Symbolik der Spinne — Spider — Cobweb — L’Araignée

 

Wüsste man nicht schon beim Lesen des Titels, um welches Tier es geht, so erführe man es bei der Auflösung dieses Rätsels:

Ein Weber ohne Hand wirkt mit den Füssen Sachen/
daß aller Menschen Müh nicht kan dergleichen machen/
doch ist er sehr verhasst/ verfolgt und fort und fort/
verjagt/ bis er entfleucht an nicht bewohnten Ort.

Georg Philipp Harsdörffer, Poetischer Trichter 1650, Zweyter Theil, Zehende Stund, S.66

>>> In der alten Naturwissenschaft (Konrad von Megenberg)

>>> Die Spinne in der Bibel

>>> Die Spinne beweist die Weisheit Gottes (Grimmelshausen; Scheuchzer, J.P.Hebel)

>>> Arachne (Ovid u.a.)

>>> Spinne – moralisiert (Allegorie, Fabel, Emblem)

>>> Die Kleinen fängt man – die Großen rasen durch

>>> Spinne bei der Melancholie

>>> Feindschafft zwischen Kröten und Spinnen

>>> Eine besondere Art: die Tarantel

>>> Les Anciens et les Modernes (J. Swift)

>>> Spinne in der politischen Karikatur

>>> Literaturhinweise

(Erste Fassung April 2021; überarbeitet März 2024)

 

In der alten Naturwissenschaft

Plinius, »Natualis historia«, XI, xxviii, 79 – xxiv, 85 bringt eine ausführliche Beschreibung:

Araneorum his non absurde iungatur natura, digna vel praecipua admiratione. (Die Natur der Spinnen wird mit gutem Grund mit diesen <den Seidenraupen> in Verbindung gebracht und ist höchster Bewunderung wert.)
> https://penelope.uchicago.edu/Thayer/L/Roman/Texts/....

Auszug: Mit welcher Geschicklichkeit bedient sie sich dabei der Füsse, mit welch' runden und gleichartigen Fäden führt sie ihr Gewebe aus, und dient sich selbst dabei als Gewicht! Sie fängt in der Mitte an zu spinnen, knüpft den Einschlag zirkelförmig an, lässt die Maschen gleichweit von einander abstehen, allein allmälig grösser werden, so dass sie vom Engen in's Weite übergehen, und verknüpft alle mit unauflöslichen Knoten. Mit welcher Kunst verbirgt sie die auf dem gewürfelten Netze gelegten Schlingen? Wie wenig scheint die Dichtigkeit des siebartigen Gewebes und die wie durch Kunst hervorgebrachte Glätte der von Natur schon klebrigen Fäden darauf hinzudeuten? Wie schlaff ist das Netz, um dem Winde nachzugeben, und die hineingekommene Beute nicht von sich abzustossen? Man möchte glauben , die Spinne habe aus Ermüdung das Gewebe am obersten Theile aufzuspannen unterlassen, allein diese Fäden lassen sich kaum wahrnehmen, und schleudern, gleichwie die Fanglinien an den Netzen, die Beute in die Mitte hinein.

ins Deutsche übersetzt Georg Christian Wittstein, Leipzig 1881
> https://archive.org/details/dienatugeschicht03plin/....

Konrad von Megenberg (1309–1374) »Buch von der Natur« ist angeregt durch Thomas von Cantimpré († ca. 1272) »Liber de natura rerum«. Das Kapitel zur Spinne (Buch III, F, 2) sei zitiert als Überblick über frühere Darstellungen:

