Der Krake
Das Beispiel zeigt, wie das Verhalten und Aussehen eines Tiers teils als moralisches Gegenbeispiel, teils für verumglimpfende, desavouirende Rhetorik vereinnahmt wird.
Tintenfische / Kraken / Polypen (die biologische Spezifik kann hier weggelassen werden) faszinieren und erregen Ekel zugleich. Die wenigsten Zeitgenossen werden solche je in deren Biotop beobachtet haben; am ehesten kennen wir diese Tiere aus dem "Fine Food"-Geschäft, auf Eis, bereit für die Grillade der Tentakel...
Vom Hörensagen (oder heutzutage aus dem WWWeb) wissen wir, dass diese Tiere (nach menschlichem Ermessen) sehr schlau sind: Sie können die Farbe dem Untergrund anpassen und sich so tarnen; sie sind außerdem lernfähig. – Sie gehören zu den Wirbellosen. Das "Schwabbelige", die sich windende Vitalität macht sie für uns, die wir Ellbogen, Knie und andere Gelenke haben, fremd, erregt Abscheu. Dazu kommt die seltsame Gestalt mit den acht (daher ihr wissenschaftlicher Name Octopus) Armen und dem Bauchsack – dabei sind die Augen uns ähnlich. Unser Eindruck von diesen Tieren ist daher ambivalent.
Sodann hört man immer wieder, dass Tintenfische mit ihren mit Saugnäpfen ausgestatteten Tantakeln Beute fangen, sie umschlingend und verschlingend.
Ein Tintenfisch packt eine Krabbe, um sie zu fressen. Bild aus: Die Welt, in der wir leben, Knaur 1952; S. 148 (dort weitere Bilder).
Literaturhinweis: Aurel Kolnai, Der Ekel, in: Jahrbuch für Philosophie und phänomenologische Forschung, Band X (1929), S.515–569.
Wissenschaftliche Zeichnung
Conrad Gessner nennt diese Tiere Kuttelfisch; 1560 erscheint dieses Bild:
Fischbuoch: das ist ein kurtze, doch vollkommne Beschreybung aller Fischen so in dem Meer und süssen Wasseren, Seen, Flüssen oder anderen Bächen jr Wonung habend, sampt jrer waren Conterfactur, zuo Nutz und Guotem allen Artzeten, Maleren, Weydleüten und Köchen gestelt, insonders aber denen so ein Lust habend zuo erfaren und betrachten Gottes wunderbare Werck in seinen Geschöpfften, erstlich in Latin durch den hochgeleerten und natürlicher Künsten wolerfarnen Herren D. Cuonradt Gässner beschriben; yetz neüwlich aber durch D. Cuonradt Forer zuo grösserem Nutz allen Liebhaberen der Künsten in das Teütsch gebracht. Getruckt zuo Zürych bey Christoffel Froschower im Jar als man zalt M.D.LXIII. (S. 108 verso folgende)
> http://dx.doi.org/10.3931/e-rara-5026
Denys de Montfort (1766/68 – 1820): Poulpe commun
Pierre Denys de Montfort, Histoire naturelle, générale et particulière des mollusques, animaux sans vertèbres et a sang blanc. Ouvrage faisant suite aux œuvres de Leclerc de Buffon, et partie du cours complet d'histoire naturelle rédigé par C. S. Sonnini, membre de plusieurs sociétés savantes. Tome Second. L'Imprimerie de F. Dufart, Paris An X [= 1801]. (Planche XXIII).
Denys de Montfort stellt in seinem Buch (S. 256–412) die Geschichte der Meinungen zum Poulpe Colossal zusammen; beginnend bei Plinius (hist. nat. IX, xxx, 89: der Polyp umklammert Schiffbrüchige, packt sie mit den Saugnäpfen und bringt sie um) und Aelian (Tierbuch XIII,6), sodann Aldrovandi, Olaus Magnus, u.a.m.
und er bringt auch ein phantastisches Bild dazu (Planche XXVI):
> https://www.biodiversitylibrary.org/page/35755328#page/299/mode/1up
John Gibson bringt 1887 sowohl naturwissenschaftliche Erkenntnisse als auch The Kraken, as seen by the eye of imagination:
John Gibson, Monsters of the sea, legendary and authentic, London: T.Nelson 1887.
> https://www.biodiversitylibrary.org/page/54285093#page/85/mode/1up
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Romaneske Transformation
Bei Jules Verne in »20’000 Meilen unter dem Meer« (1869/70) darf die Begegnung mit dem Tintenfisch nicht fehlen:
> Bild aus Wikimedia
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Presse — Fake news?
