedeutet werden.

Das zweite Spiel ist Grad oder Ungrad. Vermutlich ist das Kinderspiel gemeint, das so geht: Ein Spieler hält eine Anzahl Murmeln in der Hand und fragt einen anderen, ob diese Zahl grad oder ungrad sei. Wenn richtig geraten wird, gewinnt der Rater eine Murmel; wenn falsch, verliert er eine.

Pater Laurentius deutet die ungrade Zahl allegorisch auf verschiedene Dinge, z.B. in Strophe 5: Creutz/ und Leiden/ Unglück und alles Ungemach/ Die in das Hetz offt tieff einschneiden Vorauß/ wo der Geist Gottes schwach: Dahero rathet man vil lieber Grad als ungrad in diesem Spil: Ungrad sie [die Menschen] schüttelt wie ein Fieber Und schreckt sie/ wie ein Crocodil – Strophe 11: Ungrad ist ein gewises Zeichen Der Liebe Gottes […] Grad ist gemeinlich bei Gottlosen.

> http://reader.digitale-sammlungen.de/de/fs1/object/display/bsb10119697_00005.html
> https://books.google.ch/books...LAURENTIUS+Lusus+mirabiles..._navlinks_s

Die Figur auf dem zugehörigen Bild zeigt auf die beiden Wege: Der des fröhlichen Hofmanns führt zu Flammenschwert und Zuchtrute – der des ein Kreuz Tragenden zu Palm- und Lorbeerzweig (?) im Strahlenkranz. Die Texte dazu: Auf Lust folgt Schmertz u: Leid | Auf Schmertz folgt Lust u: freid [Freude]. – Grad ist der weg der Höllen zu | Ungrad der weg zur Himmels ruh.

Das Y alleingestellt

Der gelehrte Buchdrucker Geoffroy Tory (1480–1533) wollte mit seinem der Typographie gewidmeten Buch »Champfleury« von den gebrochenen Schriften zu einer an der antike orientierten Typographie führen. Über Anweisungen zum Schnitt der Buchstaben hinaus gibt er auch allegorische Auslegungen der einzelnen Buchstaben.

Geoffroy Tory, Champ fleury. Au quel est contenu l’Art & Science de la deue & vraye Proportion des Lettres Attiques, qu'on dit autrement Lettres Antiques, & vulgairement Lettres Romaines proportionnees selon le Corps & Visage humain, Paris 1529.

Vorzüglich erschlossenes Digitalisat mit maschinenlesbarem Text (Bibliothèques Virtuelles Humanistes - Bibliothèque municipale de Blois):
>http://www.bvh.univ-tours.fr/Consult/index.asp?numfiche=649

Zum Buchstaben Y (Le Tiers Livre, Lettre Y, fol 62v) bringt er die pythagoreische Geschichte:

Pour vous bailler myeulx a cognoistre ceste Pytagorique / & divine lettre Ypsilon, je la vous ay figuree encores cy dessoubz et Imagineres que la jambe droicte & plus large est la voye de Adolescence, Le bras de la dicte Lettre qui est plus large, la voye de volupte. & le bras plus estroit / la voye de vertus / afin qu’en facez ung Festin pendu en l’estude & contoir de vostre bonne memoire, & vertueuse contemplation

Contemplez icy le gracieulx & beau Festin que je vous ay faict, o jeunes & bons amateurs de Vertus, & y prenez bien garde commant a la pante de la voye de volupte je ay figure & atache une espee, ung foit, des verges, ung gibet, & ung feu. pour monstrer qu’en fin de Volupte dependent & s’ensuyvent tous miserables maulx & griefz torments. Du coste de la voye de Vertus, je y ay faict une aultre pante, ou j’ay mis & atache en deseing & figure, ung chapeau de Laurier, des Palmes, des Sceptres, & une Coronne, pour bailler a cognoistre & a entendre, que de Vertus vient toute gloire pure, tout pris, tout honneur, & toute royalle domination.

Ein zweites Bild ist noch deutlicher:

Die drei Tiere, die den Aufstieg auf der guten Seite vergeblich zu hindern versuchen, sind angeschrieben mit (von unten nach oben): Libido – Superbia – Invidia.
> https://archive.org/details/champfleuryauque..../mode/2up

Nicolas du Chemin († 1576) druckt seit 1549 in Paris musikalische Werke; dabei verwendet er als Druckermarke das pythagoreische Y.

Der Text: Elige (wähle aus) — via lata (über den breiten Weg) poenam (die Bestrafung, Qual) / via arcta° (über den schmalen Weg) gloriam (die Ehre).
Via passt gut zum Namen des Druckers du Chemin!
°) arcta: sprl. Variante von arta

Missa cum quinque vocibus … auctore D. Claudio de Sermisy, Paris 1556. (Ausschnitt)
> http://gallica.bnf.fr/ark:/12148/btv1b55008880s

Mehr zu Buchdruckerzeichen hier

Jacob Bruck (ca. 1580 bis nach 1620)

Iacobi â Bruck Angermundt cogn. Sil. Emblemata moralia & bellica, nunc recens in lucem edita 1615.
> https://archive.org/details/iacobiabruckange00bruc

Hier führen die Enden des Y einerseits zu Palmzweig, Kronen, Kranz; anderseits zu Schwert mit darum gewickelter Fessel.

Links (betrachterseitig) ist ein römischer Triumphzug dargestellt, ein Zeichen großer Ehrerweisung; das Hausdach ist angeschrieben mit [regio? latus?] honoris – rechts steht eine Statue von Herakles mit Keule in der linken, den Äpfeln der Hesperiden in der rechten Hand und über den linken Unterarm gelegtem Löwenfell; das Hausdach ist angeschrieben mit virtutis.

Die Verse dazu [abgedruckt bei Henkel/Schöne, Emblemata, Sp. 1295]:

Virtute meremur honores ≈ Durch Tugend verdienen wir Ehre

Nach dem anfang ° wir finden balt/
Zwen Weg/ der breit zur Straffe schalt. °°
Der schmale ist der Tugendt Steg/
Die Tugendt ist der Ehren Weg.
Da erlangst du von Gott die Cron/
Zum Triumph in deß Himmels Thron.

°) Gemeint ist: bei Sonnenaufgang; nach dem französischen Text am Ende der Ausgabe von 1615 Si tost que nous voyons de Phœbus la lumiere. / Esclairer de nos yeux L'une & lautre paupiere Damit könnte gemeint sein: sobald man ins Alter der Vernunft kommt.
°°) ›zu Pein bzw. Tadel führt‹ (vgl. den Eintrag "schalten-1" im Grimmschen Wörterbuch)

Eine verspielte Variante des Y zeichnet Johann Theodor de Bry 1595:

Die Verse dazu deuten das Bild emblematisch, das selbst den Sinn nicht hergibt:

YPSILON ein Merckzeichen was/
Deß weisen Manns Pyhtagoras.
Zwenn Weg es zeigt/ darauff die Jugendt
Strecks einher geht/ der ein die Tugendt/
Der ander zeigt die Laster an/
Hütt sich darfür ein jedermann.
Vnnd lencke sich zur rechten Handt/
So wirrdt er weit vnnd breit bekandt.