VON DER SPINNEN. Aranea haizt ain spinn. der wurm hât die art, daz er auz seim gedirm fädem spinnet und netzel webt, dâ mit er die muken væht.
ez geschiht auch dick, daz er sich selber mit dem spinnen sô gar auzdärmt, daz nihts in im beleibt und daz er stirbt, wan die spinnen habent in in ain wollentragend kraft, dar auz si die fädemen spinnent.
ez sprechent auch etleich, daz daz weibel spinn und web und daz männel vâh die mucken mit dem selben netzel.
si gepernt mit irn lenden klaineu würmel, diu sint airn geleich und diu airl gepernt si zwischen den webnetzeln.
ez werdent auch spinnen ân unkäusch auz faulen dingen, sam auz dem klainen staub, der in der sunnen fleugt, wenn der erfault, und auz des menschen spaicheln, die er wirft sô er gezzen hât.
diu spinn webt sô daz weter lauter ist, niht wenn ez trüeb ist.
si jagt auch niht mêr noch væht, unz daz si gar verzert daz si vor gevangen hât, sam ain vorschær spricht.
wer der spinnen netzel über ain frisch wunden legt, dem geswilt diu wund niht und faulet auch niht.
die spinnen lebent des saffes und der fäuhten, und dar umb stirbt ir kaineu hungers.
wenn die spinnen ireu netzel hœher ziehent, daz ist ain zaichen, daz ez regenen wil.
diu spinn hât die art, daz si sich an ainem vadem wigt auf der slangen haupt, wâ si daz under ainem paum aufrecket an dem schaten, und peizt die slangen sô krefticleich, daz si ir daz hirn begreift unz in den tôt.
Aristotiles spricht, wer geswilt von ainer spinnen piz, der mach ain pflâster von mucken und pind daz auf den smerzen, sô wirt im paz.
maister Michel der Schott spricht, wenn diu spinn slâf, sô kêr si den ruck gegen der erd und slâf in dem luft hangend an den vädemen, die si gespunnen hât, und kêr ir antlütz gegen dem netz.

(Der mittelhochdeutsche Text in der Ausgabe von Franz Pfeiffer, Stuttgart 1861 hier digital in OCR)

Die Spinne in der Bibel

In der Bibel kommt die Spinne (lat. aranea) einige Male als Metapher vor. Hier eine Auswahl:

• Das Vertrauen des Heuchlers ist wie eine Spinnwebe (Job 8,14).

• Der Gottlose hat wie eine Spinne sein Haus gebaut (Job 27,18 in der Luther-Übers.; Vg.: sicut tinea).

• Die Sünder weben Spinnweben. Ihre Fäden taugen nicht zum Kleid (Jes 59,5).

• Spinnweben stehen für die Vergänglichkeit: Psalm 38 (Vg. = MT 39),12 und Psalm 89,9 (Vg. = MT 90),9: alle unsere Tage schwinden dahin … unsere Jahres sind zu achten wie Spinnweben (ähnlich Osee 8,6).

Die Spinne wirkt mit ihren Händen (Proverbia = Sprüche Salomos 30,28 in der Luther-Übersetzung); vgl. hier bei Scheuchzer.

Die Spinne beweist die Weisheit Gottes

 

••• Hans Jacob Christoffel von Grimmelshausen (ca. 1622 – 1676) äußert sich über die Weisheit der Tiere. (Hinweise im Nachlass von Urs Herzog)

• Im »Simplicissimus«-Roman (2. Buch) versucht die Hofgesellschaft den dann Simplicius genannten Knaben in einen Hofnarren umzuwandeln. Dieser spielt brav seine Narrenrolle, versetzt die Stadt in Aufregung und sagt der Hofgesellschaft die Wahrheit, verblüfft sie durch Scharfsinn und sein gelehrtes Buchwissen aus den Lehrjahren beim Einsiedel. Im 12. Kapitel: Simplex zieht trefflich und rühmlich herfür den Verstand der unvernünftigen Tier.

»Vermeinet ihr Menschen denn wohl, wir Tiere seien gar Narren? Das dürft ihr euch wohl nicht einbilden! Ich halte dafür, wenn ältere Tier als ich so wohl als ich reden könnten, sie würden euch wohl anders aufschneiden, […]« Er erwähnt viele Tiere, dann: »Ferners beschauet die mühsame Spinn, deren Geweb beinahe ein Wunderwerk ist! Sehet, ob ihr auch einen einzigen Knopf in aller ihrer Arbeit finden möget? Welcher Jäger oder Fischer hat sie gelehret, wie sie ihr Netz ausspannen, und sich, je nachdem sie sich eines Netzes gebraucht, ihr Wildpret zu belaustern entweder in den hintersten Winkel oder gar in das Zentrum ihres Gewebs setzen solle?«