Auch Seeleute, Fischer, Badende werden attackiert. Die Journale im 19.Jh illustrieren das schauerlich. Und man fragt sich wo die Quelle der Inspiration liegt?
Mr. Beale and the poulpe
The Illustrated Police News, October 17, 1896
(Beide Bilder bei Wikisource.)
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Der Tintenfisch — moralisiert
Ambrosius von Mailand (um 340–397) »Exameron«:
Weil wir gerade auf die Hinterlist zu sprechen kamen, mit der ein jeder seinen Bruder zu täuschen und hintergehen trachtet, um auf neuen Trug zu sinnen, ihn, den er mit Gewalt nicht fassen kann, mit List zu umgarnen und gleichsam mit einem Trick zu betören, will ich das bekannte Verstellungsvermögen des Tintenfisches nicht unerwähnt lassen. Errreicht nämlich derselbe am seichten Gestade eine Felsenbank, so klammert er sich daran fest, nimmt durch ein rätselhaftes Anpassungsvermögen dessen Farbe und am Rücken felsenähnlich Gestalt an. Ohne die geringste Ahnung des Truges gleiten nun die Fischlein, indem sie sich vor den ihnen gewohnten Stellen nicht in acht nehmen und Felsengestein vermuten, heran, da schließt der Polyp sie in das Fangnetz seiner Verstellungskunst und sperrt sie gewissermaßen in den Behälter seines Leibes ein. So kommt von selbst die Beute heran und lässt sich durch ähnliche Vorspiegelungen in die Falle locken, wie sie jene belieben, die häufig in der Gesinnung die Farbe wechseln und verschiedene verfängliche Machinationen anwenden, um Geist und Sinn eines jeden zu ködern: in Mitte von Enthaltsamen voll des Lobes auf die Enthaltsamkeit, in Gesellschaft von Unenthaltsamen weit entfernt vom Streben nach Keuschheit und versunken in Schlamm der Unenthaltsamkeit. Wer sie folglich mit unachtsamer Leichtfertigkeit hört oder sieht, traut ihnen und kommt umso rascher zu Fall. Er weiß dem, was sein Verderben ist, nicht aus dem Weg zu gehen und sich davor zu hüten, während doch die Ruchlosigkeit doppelt gefährlich und verderblich ist, wenn sie sich in die Maske der Leutseligkeit hüllt. Auf der Hut darum vor jenen, welche die Fangnetze und Fangarme ihres Truges weit und breit ausstrecken und alle möglichen Farben annehmen! Denn Polypen sind sie. Über tausend Schlingen und Schliche verfügt ihr verschlagener Sinn, um wo möglich alles, was sich in die Klippen ihres Truges verirrt, zu umgarnen.
Ambrosius, Exameron, übersetzt von Dr. Joh. Ev. Niederhuber. (Bibliothek der Kirchenväter, 1. Reihe, Band 17) München 1914. Der fünfte Tag. Siebte und achte Homilie. (Gen 1,20–23); VIII. Kapitel, 21. > https://www.unifr.ch/bkv/buch61.htm
Erasmus empfiehlt in den »Adagia« (I,i,93) durchaus positiv: Polypi mentem obtine: Nimm die Sinnesart des Tintenfischs an, d.h. tarne dich, sei anpassungsfähig !
Text > http://ihrim.huma-num.fr/nmh/Erasmus/Proverbia/Adagium_93.html
Desiderius Erasmus von Rotterdam, Adagia = Sprichwörter; Lateinisch - Deutsch [erste dt. Gesamtübersetzung von] Claude-Eric Descœudres, Basel: Schwabe Verlag 2012 (6 Bände 2640 Seiten).
Das Emblem bei Matthias Holtzwart (1581) besagt: Wie der Polyp sich seiner Umgebung anpassen kann, um den Fischer beim Fang zu überlisten, so üben sich die Heuchler in betrügerischer Schmeichelei.
(Holzschnitt von Tobias Stimmer; deutsche Knittelverse von Johann Fischart)
Es ist kommen auff dise Erd
Auß Hellen grund gantz vnbegert
Eyn gschlecht das heyßt der schmeychler schar
Des Fischs Polypi art hands [haben sie] gar/
Derselb verkehrt sein farb zu stund [sofort]
Gleichfoermig dem darzu er kompt/
Damit er also fah die Fisch
Mit betrug vnd geschwindem list/
sich müssig ohn arbeyt zunehren:
Also die schmeychler sich auch kehren
Mit dem Mantel gegen dem Wind
Ir Herren zubetriegen gschwind
Damit jn davon eyn Raub werd
sıch müssig nehren on beschwerd [mühelos].