> https://www.britishmuseum.org/collection/object/P_1868-0822-8615

Jean Jacques Boissard (1528–1602)

Das Sonett dazu:

LA FIN COURONNE L’OEUVRE.

NOus avons tous au monde une commune entrée:
Nature meine au jour par un mesme sentier
Et la race des Rois, & l’enfant du potier,
Autant entre nos murs qu’en estrange contrée.

Mais quand en aage meur la jouvence est entrée,
Un passage doublé fourche son train premier:
Et en ce carre-four se perdre est coustumier,
Qui pour l’estroicte voye, a l’ample rencontrée.

Le chemin en est beau, large, doux, & plaisant
Qui rid au passager: mais le sortit nuisant
Jette l’ame, & le corps au feu qui les devore.

L’estroit est de vertu le sentier espineux,
Qui couronne de vie en fin le vertueux:
C’est ce que considere en ce lieu Pythahore.

Emblematum liber […] avec l’interpretation Françoise, Metz: Jean Aubry & Abraham Faber 1588.
> http://www.emblems.arts.gla.ac.uk/french/emblem.php?id=FBOa006

Cesare Ripa (ca. 1555 – 1622), Iconologia. Overo Descrittione Di Diverse Imagini cauate dall'antichità, & di propria inuentione, Roma 1603:

Libero Arbitrio

La lettera Greca Y si aggiunge allo scettro per dinotare quella sententia di Pitagora Filosofo famoso, che con essa dichiarò che la vita humana haveva due vie, come la sopradetta lettera è divisa in due rami, del quale il destro è come la via della virtù, che da principio è angusta et erta, ma nella sommità è spatiosa et agiata, et il ramo sinistro è come la strada del vitio, la quale è larga et commoda, ma finisce in angustia et precipitii, sì come molto bene spiegano i versi, i quali si attribuiscono a Virgilio.
> http://digi.ub.uni-heidelberg.de/diglit/ripa1603

Mehr zu Cesare Ripa hier

Die Sibylle von Tibur hat neben sich auf dem Sockel das Y auf einem Podest stehen. Wozu das?

Templa meo Herculeum movit ° sub nomine Tibur.°°
     Divorum interpres clara ubi visa fui.

Das herkulische Tibur gelobte unter meinem Namen Tempel,
wo ich als berühmte Deuterin der Götter in Erscheinung getreten war.

°) movit ist ein Fehler; richtig vovit, darauf beruht die Übersetzung.

°°) weil es in Tibur ein Herkules-Heiligtum gab. Dafür steht das Y.

Johann Christoph Salbach, Philologischer-merckwürdiger Curiositäten/ Anhang und Fortsetzung Durch Beschreibung Der Sibyllen und andere dergleichen Wahrsagung Weibern-Geschichten/ Mit ihren Bildnüssen / Allen Liebhabern Historischer Wissenschafften zu Lieb aus der Englischen in die Hochteusche Sprach zum ersten mahl gebracht, In Verlegung, Ludwig Bourgeat, Universität-Buchführer in Mayntz 1678. S.26
> https://books.google.ch/books?.....=de&source=gbs_navlinks_s

Die Weggabelung

Weggabelung, beruhend auf dem Text Mattäusevangelium 7,13–14.

Jan David S.J. (1545? – 1613): Veridicvs Christianvs, Antverpiae: Ex officina Plantiniana 1601.

Deteriora fuge: et prudens Meliora sequare.
Quelle est la Iustice, Et le bon office/ Du parfait Chrestien?
Quil prenne bien visite/ De tout mal la fuitte/ Er quil face bien.

Die Großbuchstaben im Bildinneren verweisen auf den predigtartigen lat. Kommentar im umgebenden Text.

> https://archive.org/stream/nucleusemblematu00roll#page/n80/mode/1up

Choice emblems, divine and moral, antient and modern, or, Delights for the ingenious, in above fifty select emblems, curiously ingraven upon copper-plates: with fifty pleasant poems and lots, by way of lottery, for illustrating each emblem to promote instruction and good counsel by diverting recreation. London : Printed for Edmund Parker 1732.

Kommentar im Vorwort ›Upon the Frontispiece‹
> https://hdl.handle.net/2027/gri.ark:/13960/t1qf93j8r

Samuel Lutz (1674–1750 vgl. im HLS), Die geradeste, unbetriegliche und unzerbrüchliche Himmels-Leiter, von dem Gott aller Gnaden und Erbarmung angestellt, für alle, die es für sich nicht sicher zu seyn achten einen Tag länger in der finstern giftigen Grube des Verderbens im Sünden-Stande zu bleiben; Sondern grosse Lust haben ins Gnaden-Reich hinaufzusteigen, allwo im Ueberfluß alles Gute umsomst zu haben …, Schaffhausen: Hurter 1744.

> http://digitale.bibliothek.uni-halle.de/vd18/content/pageview/1545624

Auf jenem schmalen weg mein Pilgrim eile fort
Schau Jesus wartet dir mit offnen armen dort.

Auch hier führt der Weg links – wo die Aufsteigenden von teuflischen Gestalten versucht werden – zum Himmlischen Jerusalem / der Weg rechts zur Statt des verderbens und zum Zorn Gottes (Römer 1,18).

Zwischen der üblen und der guten Seite (oben): Der sich besinnende Sohn am Schweinetrog (Lukasevangelium 15,11ff.) lässt hoffen, dass man doch noch auf den besseren Weg wechseln kann.

Detail:   

Das Bild wurde übernommen in: Catechetische Kinder-Bibel, oder, Heilige Kirchen- und Bibel-Historien: In einem ordentlichen Zusammenhang, nebst einfaltigen Rand-Fragen, reichlichen Lehren und gottseligen Betrachtungen, sonderlich zum Dienst und Nutzen der lieben Jugend: Erster Theil. Bestehend in LXXXII. Historien Alten Testaments .../ heraus gegeben von Abraham Kyburz, Zürich: getruckt in Bürgklischer Truckerey 1763.
https://www.e-rara.ch/zuz/content/zoom/22967960

Bürgerbibliothek Zürich: Der Tugend und kunstliebenden Jugend von der Bürcher Bibliothec in Zürich Verehrt, beÿm Neuen Jahr 1753.

Der Tempel der Unschuld.