> http://www.zeno.org/nid/20004912276

Das Wissen entstammt nicht der Naturerfahrung, sondern kommt aus Pierre Boaistueau († 1566), »Le Théâtre du Monde«: Peter Boaysteau, genannt Launay. THEATRUM MUNDI, Das ist Schauwplatz der Welt: Darinnen von ellend und arbeitseligkeit des Menschen / durch alle und jede Alter und Stände menschlichs Lebens gehandelt wirt; und sonderbarem Tractätlein von Fürtrefflichkeit und Wierde des Menschen. […] Basel 1607.
> http://www.e-rara.ch/doi/10.3931/e-rara-30627

Aranea textoria artis doctrix
Wo ist nun diß für ein geschickligkeit vnnd verstand der Architectur bey diesem klein Thierlein? Ist aber die arbeit der Spinnen nicht schier ein wunderwerck in der Natur? welcher Lehrtöchtern die Weiber seind und von ihr das spinnen wie auch die Fischer jre Netze stricken gelehrnet haben. Es haben aber die spinnen in dieser jrer arbeit vil mehr zierlicher gnade vnnd ein vil grössern vortheil. Dann in jhrem ganzen werck kein einiger knopff/ noch auch einiger vberflissiger costen [Aufwand] gespüret wirdet. Dann alles sampt auß jrem kleinen Leiblein herkompt. Sie theilen auch Ihre arbeit ganz artlichen auf. Dann das Weiblein und jre Tochter spinnen und machen das Netze oder Spinnwuppen. Das Männlein aber jaget anderswo / sie alle zu ernehren unnd halt sich immerzu in seiner hut verborgn/ auff die Ihierlein vnd auff die Thierlein vnd auff die Mücklein/ so in sein Netz gefallen/ zuwarten vnd sie zuerdappen
[…] (Text der Ausabe 1619)

• Eine etwas fabulöse Stelle speziell zur Spinne:

Man sagt und schreibt / und ist auch glaublich / daß dieser David täglich und zwar von Jugend auf noch bey den Schaafen philosophirt, alle Wunder und Geschöpffe GOttes betrachtet: und wegen des einen und des andern den Schöpffer mit Lob-Gesängen und Dancksagungen geehrt habe; Als er sich aber einsmals verwundert / warumb GOtt die Muck oder Fliege erschaffen / die doch Menschen und Thieren molest sey / item die Spinn / die niemand nichts nutze / sondern vielmehr mit ihrem Gifft schade / und dessentwegen seiner Gewonheit nach dem Allmächtigen / vor ihre Erschaffung nicht gedanckt; habe GOtt seinem Diener diese Jrrung verweisen: und ihm beyder Insecten Nutz anzeigen wollen; Dann als er mit seinen beysichhabenden Männern / sich in eine Höle der Wüsten Engeddi versteckt gehabt / da habe alsobalden eine Spinne derselbigen Eingang mit ihrem Gewebe überzogen / derowegen Sauls Kriegs-Leute im verbey marchieren / dieselbige nicht allein ohnvistitirt gelassen / sondern der König seye auch desto sicherer hinein gangen / worbey David innen worden / was ihm die Spinn genützet! Item als er Nächtlicher Weil Sauls Spieß und Becher zu des schlaffenden Königs Häupten hinweg geholet / hat er ohngefehr den König an einen Fuß gestossen / dardurch er zwar erwacht; Als ihn aber eben auch eine Muck gestochen / habe er derselbigen gewehret / und wegen des empfindlichen Stichs des empfangenen Stosses destoweniger geachtet; So / das sich David wider ohne Gefahr hinweg schleichen können; Diß seynd zwar keine Glaubens Artickel / allein hat man doch darbey abzunehmen / daß der starcke GOTT ohnangesehen seiner Allmacht sich nur schwacher Jnstrumenten und verächtlicher Dinge gegen seinen hochmühtigen Widerstrebern gebrauche.

Simplicianischer Zweyköpffiger Ratio Status, lustig entworffen Unter der Histori des waidlichen Königs Saul/ des sanfftmütigen König Davids/ des getreuen Printzen Jonahtae/ und deß tapffern Generalissimi Joabi, von Hans Jacob Christoph von Grimmelshausen. Nürnberg: Felßecker 1670. — Vierdter Discurs vom Gottseeligen König David. [S.50]
> http://diglib.hab.de/drucke/lo-2306/start.htm

Diß seynd zwar keine Glaubens Artickel: Grimmelshausen gibt zu, dass er hier etwas flunkert. Basis ist diese Bibelstelle: Auf der Flucht vor König Saul, versteckt sich David (1.Samuel 23,19ff. und insbesondere 24,4ff.) in einer Höhle.