Matthias Holtzwart: Emblematum Tyrocinia, sive picta poesis Latinogermanica, das ist eingeblümete Zierwerck oder Gemälpoesy innhaltend allerhand Geheymnußlehren durch kunstfündige Gemäl angepracht und poetisch erkläret, Nun erstmals inn Truck kommen, Straßburg 1581.
> http://diglib.hab.de/drucke/t-355-helmst-8f-2/start.htm
Misogyn gewendet bei Johann Fischart (1546/7 – 1591) in seinem »Ehzuchtbüchlin« (1597):
Es hat ein Poet in seim schreiben geschertzet/ es seien nicht allein Spinnen zu Land/ sondern auch inn Wassern/ welche man Mörspinnen nennet: ja es seien auch Spinnen vnter dem Menschlichen Geschlecht/ die er Zöpfspinnen heisset: vnd verstehet dardurch die arglistige Frawenbild/ welche er fonderlich diser Mörspinnenart vergleichet/ die man Pollkuttel nennet/ welche sich an die Felsen und Stein anhangen/ vnnnd eins jeden Steins farb annemmen/ damit sie die Mörkrebs/ denen sie sonderlich gehaß seind/ vnd sonst andere Fisch betrüglich auffangen und fressen.
Also können sich auch die Schalckhaffte Weibsbilder zum schein vor den Leuten/ wie man nur will/ stellen/ allerley Leut art an sich nemmen/ jhnen nach jrem gefallen reden/ recht geben/ willfaren/ liebkosen/ daß jederman meynt/ es seien die bescheideneste Weiber/ vnnd seint doch im grund rechte Zöpfspinnen/ welche die Mannsbilder betrügen/ fangen/ ihnen auffsetzig seind/ sie hinder gehen/ jhnen heimlich abtragen/ sie hin und wider außtragen/ außrichten/ schmähen und schelten.
Solche schlupfferige Kuttelfisch vnd Muräl muß man nur hämmen vnd klemmen/ wie die Mörkrebs mit jhren kerfechten Schären den langen Möral/ wie sehr er sich mit seim seltzamen krummen winden gedenckt auß zu winden. Dan den listigen muß man fesselen durch gegenlist.
Das philosophisch Ehzuchtbüchlin oder Die Vernunfft gemäse Naturgescheide Ehezucht/ sampt der Kinderzucht. Auß des Berühmbsten vnnd Hocherleuchten/ Griechischen Philosophi Plutarchi/ verunfft gemäsen Ehegebotten vnnd allerley andern Anmuetigen Gleichnussen/ Sprüchwörtern/ Gesangen/ Reimen/ der Fürtrefflichen Authoren vnd Scribenten/ von allerley Nationen zusammen gelesen/ verteutschet/ vnd auff gantz lustige angeme weiß in Gesatzen vnnd Gleichnussen tractiert vnd außgeführt/ […]. Durch Welyand den Ehrnvesten Hochgelehrten Herrn Johann Fischarten genandt Mentzer/ der Rechten Doctorn seligen auß Griechischen vnnd anderen Sprachen verteutschet/ vnd zusammen getragen. Gedruckt zu Straßburg bey B. Jobins seligen Erben 1597.
Joachim Camerarius (1534–1598) in seinem Emblembuch (lat. Erstausgabe des 4. Bandes 1604) beschreibt die ewige Feindschaft zwischen zwischen dem schlau zupackenden Vielfuß oder Kuttelfisch und dem schlüpfrigen Meer-Aal.
Vierhundert Wahl-Sprüche und Sinnen-Bilder, durch welche beygebracht und außgelegt werden die angeborne Eigenschafften, wie auch lustige Historien und Hochgelährter Männer weiße Sitten-Sprüch. Und zwar Im 1. Hundert: Von Bäumen und allerhand Pflanzen. Im II. Von Vier-Füssigen Thieren. Im III. Von Vögeln und allerley kleinen so wol fliegenden als nit fliegenden Thierlein. Im IV. Von Fischen und kriechenden Thieren. Vormahls durch den Hochgelährten Hn. Ioachimum Camerarium In Lateinischer Sprach beschrieben: Und nach ihm durch einen Liebhaber seiner Nation / wegen dieses Buchs sonderbarer Nutzbarkeit allen denen die in vorgemelter Sprach unerfahren seyn/ zum besten ins Teutsch versetzet, Maintz: Bourgeat 1671. – IV,43
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›Symbolische‹ Applikationen der Tentakel – verwendet für Invektiven und dergl.