Hoch überm niederen Thal, der Wollust aufenthalt
Erhebt sein Haubt ein Berg von seltsamer Gestalt.
Der Weg hinauf ist eng und mit gesträuch bedecket,
An Obste reich genug, das aber widrig schmecket.
Wie wohl es in das Blut gesunde Nahrung trägt,
Und zu dem schweren Gang die Glieder mächtig regt.
Der Pfad wird leichter stets, itzt ist er nicht mehr wilde,
Itzt geht der sanfte Weg durch Paradies Gefielde.
Zu einem hohen Bau mit lichten Glantz umstreüt,
Der dort auf Saulen ruht, der frömmigkeit geweiht.
Die Priesterin des Orths voll zärtlichen Verlangen,
Steht vor des Tempels Thor die Gäste zuempfangen.

Detail: der Wollust aufenthalt:

Ein in vielen Stuben noch im vergangenen Jahrhundert verbreitetes Andachtsbild war die von Charlotte Reihlen (1805–1868) entworfene und von Paul Beckmann (1846–1919) ausgeführte Chromolithographie Der breite und der schmale Weg.

Hier nach der Hompage von Peter N Millward
> http://pictureswithamessage.com/78/cat78.htm?931

> https://bawue.museum-digital.de/object/3600

Oben das Auge Gottes mit dem Verweis auf 1.Petrus 3,12 (Denn die Augen des Herrn blicken auf die Gerechten und seine Ohren hören ihr Flehen; das Antlitz des Herrn aber richtet sich gegen die Bösen.)

Der Weg links führt durch das von Venus und Bacchus gezierte Tor, vorbei am Gasthof zum Weltsinn, bei dem gerade ein Maskenball ausgeschildert ist; an Theater und Spielhölle und Conversationshaus vorbei nach unter Blitzen brennenden und einstürzenden Städten.

Der Weg rechts führt vorbei an der Sonntagsschule, der Kinder-Rettungs-Anstalt und dem Diakonissenhaus ins Himmlische Jerusalem; alles mit Bibelzitaten kommentiert.

Betrüblicherweise gibt es, wenn man einmal links eingeschwenkt ist, kaum einen Durchgang zum schmalen Weg; immerhin an einer Stelle, wo ein Pastor auf ein Loch im Zaun hinweist. (Danke, Petra, für das Bild vom Flohmarkt!)

Detail:

Johann Amos Comenius (1592–1670):

Joh. Amos Comenii Orbis sensualium pictus. Hoc est omnium fundamentalium in mundo rerum & in vita actionum pictura & nomenclatura. Die sichtbare Welt / das ist / Aller vornemsten Welt=Dinge und Lebens=Verrichtungen Vorbildung und Benahmung, Nürnberg: Michael Endter 1658, Tafel CIX ›Ethica‹

Und noch 1832 heißt es: Dieses Leben ist eine Wanderschaft, oder ein Scheidweg, dessen linker Fußsteig breit, der rechte schmal ist; jener ist der des Lasters, dieser der Tugend. – Merke auf, Jüngling! ahme dem Herkules nach! verlaß den zur linken und verabscheue das Laster! Es ist zwar ein schöner Eingang, aber ein schändlicher und jäher Ausgang. […].

Neuer Orbis Pictus für die Jugend, oder Schauplatz der Natur, der Kunst und des Menschenlebens in 316 lithographirten Abbildungen mit genauer Erklärung in deutscher, lateinischer, französischer und englischer Sprache nach der früheren Anlage des Comenius bearbeitet und dem jetzigen Zeitbedürfnisse gemäß eingerichtet von J. E. Gailer, Reutlingen: J. C. Mäcken 1832. Nr. 257.

Spezialfälle:

In der bebilderten Ausgabe der Übersetzungen von Cicero, »de officiis« von Johann von Schwar[t]zenberg ( † 1528) wird III, iii, 13ff: so zusammengefasst: Das pflichtgemäße Handeln, das die Stoiker als vollkommen bezeichnen, findet sich nur bei den vollkommenen Weisen; jenes, das als mittelmässig bezeichnet wird, findet sich auch bei Menschen, die nicht von Natur aus weise und tugendhaft sind, sich aber darum bemühen.

Das Bild visualisiert diesen Gedanken nicht präzis, sondern gibt eine sehr allgemein gehaltene (christliche) Version davon, dass man nicht vom rechten Weg abweichen soll: Auf dem Weg zum Herrgott (mit Weltkugelsymbol) pilgern Geistliche, ein Ritter, eine Schwangere und andere Leute; links und rechts zweigen (zwei!) Wege ab. Bewaffnete Männer lauern und stechen auch zu; vorne rechts der brennende Höllenschlund mit mehreren Personen, daneben ein teuflisches Monstrum, das die Pilger auf dem Weg zum Himmel mit einem Speer zu stechen versucht.

Officia M. T. C. Ein Buoch/ So Marcus Tullius Cicero der Römer/ zuo seynem Sune Marco. Von den tugentsamen ämptern vnd zuogehörungen eynes wol vnd rechtlebenden Menschen/ in Latein geschriben/ Welchs auff begere Herren Johansen von Schwartzenbergs &c. verteütschet/ Vnd volgens/ Durch jne in zyerlicher Hochteütsch gebracht/ Mit vil Figuren vnnd Teütschen Reymen/ gemeynem nutz zuo guot in Druck gegeben worden. Augspurg: Heynrich Steyner 1531, Fol. LXV verso

Im Emblembuch des Ludovicus van Leuven, Amoris divini et humani antipathia, Antwerpen 1629 werden die beiden Wege auf zwei Bilder verteilt:

  

Dvas ciuitates, duo faciunt Amores;
Hierusalem facit Amor Dei, Babylonem facit Amor sæculi.

Im Kontext und mit englischer Übersetzung auf
> http://emblems.let.uu.nl/ad1629_1_004.html
> http://emblems.let.uu.nl/ad1629_1_005.html

Ebenfalls auf zwei Bilder verteilt ist das Motiv im Titelkupfer hier

Helden-Liebe Der Schrifft Alten Testaments, in 16. anmuthigen Liebes-Begebenheiten mit beygefügten curieusen Anmerckungen, Poetischen Wechsel-Schrifften, und so viel saubern Kupfern vorgestellet und ausgearbeitet von Heinrich Anshelm von Ziegler und Kliphausen, Leipzig: Gleditsch und Weidmann 1715.

Die Verse unter den Bildern

links:
So fährt die keusche brunst zur krone himmel an
weil ihre Tugenden kein grab bedecken kan.

rechts:
So fährt der geilheit bildt zur düstern Schweffel grufft
wenn den entweichten Leib der Todt zu grabe rufft.

Die beiden Arten der Liebe werden im Buch in den Briefwechseln (!) beispielsweise zwischen Isaak und Rebekka bzw. David und Bathseba abgehandelt.