 

••• Johann Jacob Scheuchzer (1672–1733) kommt anlässlich der Bibelstelle Proverbia (Sprüche Salomonis) 30,24–28 auf die Spinnen zu sprechen. Dort werden vier kleine Tiere genannt, die Weiser als die Weisen sind, darunter (allenfalls) die Spinne.

Das Tier wird hier (wie bei Scheuchzer immer) nicht symbolisch oder allegorisch ausgelegt, sondern hinsichtlich seines Baus und Verhaltens bewundert. (In der zeichen-theoretischen Terminologie von Ch. S. Perice: nicht Icon, sondern Index.) Alles steht immer unter der Leitidee der Physikotheologie: Die kleinste Thiere sind die gröste Beweiß-Gründe der Weißheit, Macht und Güte GOTTES.

Die hebr. Bibel hat für das Tier das nur einmal vorkommende Wort sǝmamith; die Vulgata übersetzt mit stellio; die Lutherbibel mit Spinne. Scheuchzer zitiert auch den Text der Zürcher Bibelübersetzung 1743: Eine Spinn fasset mit beyden Händen (ihren Faden,) auch wenn wie in den Sälen der Königin ist.

Ob mit dem Wort eine Spinne oder eine Stern-Eydex (stellio) gemeint ist, diskutiert Scheuchzer mit philologischem Fleiss lange. Und sicherheitshalber lässt er auf der Tafel in der Umrandung oben auch eine abbilden. Dann kommt er ausführlich auf die Spinnen zu reden und wie sie ihre Gewebe fertigen (deutsche Fassung, Seite 790ff.) und erörtert sechs in Europa lebende Spinnen-Arten.

 

Legende (gekürzt):

Fig. 1. Eine Stern-Eydexe
Fig. 2. Die Spinne Tarantula … besonders gezeichnet unter dem Vergrösserungs-Glase
Fig. 3. Die Stellung der Augen nebst vordern Zangen der Hauß-Spinnen
Fig. 8. Eine grosse haarichte Haußspinne
Fig. 9. Eine Krebs-förmige Spinne
Fig.13. Eine Hauß-Spinne … Araneus domesticus
— Damit ist keine einheimische Spinne gemeint; Scheuchzer bezieht sich auf Sloane*, Nat. Hist. of Jamaica, Vol. II, Tab. 235 (wo indessen nicht eine Spinne wiedergegeben ist, die einen Vogel frisst).

Kupfer-Bibel, in welcher die physica sacra, oder geheiligte Natur-Wissenschafft derer in Heil. Schrifft vorkommenden natürlichen Sachen, Deutlich erklärt und bewährt von Joh. Jacob Scheuchzer […]. Anbey zur Erläuterung und Zierde des Wercks in künstlichen Kupfer-Tafeln ausgegeben und verlegt durch Johann Andreas Pfeffel; Augsburg und Ulm: Ch. U. Wagner, 1731–1735. – Tafel DLXXXVII
> https://www.e-rara.ch/zuz/content/zoom/3564931

Scheuchzer kommentiert die Stelle Jesaias 59,6: Da heisst es von den Gottlosen, dass sie Spinnfäden weben, wobei: Ihr Spinnweb taugt nicht zu Kleidern, und ihr Gewürke taugt nicht zur Decke.

Er zitiert Kirchenväter, welche diesen Vergleich auslegen auf die subtil-gekünstelten Vernünftellungen der Ketzer, welche gleich einer Spinnenwebe leicht zu durchbrechen und umzustoßen sind […] auch wenn sie vermeynen durch allerhand List, Practicken und Gewalt ihre Gewebe fertig zu haben. (S.931) Er präzisiert, dass nicht die Spinnen selbst mit den Werken der Bösen verglichen werden, denn diese arbeitsame Thierlein haben doch von ihrer Arbeit eine Frucht, sie fangen in ihrem Garn Fliegen und anders Ungeziefer, wovon sie sich nehren. Auf Tafel DCXXI zeigt er in einem formatfüllenden Spinnen-Netz fünf Arten von Spinnen, die er ebenfalls dem Buch von Sloane*, Nat. Hist. of Jamaica, Vol. II. entnommen hat.