••• Die Tentakel des Krakens bedeuten hier Arten der Verschwendung des Einkommens der Bürger. Ein taxonomisches Diagramm wird ins Biologische umgesetzt::
William C. Brinton, Graphic Methods for presenting facts, NY 1914.
> https://archive.org/details/graphicmethodsfo00brinrich
• Ähnlich hat Th.Th. Heine (1867–1948), in »Simplicissimus« 19.März 1923 den Wucher dargestellt:
> http://www.simplicissimus.info/uploads/tx_lombkswjournaldb/1/27/27_51_701.jpg
••• Beliebt waren die Kraken, welche die territoriale Ausdehnung (und deren Unterbindung) von kriegführenden Staaten darstellen sollten. Diese Imaginationen gehören in den Bereich der >>> phantastsichen Landkarten.
• 1877 erklärte Russland dem Osmanischen Reich den Krieg; Serbien schloss sich an. Die englische Regierung unter B.Disreali zeigte eine anti-russische und pro-türkische Haltung. Frederick William Rose (1849-1915) zeichnet die »Serio-Comic War Map for the Year 1877« (Chromolithographie):
Das Digitalisat der ersten Auflage auf > Wikipedia.
• Französisch la pieuvre kann sowohl "Riesenkrake" als auch "Machtapparat" bedeuten. Eine Postkarte aus dem 1.WK:
• Der Polyp Europas
Der wahre Jakob: illustrierte Zeitschrift für Satire, Humor und Unterhaltung (4. April 1914)
> https://doi.org/10.11588/diglit.8258#0113
• Plakat aus dem Jahr 1942: De vangarmen van de dollarpoliep worden afgesneden.
Dass de legers van den arbeid bei dieser Aktion so erfolgreich sind, bezieht sich auf den von den Nazis aufgezogenen Niederländ. Arbeitsdienst.
> https://search.iisg.amsterdam/Record/846082
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… und noch heutzutage:
••• Den Bürgerinnen und Bürgern der Stadt Zürich lag 1973 das Projekt einer gekoppelten U+S-Bahn vor. Die Gegner inspirierten sich an Streckenplänen, wie sie in den Abstimmungsunterlagen zu finden waren (hier der aus einem früheren Projekt):
Dass der Polyp genaugenommen eine schlechte symbolische Umsetzung ist, kümmerte die Gegner wenig:
Hans Künzi, Zürichs öffentlicher Verkehr und seine S-Bahn, 161. Neujahrsblatt der Gelehrten Gesellschaft auf das Jahr 1998; S.26 und 53.
••• Plakat einer Schweizer Partei zu den eidgenössischen Wahlen im Oktober 2019:
(Foto P.M.)
Die SVP hatte die Volksinitiative "Gegen Masseneinwanderung" propagiert, die 2014 knapp angenommen wurde.
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Dies und das
• Erasmus von Rotterdam behandelt die Redewendung Mach es wie der Polyp ( Πολύποδος νόον ἴσχε) in den »Adagia« ausführlich und bewertet sie positiv:
http://ihrim.huma-num.fr/nmh/Erasmus/Proverbia/Adagium_93.html
• Eher skurril ist Hokusais Bild vom Traum der Fischerin mti den Kraken (trigger warning…!)
> https://en.wikipedia.org/wiki/The_Dream_of_the_Fisherman%27s_Wife
• In alten China sind die Kraken kein Thema. (Danek, Marc W. für den Hinweis!)
• Kaum symbolisch, eher ornamental ist das prächtige Bild auf einer minoischen Vase (1500 b.c.e.)
> https://en.wikipedia.org/wiki/Minoan_pottery#/media/File:AMI_-_Oktopusvase.jpg
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Fröhlicher Ausklang
How To Tell The Birds From The Flowers: A Manual of Flornithology for Beginners Written and illustrated by Robert Williams Wood [1868–1955], Edition 1917
> https://hdl.handle.net/2027/njp.32101038016125
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Hinweise
Viele weitere Beispiele findet man bei https://www.Pinterest.de mit Such-Eingaben wie z.B. "Kraken Monster" oder "octopus mapping"
Ferner bei wikipedia: octopuses_in_art, speziell: Octopuses_in_propaganda
Kelsey D. Atherton, A Brief History Of Octopi Taking Over The World
> https://www.popsci.com/article/technology/brief-history-octopi-taking-over-world/
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