Auf dem Bilderbogen aus Épinal »Les 3 Chemins de l’Eternité« sind es drei Wege:

Der skandalumwitterte Christian Friedrich Hunold (1680–1721), berüchtigt als galanter Kritiker der barocken Moralität, setzt 1718 in seine Ausgabe

Auserlesene und theils noch nie gedruckte Gedichte unterschiedener Berühmten und geschickten Männer zusammen getragen und nebst seinen eigenen an das Licht gestellt von MENANTES, Erstes Stück Halle im Magdeburgischen Neue Buchhandlung [1718]

folgendes Titelkupfer, wo die beiden Wege am Ende wieder zusammenführen:

> http://www.mdz-nbn-resolving.de/urn/resolver.pl?urn=urn:nbn:de:bvb:12-bsb10111708-3

Erklärung des Kupfers. An den Leser.

Die Poesie zeigt dir den breiten Weg/
Der voller Anmuth stecket.
Doch Hercules geht eine rauhen Steg;
Der aber keinen Edlen schrecket.
Bist du geschickt/ so gehe beyde.
Wo nicht/ so meide
Der Poesie beliebte Bahn.
Alcides [ = Herkules] steigt getrost den Felsen an;
Er tritt zuerst auf Drachen.
Ihm folgt ein Held; dem werden Rosen lachen/
Wo itzo Dornen stehn/
Er wird vergnügt/
Nachdem er sich besiegt/
Zur Weisheit und zur Tugend gehn.

In der Vorrede bringt er die bekannten Topoi zum Thema Nutzen der Poesie für einen tugendhaften Lebenswandel, dann fügt er hinzu, er wolle zeigen, Daß die Poesie ihre Liebhaber auf einem breiten und angenehmen Wege zur Weisheit und Tugend führe. Und: Man könne zur Weisheit und Tugend, nach welcher Hercules mit vieler Mühe auf einem rauhen Wege steiget, einiger massen durch die Poesie auf eine vergnügtere Weise gelangen.

Literaturhinweis: Wilhelm Voßkamp, Artikel »Christian Friedrich Hunold (Menantes)« in: Harald Steinhagen / Benno von Wiese (Hgg.), Deutsche Dichter des 17. Jahrhunderts. Ihr Leben und Werk, Berlin: Erich Schmidt 1984, S.852–870.

Einflüsterungen

Eine Variante der Ikonographie der Entscheidungsfindung lässt die Weggabelung Y weg und zeigt nur zwei einflüsternde Figuren; eine mit üblen, und eine guten Ratschlägen.

Der Zeuge schwankt hin- und hergerissen zwischen Engel und Teufel , ob er die Wahrheit oder eine Lüge sagen soll:

Ulrich Tengler, Laijen Spiegel. Uon rechtmässigen ordnungen in Burgerlichen vnd peinlichen regimenten. mit allegationen vnd bewerungen auß geschribnen rechten vnnd gesatzen, [Straßburg: Hupfuff 1511?]; Fol. XXXVII verso
> http://dspace.ut.ee/handle/10062/48877

(Hinweis bei Franz Heinemann, Der Richter und die Rechtsgelehrten, Leipzig 1900, Abb. 87)

Auch hier versuchen ein Engel und ein Teufel (mit Blasbalg) einen Ritter zu beeinflussen:

Erasmus / [übersetzt von:] Johannes Adelphus, Enchiridion oder handbũchlin eins Christenlichen vnd Ritterlichen lebens, Basel: Adam Petri 1520.
> http://daten.digitale-sammlungen.de/bsb00025752/image_24

Aus dem »Weißkunig«. Dieser autobiographisch zu verstehende Text berichtet von der Geburt, der Kindheit und der Jugend und von der Herrschaft und den Kriegstaten Kaiser Maximilians I. (1459–1519). Das unvollendete Buch wurde erst 1775 gedruckt (die originalen Holzschnitte; Text in Neusatz). Das Leonhard Beck († 1542) zuzuschreibende Bild zeigt den jugendlichen Maximilian im Unterricht: Wie der Jung Weiß kunig lernet die Schwartzkunst.

Links (vom Betrachter aus gesehen) ein altes Weib, auf dem ein Teufelchen hockt, bedeutend die Schwarze Kunst ein verdambnus der Seel, vnd ein laster vnd verfuerung der menschen
rechts steht ein Mönch in Kutte mit Buch, darüber ein Engel, vertretend die wissenschaftliche Astronomie/logie.

Der Text von Marx Treitzsaurwein sagt zu dieser Entscheidungsfindung – ein viel diskutiertes Thema der Zeit – nichts.
Quelle: Der Weiß Kunig, Wien 1775. – Reprint: Edition Leipzig 1985; S. 66d und Abb. 15.

Kampf zwischen Engel und Teufel, die einen Menschen am Opferstock zu beeinflussen suchen:

Basler Meister um 1450; aus: 100 Meisterzeichnungen des 15. und 16. Jhs., aus dem Basler Kupferstichkabinett, Auswahl und Text von Hanspeter Landolt, Basel 1972; Nr. 2.

Die beiden zum Guten weisenden wie zum Bösen verführenden Personifikationen überleben in Karikaturen im Comic-Strip / in der "bande dessinée" für Kinder:

Milou zwischen zwei Anfechtungen; Zeichner Hergé (1907–1983)

Mucki hatte einen merkwürdigen Traum. Oder war es doch Wirklichkeit? Als er nachts erwachte, standen zwei Gestalten an seinem Bett. Ein fröhlicher kleiner Kerl auf der einen Seite, und ein düsterer Geselle auf der anderen..... (Sie heissen Bono und Malo.) Mucki surrte der Kopf von den vielen Ratschlägen und nach eienr Weile schlief er wieder ein.

Bild der Serie MUCKI, in der Wochenzeitschrift »Schweizer Familie« 1959–1961; Bild und Text von Paul Michel (senior, 1906–2000).

Auch in der politischen Karikatur ist Herakles lebendig:

Der französische Präsident Giscard d’Estaing rät dem ›Deutschen Michel‹, auf den Engel der Moral mit dem Friedenspalmzweig in der Hand zu hören und keine Waffen zu exportieren, ... — Karikatur von Horst Haitzinger (*1939) im »Nebelspalter« 1981 / Heft 6, S.7. (Veröffentlicht mit freundlicher Genehmigung des Satiremagazins Nebelspalter vom 26.1.2016)

Ergreifend sind Einflüsterungs-Szenen in Otto Waalkes’ »Otto – Der Film« (1985):

(Das Video ist aufgrund des Urheberrechtsanspruchs von Universum Film nicht verfügbar.)

Kombinationen mit verwandten Motiven

Die Kombination des Y mit einem Baum kann auf der ›Bedeutungsaffinität‹ (W. Harms 1975, S.100f.) des pythagoreischen Buchstabens mit dem Baum der Erkenntnis des Guten und des Bösen (Genesis 2.9 und 17) basieren.