*) Sir Hans Sloane (1660–1753) war (wie Scheuchzer selbst seit 1704) Mitglied der Royal Society; Band II von »A Voyage to the Islands Madera […] and Jamaica; with the Natural History of the Herbs […] Insects […]« erschien 1725.

In der Tradition der Physikotheologie steht auch Johann Peter Hebel (1760 –1826). Er setzt die wunderbare Web-Kunst um in ein Gedicht: »Die Spinne«, in: Allemannische Gedichte. Karlsruhe, 1803. S. 195ff. — Hier nur einige Kostproben aus diesem poetischen Text:

Nei, lueget doch das Spinnli a,
wie's zarti Fäde zwirne cha!

Es zieht e lange Faden us,
es spinnt e Bruck ans Nochbers Hus,
es baut e Landstroß in der Luft, …

Jez puzt es sini Händli ab,
es stoht, und haut der Faden ab.

Am Schluss erwischt die Spinne eine Fliege und freut sich, dass sie nach so viel Arbeit noch einen Braten bekommt — I sag's jo, der, wo alle git, wenn's Zit isch, er vergißt di nit.

Der ganze Text in der Erstausgabe hier
> https://www.deutschestextarchiv.de/book/view/hebel_gedichte_1803?p=217
Text in leicht modernisierter Schreibung
> https://de.wikisource.org/wiki/Das_Spinnlein

(Freundlicher Hinweis von Ruth J. in Z.!)

Penelope

Sie ist die berühmteste Weberin der Antike. In Erwartung der Rückkunft ihres Gatten Odysseus gibt sie den sie bedrängenden Freiern vor, ein Tuch zu weben und ihnen nach dessen Feritigstellung Gehör zu schenken. Aber sie trennt das Gewobene nachts jeweils wieder auf (Homer, Odyssee, II, 93ff.)

Die antike Darstellung im Museo archeologico nazionale, Chiusi

Favius Philostratos (ca. 170 – ca. 247) wird eine Reihe von 65 Bildbeschreibungen zugeschrieben, darunter ein "Spinnengewebe" (II, 2). Wer Penelope preise, möge auch die Spinne betrachten, die mit ihrem hauchdünnen Gespinst Penelope übertrifft!

Dieses Tier spannt sein Netz gerne da, wo es ruhig ist. Sieh dir auch die Fäden an! Dieses Garn ließen sie aus dem Mund zum Estrich hinunter, und der Maler zeigt, wie sie daran hinab- und hinaufklettern, […] und im Flug sich übend. In die Ecken bauen sie auch ihre Nester, teils weit offen, teils höhlenartig; die breiten davon sind als Sommerwohnung geeignet, die sie aber tief spinnen, deren Art ist gut im Winter.
Auch dies hat der Maler gut gemacht: die Spinne selbst so genau zu gestalten, sie naturgetreu zu tupfen, ihr so mühsam zu malendes und wild aussehendes Pelzchen darzustellen, dies kann nur ein tüchtiger und die Wahrheit treffender Künstler. Er hat uns aber auch das dünne Gewebe fein gemalt. Sieh nur! Dieser derbe Faden ist an den Ecken befestigt wie ein Mast-Tau, und an den Faden ist feines Gewebe geknüpft, das kunstvoll viele Kreise bildet, und gespannte Quermaschen laufen vom äussersten Kreis bis zum kleinsten durch mit dem gleichen Abstand voneinander wie die Kreise selbst.
Auf ihnen wandern die Weberinnen, wenn sie locker gewordene Fäden spannen.
Doch ernten sie auch Lohn für das Weben und verspeisen die Fliegen, wenn die sich in ihr Garn verwickeln. Daher ging der Maler auch auf ihre Jagd ein; eine Fliege nämlich hängt mit dem Fuße fest, die andere mit der Flügelspitze, einer dritten wird der Kopf abgefressen, und sie zappeln noch und wollen entfliehen, doch können sie das Gewebe weder verwirren noch zerstören.

Philostratos, Die Bilder (griechisch-deutsch), hg., übersetzt und erläutert von Otto Schönberger, Würzburg: Königshausen & Neumann 2004. (S.252ff.)