Auf dem Titel von Martin de Vos / Johann Sadeler [Kupferstecher], Boni et mali Scientia et quid ex horum cognitione a condito mundo succreverit declaratio, Antverpiae 1583 ist der Baum, unter dem Adam und Eva (melancholisch) sitzen, in Form eines Y gestaltet; unten erkennbar die Schlange mit dem angebissenen Apfel im Maul; auf der Tafel steht das Y mit der Beischrift Humanæ vitæ species (≈ So ist das Leben des Menschen beschaffen). > Digitalisat: Wellcome Library, London, V0025305

Eine interessante Kombination von Y und Leiter-Allegorie im Flugblatt »L’Eschelle du Ciel & de l’Enfer« (1603);

Die zum Laster verführende Personifikation L’Orgveil de la Vie sitzt auf einem Pfau – die nach unten in einen Höllenrachen führende Leiter hat als Holme La conuoitise des yeux und Le desir de la cher [chair ›Fleisch‹]; sie beginnt mit der Sprosse Curiosité, weitere Sprossen sind z.B. Joie illicite, Mesdicance, Rebellion.

Die vom Engel Grace de Dieu empfohlene nach oben führende Leiter beginnt mit der Sprosse Haine de peché und führt über Charité zu Gott (als Tetragramm JHWH).

> https://www.bavarikon.de/object/bav:KVC-LUT-0000000000035320

Vgl. Illustrierte Flugblätter aus den Jahrhunderten der Reformation und der Glaubenskämpfe. Herausgegeben von Wolfgang Harms. Bearbeitet von Beate Rattay. Kunstsammlungen der Veste Coburg 1983; Nummer 116.

Antoine Sucquet S.J. (1574-1627) publiziert ein von Boetius van Bolswert (ca. 1580-1633) reich illustriertes Erbauungsbuch. Auf dem Titelblatt ist die Zweiwegelehre – kombiniert mit der Ikonographie der Kebestafel – zu sehen:

Antoni Sucquet e Societate Iesu Via vitae aeternae / iconibus illustrata per Boëtium a Bolswert, Antuerpiae: Typis Martini Nutij 1620.
> https://archive.org/details/antonisucqueteso01sucq/page/n8

Der Verleger der deutschen Übersetzung Weeg deß ewigen Lebens. Erstlich in Latein beschriben durch Antonium Sucquet, Nun aber in die Teutsche Sprach Ubersetzt Durch Carolum Stengelium, Augspurg: Langenwalder 1626 hat das Bild "abgekupfert", wie üblich seitenverkehrt, so dass nun der zur Seligkeit führende Weg nach links beginnt.
> https://reader.digitale-sammlungen.de/de/fs1/object/display/bsb11292477_00003.html

Theodor de Bry (1528–1598). Hier versuchen die Religio mit einer Kette und eine hübschen Puella mit einem Fädelein einen jungen Herrn (auf der Kugel der Fortuna?) zu sich zu ziehen:

Theodor de Bry, Emblemata Nobilitati Et Vvlgo Scitv Digna singulis historijs symbola adscripta & elegantes versus historiam explicantes […] Stam Vnd Wappenbuchlein […], Francoforti ad Moenum 1593.
>
http://www.diglib.hab.de/purl.php?dir=drucke/uk-sbd-2-1s&image=00231

ADOLESCENTIA: Der junge Mann wird an einer Kette von der Personifikation der Kirche (?) und auf der linken Seite an einem Faden von einem hübschen Fräulein gezogen. Im Hintergrund eine Vogelfalle:

Unbekannter Maler, ca. Mitte 17.Jh.

Dieser junge Galan steht auf einer bereits umgekippten Weltkugel ♁ und wird gezogen an einer Kette von einem Geistlichen und an einem Faden von einem Fräulein:

Die iungfraw mit ein faden zart
Zwingt mich mehr dan ein ketten hart.

Nieuwen ieucht spieghel [Neuer Spiegel für die Jugend], Arnheim: Janssen 1617, Emblem Nr. 45
> http://emblems.let.uu.nl/nj1617045.html#folio_pb209

Der berühmte englische Schauspieler David Garrick (1717–1779) war auf der Bühne ebenso gut in tragischen wie in komischen Rollen. Joshua Reynolds (1723–1792) malte 1760/61 das Bild »Garrick Between Tragedy and Comedy«, a playful parody of the classical story of Hercules choosing between pleasure and virtue, designed to emphasise Garrick’s versatility.)

Ach, wohin soll ich mich wenden?

Ein unbekannter Graphiker zeigt (ca. 1800/05) den Epikuräer, der nicht weiss, welcher Lust er sich zuwenden soll: "par où commencerai-je?" – dies ist bereits eine ins Karikaturistsche umgesetzte Frage der Entscheidung von Alternativen. – Das Bild an der Wand zeigt "Buridans Esel", der sich nicht zwischen zwei Futtertrögen entscheiden kann, und dabei verhungert: l’âne entre 2 mesures d’avoine.

Musée Carnavalet, Histoire de Paris
> https://www.parismuseescollections.paris.fr/en/node/898032

Hinweis bei: Eduard Fuchs, Die Karikatur der europäischen Völker. 1: Vom Altertum bis zur Neuzeit, Berlin: Hofmann 1901; Abb. 245.

Die Ähnlichkeit mit der Herakles- / Y-Figur ist nur scheinbar


Titelbilder von Luther-Bibeln, wie das der Lübecker Bibel, gedruckt von Ludwig Dietz 1533 (Vgl. Heimo Reinitzer, Biblia deutsch. Luthers Bibelübersetzung und ihre Tradition = Ausstellungskatalog der Herzog August Bibliothek 40, Wolfenbüttel: HAB 1983; Nummer 96).

Altes Testament Neues Testament

Moses empfängt die Gesetzestafeln

Sündenfall

Skelett auf einem Sarg

der Baum auf dieser Seite ist dürr

der Engel (mit Kreuz) verkündet lichtstrahlend Maria die Geburt Jesu

der Gekreuzigte

die Auferstehung

der Baum auf dieser Seite ist belaubt

 

Die Anlage des Bilds ähnelt oberflächlich der Herakles-am-Scheideweg-Ikonographie. Aber die Ähnlichkeit täuscht! Hier geht es nicht um eine Entscheidung.

Auf der Seite des AT ist der Aspekt Gottes als eines fordernden und strafenden dargestellt; auf der Seite des NT der Aspekt des schenkenden, gnädigen. Das ist gemäß Luthers Lehre keine Alternative. Gesetz und Evangelium gehen zusammen. Das Gesetz zeigt die grundsätzliche Sündhaftigkeit auf, es rüttelt auf, treibt zu Christus hin, der die Sünden gnadenhaft vergibt und der im gläubigen Menschen das vom Gesetz geforderte Gute tut. Das Evangelium tröstet nur den, der durch das Gesetz seine Sünde kennen gelernt hat. (Vgl. Reinhold Seeberg, Die Lehre Luthers, Leipzig 1917, S.201ff.; Erich Seeberg, Luthers Theologie, Band II, Stuttgart 1937, S.411ff.)