Après avoir lu Télémaque, L'Iliade et L'Odyssée … Honoré Daumier (1808–1879) entreprend une suite de cinquante lithographies (publiées dans Le Charivari, entre décembre 1841 et janvier 1843), consacrées à l'histoire et à la mythologie antiques. La caricature, alliée à la parodie, lui permet de tourner en dérision tout l'arsenal conventionnel de l'académisme de la peinture néo-classique.

Les nuits de Penelope
> http://expositions.bnf.fr/daumier/grand/034.htm
> http://arts.mythologica.fr/artist-d/daumier.htm

Arachne

Ovid (Metamorphosen, Buch VI, Verse 5–145) erzählt die Geschichte von Arachne:

Arachne brachte es in der Webkunst weit, so dass sie von vielen bewundert wurde. Wie sie aber darüber endlich so hochmütig wurde, dass sie sich rühmte, sie wollte es mit der Pallas selbst auf ein Wettwirken ankommen lassen, so verstellte sich diese [P.] in eine alte Frau, und suchete sie davon abzumahnen. Da sie [A.] aber auf ihrem Sinne blieb, so nahm diese [P.] ihre rechte [göttliche] Gestalt an sich, und ging wirklich einen Wettstreit mit ihr ein. Es machte auch Arachne ihr Gewebe so schön, dass Pallas an dessen Kunst nichts auszusetzen fand. Weil sie aber doch lauter Schandtaten der Götter darauf vorgestellet hatte, z.Bsp. wie Jupiter sich in einen Ochsen verwandelt habe, die Europa zu entführen; in einen Adler, die Asterie zu berücken, in einen Schwan, die Leda zu betriegen, in einen Satyr, die Antiope zu seinem Willen zu bringen, in den Amphitryon, die Alkmena zu überlisten, und was dergleichen mehr war, so zerriss sie ihr Gewebe, und stieß sie etlichemal mit dem Weberschiffchen vor den Kopf. Dieses schmerzte die Arachne dergestalt, daß sie vor Verdruss einen Strick ergriff, und sich umbringen wollte. Pallas erhielt sie zwar noch beim Leben, besprengete sie aber doch mit einem Kräutersafte, daß sie in eine Spinne verwandelt wurde. (Nach B. Hederich: Gründliches mythologisches Lexikon, 1770)

Ob Ovid damit zwei verschiedene Bild-Stile gegeneinander ausspielt? Oder ob er insinuiert, dass ein genialer Künstler (wie er selbst) einem gottgleich auftretenden Herrscher (Augustus) gegenüber keine Chance hat?

Lat. Text Ovids > https://www.theoi.com/Text/OvidMetamorphoses6.html
Deutsche Übersetzung > https://www.gottwein.de/Lat/ov/met06de.php

Ausführlich dazu: Udo Reinhardt, Arachne, 2014

Hier die geniale (und deshalb oft kopierte) Radierung von Antonio Tempesta (* ca. 1555 – 1630):

Metamorphoseon sive transformationum Ovidianarum libri quindecim, aeneis formis ab Antonio Tempesta florentini incisi et in pictorum antiquitatisque studiosorum gratiam nunc primum exquisitissimis sumptibus a Petro de Iode Antverpiano in lucem editi Aº 1606.

••• Arachne kommt auch vor in Giovanni Boccaccios (1313–1375) Buch von den berühmten Frauen (»De claris mulieribus«). Hier ist zwar nicht Pallas, dafür die versuchte Selbsttötung Arachnes dargestellt.

Ein Schöne Cronica oder Hystori bůch / von den fürnämlichsten Weybern so von Adams Zeyten an geweszt […] Erstlich Durch Joannem Boccatium in Latein beschriben / Nachmaln durch Doctorem Henricum Steinhöwel in das Teütsch gebracht […] Mit schönen Figuren durch auß geziert / Gantz nutzlich / lustig vnd kurtweilig zů lesen. Gedruckt zu Augspurg / durch Hainrich Stayner / anno M.D.XXXXIII.
Didtalisat der Ausgabe 1541 > http://daten.digitale-sammlungen.de/bsb00021201/image_2

••• In anderem Zusammenhang hatte das Motiv bereits Francesco Petrarca (1304–1374) in seiner moralischen Enzyklopädie »De Remediis utriusque fortunae« verwendet.

Die Personifikation der Freude (Gaudium) prahlt (I. Buch, Kapitel 7) mit ihrem schnellen und scharfen (velox, peracutum) Scharfsinn. Die Personifikation der Klugheit (Ratio) warnt vor sophistischen Spitzfindigkeiten: Quorundam acumen tenui cuspide frangitur. (Bei gewissen Leuten zerbricht ihr Witz mit zu feiner Spitze.)

Nun zitiert Petrarca die Geschichte von Pallas (entsprechend röm. Minerva) und der Spinne und deutet sie allegorisch: Nichts ist der weißheit hässiger / dann ein zuouil grosse spytzigkeit […] Derhalb haben die alten gedichtet / Das Pallas / der spynnen hässig sey / wellicher spynnen werck vnd gewürck / subtil vnd zart / yedoch brechlich vnd nichts nütz ist [Übersetzung 1532].

Pallas in einer prachtvollen Rüstung mit Speer und Schwert ist zudem gekennzeichnet durch vier Eulen in einem Baum:

Franciscus Petrarcha, Von der Artzney bayder Glück / des guten vnd widerwertigen […]. Augspurg: H. Steyner MDXXXII.
> http://daten.digitale-sammlungen.de/bsb00084729/image_1

••• Die Kritik an den Sophistereien ist alt. Ariston aus Keos (2. Hälfte des 3.Jhs. v.u.Z.) sagte:

Die dialektischen Lehren gleichen Spinngeweben, die, obschon sie den Eindruck einer gewissen Kunstfertigkeit machen, doch ohne Nutzen sind.
Diogenes Laertios VII,161; in der Übersetzung von Otto Apelt

••• Dante sieht im »Purgatorio« zwölf Bilder bestrafter Hochmütiger, darunter auch Arachne, die sich gegen eine Gottheit auflehnte:

O folle Aragne, sì vedea io te
già mezza ragna, trista in su li stracci
de l’opera che mal per te si fé.

Dich sah ich auch, o törichte Arachne,
Schon halb als Spinne, traurig auf den Fetzen
Des Werkes, das du machtest dir zum Unheil.

Purgatorio, 12. Gesang 43ff.
> https://it.wikisource.org/wiki/Divina_Commedia/Purgatorio/Canto_XII
> deutsche Übersetzung: http://www.zeno.org/nid/20004680707

••• Eine interessante Darstellung findet sich in der Ovid-Übersetzung von G. Wickram 1545:

Mehrere Phasen in éinem Bild:

• der Wettbewerb mit Minerva am Webstuhl (links; erkennbar am Attribut der Eule) — Arachne am Webstuhl (rechts)

• in der Mitte: Athene verwandelt die sich erhängende Minerva in die Spinne:

Georg Wickram / Gerhardus Lorichius, Metamorphosis. Das ist von der wunderbarlicher Verenderung der Gestalten der Menschen, Thier, vnd anderer Creaturen ... Jetz erstlich gebessert vnd mit Figuren ... gezirt ... Epimythium. Das ist der Lüstigen Fabeln des obgemeltes buchs Außlegung ... P. Ovidius Naso. Meintz 1545.
> https://reader.digitale-sammlungen.de/resolve/display/bsb10139926.html

••• Dramatisch stellt Magdalena van de Passe (1600–1638) die Szene dar:

Les Metamorphoses d'Ovide, En Latin Et François: Divisées En XV. Livres ; Avec De nouvelles Explications Historiques, Morales & Politiques ... / De La Traduction De Mr. Pierre Du-Ryer, Bruxelles: François Foppens 1677.
> http://daten.digitale-sammlungen.de/bsb00004337/image_1
> https://archive.org/details/mdu-rare-075244/mode/2up

••• Auf dem Kupfer von Pierre-Philippe Choffard (1730–1809) in der französischen Ovid-Übersetzung 1768 sieht man (in der dem 6.Buch vorangehenden Vignette S.174) endlich einmal dargestellt, was für üble Szenen Arachne denn gewoben hat:

• rechts unten vorne liegen die Attribute von Minerva: Eule; Schild mit dem Medusenhaupt; auf ihrem Teppich prangt eine (nicht genau identifizierbare, am ehesten in Vers 78ff. erwähnte) Szene, wo M. selbst mit Schild und Lanze herrisch auftritt und ein Ölbaum aus der Erde wächst;