Der Holzschnitt aus der Schule von Lucas Cranach (ca. 1528/1532) ist ebenso zu verstehen:

Moses mit den Gesetzestafeln, der Tod und ein Teufeltreiben einen nackten nackten Mann in die Höll; im linken Hintergrund der Sündenfall Johannes mit einem nackten Mann, der auf den gekreuzigten Christus oben rechts zeigt; unten rechts erhebt sich Christus aus dem Grab
aus dem Text unten: Die sunde ist des todes spies/ Aber das gesetz ist der sundne krafft aus dem Text unten: Tod/ wo ist dein spies? Helle/ wo ist dein sieg?

 

> https://www.britishmuseum.org/collection/object/P_1895-0122-285

Farbiges Ölbild in: Cranach Digital Archive
> https://lucascranach.org/de/DE_KSW_G12a/

Lucas Cranach d.J. (nach 1547): In der Mitte steht hier nicht der zweifelnde Herakles, sondern der sicher wissende und weisende Luther. Luthers Gestus zeigt deutlich, wohin der Weg der wahren Kirche und derjenige der falschen führt (im Höllenschlund deutlich Mönch mit Tonsur, der Papst mit Tiara usw.).

> http://www.zeno.org/nid/20003960536

Zur Geschichte des Motivs umfassend: Heimo Reinitzer, Gesetz und Evangelium. Über ein reformatorisches Bildthema, seine Tradition, Funktion und Wirkungsgeschichte, Hamberg 2006 (2 Bände).

Weiterleben in der bildenden Kunst

Niccolò Soggi (ca. 1480 – 1552)

> https://commons.wikimedia.org/...Niccolo_Soggi,_...Bode-Museum_-_DSC02467.JPG

Kupfer von Nicolas Mignard (1605—1668) nach dem Fresko von Annibale Carracci (1560–1609) im Palazzo Farnese in Rom

> https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons,...Nicolas_Mignard...jpg

Das Vorbild: http://images.zeno.org/Kunstwerke/I/big/76m059a.jpg

VIA PERDITIONIS ET VIA SALUTIS — Zwen Weeg/ deren einer zum Verderben/ der ander zum Leben führet.

Kupferstich, Augspurg: D.Custos 1617; abgebildet bei W.Harms / J.R.Paas / M.Schilling / A. Wang, Illustrierte Flugblätter des Barock. Eine Auswahl, Tübingen: Niemeyer 1983; S.34f.

Die dekolletierte ›Dame Welt‹ (beachte das astronomische Symbol der Erde ♁ auf dem Haupt) zeigt dem Kavalier den blüten-bestreuten Weg, der zum Höllentor führt; der Engel weist auf den Weg, der vorbei an Dornen zur gegen die bösen Geister geschützten Gottesstadt führt. Ein lateinischer Text in Distichen und ein deutscher in Knittelversen sind dem Bild beigegeben:

Der junge Mensch ist zweiffels voll/
Vnwissend/ welchen Weeg er soll
Zu gehn fürnemmen/ dann das Weib/
So hie gebildet schön von Leib/
Jm zeigt der Welt Stoltz vnd Pracht.
Vnd jhm weltliche Wollust macht/
So honig süß/ bildet jhm ein/
Wie er mög allzeit frölich sein/
Vnd gut täg haben in seim leben/
Wann er jhr Gehör solte geben/
So führt sie jhn den Weeg zur Höllen.
Zu jhm sich aber thut gesellen/
Auff andrer seit/ ein guter Geist/
Der jhm den Weeg zum leben weißt/
Mahnt jhn von der Welt Wollust ab/
Ein schmalen vnd sehr rauchen Weeg/
Doch sey es der recht Himmel steg.

Literatur: Wolfgang Harms, Das pythagoreische Y auf illustrierten Flugblättern des 17. Jahrhunderts, in: Antike und Abendland, Band 21 (1975), S.97–110.

Welches Bild hat Johann Jakob (Giacomo) Frey (1681–1752) kopiert?

> https://de.wikisource.org/wiki/ADB:Frey,_Johann_Jacob

Pompeo Girolamo Batoni (1708–1787):

> https://www.liechtensteincollections.at/sammlungen-online/herkules-am-scheidewege
> https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/5/57/Pompeo_batoni_-_Hercules_at_the_crossroads.jpeg

Beim Kupfer von Johann Heinrich Lips (1758–1817) nach der Zeichnung von Robert Strange (1721–1792) in Johann Caspar Lavaters Physiognomischen Fragmenten handelt es sich offensichtlich um eine Kopie des Ölbilds von Nicolas Poussin (circa 1636/1637):

> http://dx.doi.org/10.3931/e-rara-36208

Interessant ist, was Lavater aus seiner Sicht dazu schreibt!

Laßt uns sehen, was unser Maler gleistet hat […]. Herkules in der Mitte! In dieser Stellung, diesem Wuchs, dieser vollen, unermüdlichen, immer neuen männlichen Kraft -- wahrhaftig eine treffliche Figur! Wie schicklich hält er die eine Hand aufm Rücken, stützt sich mit der anderen auf die Keule! welch einen glücklichen Mittelzustand von Arbeit und Ruhe drückt diese ganze Figur aus. Welche Festigkeit ohne Anstrengung! Welche Kraft ohne drohende Furchtbarkeit!
Die ganze Stellung ist eines Mannes, der sich nicht Leichterdinge zu der großen Wahl entschließen, und des inneren Leidens ungeachtet, lieber ausdauern, als sich übereilen will. Wie viele Würde, Ausdruck und Vollkommenheit vereinigt sich in dem mit Lorbeern zu dem Gedanken künftiger edler Taten eingeweihten Haupte, und in dem horchenden Vorhängen desselben!
Welche Klugheit, Stärke und Entschlossenheit sitzt auf der Stirn! wie sanft mischt sich Unschlüssigkeit, Sehnsucht, Furcht, Staunen unter die Aufmerksamkeit, die ihm die Tugend abzugewinnen scheint. Die Nase harmoniert mit der Stirn! Solche Stirnen: solche Nasen! --
In dem ein wenig zu weit links gezogenen Munde allein erscheint ein Keim von Unzufriedenheit über die unerbittlichen Forderungen der Tugend; solche Offenheit übrigens ist des Horchenden, der zugleich überlegt.
Die Augen staunen den großen Ideen nach, welche die Tugend in seiner Seele erweckt hat! Aber ihr erloschener Glanz und besonders ihre starre unbestimmte Richtung zeigt den noch unvollendeten Kampf an. Er darf der Tugend niemals ins Gesicht sehen, um seinet und um ihres Willen, bis ihr Sieg über ihn vollkommen ist.
Indessen wendet er sich auch nicht einmal mit einer unruhigen Regung gegen die Nebenbuhlerin: das kleinliche Kinn allein benimmt dem Gesichte von seiner Männlichkeit, und ließe etwas Günstiges für die Wollust hoffen.

Johann Caspar Lavater, Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 1. Leipzig u. a., 1775; Seite 124ff.
> https://www.deutschestextarchiv.de/.....lavater_fragmente01_1775?p=189

Herakles am Scheideweg in der Musik

Georg Friedrich Händel (1685–1759), »The Choice of Hercules« (1751)

> http://www.hyperion-records.co.uk/dc.asp?dc=D_CDA67298 (Mit vorzüglichem Begleittext)

Epilog


Die ›Weltoffenheit‹ des Menschen: Giovanni Pico della Mirandola (1463–1494), »de dignitate hominis« (dt. Übers. von Hans H. Reich):

Also ließ der Werkmeister sich auf den Entwurf vom Menschen als einem Gebilde ohne unterscheidende Züge ein; er stellte ihn in den Mittelpunkt der Welt und sprach zu ihm: ›Keinen festen Ort habe ich dir zugewiesen und kein eigenes Aussehen, ich habe dir keine dich allein auszeichnende Gabe verliehen, Da du, Adam, den Ort, das Aussehen, die Gaben, die du dir wünschst, nach eigenem Willen und Ermessen erhalten und besitzen sollst. Die beschränkte Natur der übrigen Wesen wird von Gesetzen eingegrenzt, die ich gegeben habe. Du sollst deine Natur ohne Beschränkung nach deinem freien Ermessen, dem ich dich überlassen habe, selbst bestimmen. Ich habe dich in die Weltmitte gestellt, damit du umso leichter alles erkennen kannst, was ringsum in der Welt ist. Ich habe dich nicht himmlisch noch irdisch, nicht sterblich noch unsterblich geschaffen, damit du dich frei, aus eigener Macht, selbst modellierend und bearbeitend zu der dir gewollten Form ausbilden kannst.…‹

Im Gegensatz zu den instinktgeleiteten Tieren ist der Mensch ›nicht festgestelllt‹ (Nietzsche), ›weltoffen‹ (Max Scheler), ein ›Mängelwesen‹ (Arnold Gehlen). Infolge der ›Instinktreduktion‹ – dem weitgehenden Fehlen von angeborenen Auslösern und entsprechenden Handlungen – würde ein Zusammleben beinahe verunmöglicht. Konrad Lorenz: die beim Menschen kaum mehr festgelegten instinktmässigen Verhaltensweisen (untersucht von I.Eibl-Eibesfeldt) müssen durch einen funktionellen Ersatz kompensiert werden.

(Dass diese Entdifferenzierung aber die grosse Chance der Welteroberung durch den Menschen darstellt, ist ein anderer Aspekt.)

Die ›Weltoffenheit‹ wird kompensiert mittels institutionell eingerichteter Verhaltensweisen. Für ein Zusammenleben besteht die Notwendigkeit einer Konventionalisierung des Handelns. In der abendländischen Kulturgeschichte gibt es über Jahrhunderte hinweg recht stabile Kataloge von Tugenden und Lastern.

Mit der Herakles-Y-Geschichte wird das Verhalten recht starr bipolar ausgelegt.

Einwände gegen das Y-Modell:

(1) Es gibt nicht nur einen geradlinigen Weg zu einem Ziel, den man verfolgen soll.

Man braucht nicht bis zu Lessing zu gehen, der sagte: Es ist nicht wahr, daß die kürzeste Linie immer die gerade ist. (»Die Erziehung des Menschengeschlechts«, § 91) – oder Brecht, der Andrea sagen lässt: Angesichts von Hindernissen mag die kürzeste Linie zwischen zwei Punkten die krumme sein. (»Leben des Galilei« 14.Bild)

Zur politischen Klugheit gehörte während Jahrhunderten die Regel: Um bei widrigen Umständen dennoch zum Ziel zu gelangen, muss der Hofmann (mit einer noch heute gebräuchlichen Metapher) ›lavieren‹ können. Baltasar Gracián schreibt 1647: Ein weiser Mann […] bescheidet sich/ daß er bey dem auff ihn stürmenden Ungestüm/ eben als wie ein kluger Steuermann laviren und den Sturm mit Gedult aushalten müsse. Auff der See menschlichen Lebens ereignen sich vielerley Stürme und Ungewitter/ […] (»Handorakel« Maxime CXXXVI). Das Wort ›lavieren‹ kommt aus der Segeltechnik, wo es meint: ›gegen den Wind kreuzen‹ oder auch ›günstige Winde abwarten‹; vgl. Grimm, DWB s.v..

(2) Die Moral der Herakles-Geschichte beruht auf einer Bifurkation, tertium non datur. Als gäbe es nicht die aristotelische Ethik des »Mittelwegs«. Aristoteles, Nikomachische Ethik 2, 6: Die Tugend / Vortrefflichkeit ist eine Haltung, die in der Mitte liegt, die durch vernünftige Überlegung bestimmt ist, und zwar durch die, mittels derer der Kluge die Mitte bestimmen würde. Sie ist aber Mitte von zwei Schlechtigkeiten, einer des Übermaßes und einer des Mangels, usw. Bei Furcht und Mut ist die Tapferkeit die Mitte, usw.

(3) Der Rat der hübschen Frau und die Verlockungen eines prächtigen Lebens führen zwingend ins Verderben. An den Höfen zelebrierte die Leisure Class eine Kultur mit Mahlzeitorgien, Feuerwerken, Festzügen, Galanterien u.a.m , wo die Adligen sich in üppiger Pracht überboten. (Vielleicht tragen die Varianten von Frölich und Hunold dieser Einsicht Rechnung.)

(4) Herakles wählt aufgrund des Ratschlags selbständig und zielstrebig (!) den Weg.

(4a) Dagegen Cicero, »de officiis« I, xxxii,118:

Wenn nach der Erzählung des Prodikos – so steht es bei Xenophon – Herakles, sobald er in die Jugendjahre kam, eine Zeit, die von der Natur gegeben ist zu wählen, welchen Lebensweg ein jeder beschreiten will, hinausging in die Einsamkeit, dasaß, und als er zwei Wege sah, den einen des Genusses (voluptatis), den anderen der Tugend (virtutis), lange bei sich hin und her erwog, welchen Weg zu beschreiten besser sei – so konnte das vielleicht einem ›Spross des Zeus‹ begegnen, nicht aber uns (hoc Herculi, Iovis satu edito, potuit fortasse contingere; nobis non item, qui …), die wir jeweils die nachahmen, die nachzuahmen uns gut scheint, und uns nach deren Zielen und Streben treiben lassen. Meistens aber lassen wir uns, erfüllt von den Vorschriften der Eltern, nach ihrer Gewohnheit und Sitte (consuetudo, mos) lenken. Andere lassen sich dahintragen vom Urteil der Menge, und was der Mehrheit am schönsten scheint, das wünschen die meisten. Manche jedoch verfolgen aufgrund einer glücklichen und wertvollen Anlage ihrer Natur ohne Unterweisung durch die Eltern den rechten Lebensweg. (Übersetzung von Heinz Gunermann 1976)

(4b) Martin Luther sagt in seiner Schrift »de servo arbitrio« (1525 gegen Erasmus’ Schrift »de libero arbitrio diatribe« polemisierend verfasst), dass der Mensch in Bezug auf Dinge, die höher sind als er (die Seligkeit bzw. die Verdammnis) keinen freien Willen hat, sondern nur in Bezug auf das, was niedriger ist als er, z.B. seine irdischen Besitztümer.

Hier einige Textauszüge aus dem argumentativ dichten und weit ausgreifenden Text (Deutsche Übersetzung aus dem Lateinischen (Übers. ungenannt; einige Scan-Fehler), in > https://www.heiligenlexikon.de/Literatur/Martin_Luther_unfreier_Willen.htm )

Es ist notwendig und heilsam für den Christen zu wissen, dass Gott nichts zufällig vorherweiß, sondern dass er alles mit unwandelbarem, ewigem und unfehlbarem Willen vorhersieht, sich vornimmt und ausführt. Durch diesen Donnerschlag wird der freie Wille zu Boden gestreckt und ganz und gar zermalmt.
Gott verheißt den Demütigen […] mit Bestimmtheit seine Gnade. Ganz und gar aber kann sich kein Mensch eher demütigen, bis dass er weiß, daß seine Seligkeit vollständig außerhalb seiner Kräfte, Absichten, Bemühungen, seines Willens und seiner Werke gänzlich von dem Belieben, Beschluss, Willen und der Tat […] Gottes allein abhänge.
Der menschliche Wille ist in die Mitte gestellt (zwischen Gott und Satan) wie ein Zugtier. Wenn Gott sich darauf gesetzt hat, will er und geht, wohin Gott will, wie der Psalm (75, 22f.) sagt: Ich bin wie ein Tier geworden und ich bin immer bei dir. Wenn Satan sich darauf gesetzt hat, will und geht er, wohin Satan will. Und es steht nicht in seiner freien Entscheidung, zu einem von beiden Reitern zu laufen oder ihn sich zu verschaffen zu suchen, sondern die Reiter selbst kämpfen miteinander, ihn zu erlangen und zu besitzen.
Wenn wir nichts können, was sollen denn so viele Gesetze, so viele Gebote, so viele Drohungen, so viele Verheißungen [im Alten Testament]? Hier antwortet Paulus [Römerbrief 3,20; Galater 3,19]: Durch das Gesetz kommt Erkenntnis der Sünde.
Wir sind sicher, daß wir Gott gefallen, nicht durch das Verdienst unseres Werkes, sondern durch die Huld seiner uns verheißenen Barmherzigkeit.

Literatur zur Forschung

Michael Pexenfelder, Ethica Symbolica E Fabularum Umbris In Veritatis Lucem Varia Ervditione Noviter evoluta. Opus non minus ad fructum, quàm ad oblectationem pro doctrina Politica & Sacra accommodatum, München 1675. — Bivium Herculis pag. 275–281.
> http://reader.digitale-sammlungen.de/de/fs1/object/display/bsb11119947_00313.html
> https://books.google.ch/books?id=z-X9OnOUhEgC&hl=de&source=gbs_navlinks_s

Erwin Panofsky (1892–1968), Hercules am Scheidewege und andere antike Bildstoffe in der neueren Kunst. Leipzig, Berlin 1930 (Studien der Bibliothek Warburg 18). [Die Studie zu Herkules beginnt auf S. 37.] > https://doi.org/10.11588/diglit.29796

Dieter Wuttke, Die Histori Herculis des Nürnberger Humanisten und Freundes der Gebrüder Vischer, Pangratz Bernhaubt gen. Schwenter. Materialien zur Erforschung des deutschen Humanismus um 1500, Köln/Graz: Böhlau 1964 (Beihefte zum Archiv für Kulturgeschichte, Heft 7) [391 Ss.; Edition = S. 1–29]

Wolfgang Harms, Homo viator in bivio. Studien zur Bildlichkeit des Weges, München 1970.

Marc-René Jung, Hercule dans la littérature française du XVIe siècle. De l’Hercule courtois à l’Hercule baroque, Genève: Droz 1966 (Travaux d’humanisme et Renaissance 79).

Hubert Silvestre, Nouveaux témoignages médiévaux de la Littera Pythagorae. In: Le Moyen Age 79, 1973, S. 201–207.

Hubert Silvestre, Pour le dossier de l’Y pythagoricien. In: Le Moyen Age 84, 1978, S. 201–209.

Martin Scharfe, Zwei-Wege-Bilder. Volkskundliche Aspekte evangelischer Bilderfrömmigkeit, in: Blätter für württembergische Kirchengeschichte 90 (1990), S. 123–144.

Jochen Schmidt, Herakles als Ideal stoischer Virtus von der Antike bis 1800; In: Barbara Neymeyr / Jochen Schmidt / Bernhard Zimmermann (Hgg.), Stoizismus in der europäischen Philosophie, Literatur, Kunst und Politik. Eine Kulturgeschichte von der Antike bis zur Moderne, Berlin / New York: de Gruyter 2008, Bd. 1, S. 295–342.

Christiane L. Joost-Gaugier, Pitagora e il suo influsso sul pensiero e sull’arte, Edizioni Arkeios 2008 (Übers. aus dem Englischen), pp.: 257-60: »La Y pitagorica, un simbolo di scelta« mit einem Bild (Fig. 47), wo der Baum des Lebens im Paradies vor dem Sündenfall als Y dargestellt ist.

Hartmut Wulfram, Sehen und Gesehen werden: Der lachende Demokrit bei Horaz und Juvenal Wiener Studien, Band 124 (2011), S.143–164.

(In eigener Sache)

Für viele Hinweise danke ich Daniel Candinas und Romy G.

Gender-korrekt müsste man eigentlich schreiben: Herr-kules / Dam-okles ...

Ende Februar hatte diese Website auf der Plattform Allegorieseminar der Universität Zürich 14'722 Zugriffe; dann wurde sie von der dortigen IT abgeschaltet. Im Juli 24 von P.Michel migriert.