• auf dem teilweise entrollten Teppich von Arachne (hinter dem Spinnennetz) ist vage erkennbar die Szene, wo Jupiter in der Gestalt eines Satyrs Antiope ent-deckt (Metamorphossen VI,110), die zeitgenössisch beispielsweise Etienne Fessard (1714–1777) dargestellt hat:

Les metamorphoses d'Ovide, en Latin et en François, de la traduction de M. l'Abbé Banier, de l’Académie Royale des inscriptions & belles-lettres; avec des explications historiques. A Paris: Chez Pissot, MDCCLXVII-MDCCLXXI

••• Gustave Doré (1832–1883) hat sich diese Metamorphose in seinen Illustrationen der »Divina Commedia« 1861 nicht entgehen lassen. – Man bedenke: Dante sieht am Boden Bilder! (So sah ich dort, nach der Meisterschaft der Kunst, überdeckt mit Bildern, was vom Gestein des Berges dient zum Wege.)

> bei Wiki Commons

••• Louise Bourgeois (1911–2010) hat mehrere rieisge Spinnen-Plastiken her- und aufgestellt, als Hommage an ihre Mutter, die als Restuaratorin von Tapisserien arbeitete. Vgl. > https://de.wikipedia.org/wiki/Maman

Spinne – moralisiert

Die Spinne und ihr Netz boten reichlich Anlass für Moralisationen aller Art.

••• Die Enzyklopädie von Petrus Berchorius (Bersuire, Pictavensius; Ende 13. Jh. – nach 1361), »Reductorium morale« (Erstausgabe erst 1521) wurde auszugsweise übersetzt von Aegidius Albertinus, S.J. (um 1560 – 1620), »Der Welt Tummel= und Schaw-Platz« (1612). Einige Hinweise:

Das mühevoll gesponnene Netz wird leicht vom Wind zerrissen: So ist die Arbeit der Reichen in der Welt, die ohne Ruhe arbeiten und deren Güter von Widerwärtigkeit weggenommen werden.

Wie die Spinne viele Füße hat, mit denen sie subtil weben und tasten kann, so der Teufel, der mit mit den Füßen der Anfechtungen das Garn spinnt und die Sünder fängt.

Obschon das Gespinst von einem giftigen Tier stanmmt,. ist es selbst als Medizin tauglich, es stillt z.B. das Blut. So ist auch der Reichtum, der von einemm Geizhals gesammelt wurde, nützlich, wenn man in recht braucht.

usw. usf.

Der Welt Tummel= und Schaw-Platz. Sampt der bitter=süssen Warheit. Darinn mit einführung viler schöner und fürtrefflicher Discurscen, nit allein die Natürliche, sondern auch Moralische und sittliche Eigenschafften und Geheimnussen der fürnemsten Creatuen und Geschöpf sehr lustig, Geist= und Politischer Weiß erklärt, und auf die Weltläuf gezogen werden. [……] . Allen StandtsPersonen, vnd sonderlich den Predigern sehr dienlich. Durch Aegidivm Albertinvm, Bayrischen Secretarium colligiert. Getruckt zu München, bey Nicolao Henrico MDCXIII, in Verlegung Hansen Krugern. — Seite 326–335.
> http://diglib.hab.de/drucke/21-phys/start.htm

••• In einem wie eine Tierfabel dialogisch inszenierten moraldidaktischen Text (2. Viertel des 14. Jhs.) entspinnt sich ein Dialog ziwschen Spinne und Fliege: Die Fliege ärgert sich darüber, dass die Spinne mit ihrem Netz den Weg versperrt. Die Spinne belehrt sie: Das tue sie, damit man immer wachsam bleibe auf dem Lebensweg.

Vide, pedem cui tribuas, et in securioribus dubita.
De aranea et musca cap. 6.

Texenti araneae retiaculam artis suae musca volitans coram posita dixit: ut quid concludis fallaci reti seruitas liberioris naturae? quo quidem jure usurpas tam publicum et tensis retiaculis modum claudis aptissimum gradiendi?

At illa respondti: nimirum naturae auctoritate hoc facio, quia doctrix effecta scholas meas in plus aptis semitis extendo.

Tunc musca subjunxit: si ita est, tunc disciplinae tuae regulas pande.

Cui illa libenter annuens iuquit: scito quod mortalium vita non minus pendet ab oculorum rectitudine quam a corde. Quod quidem ut panderet, sapientia repleta natura multum sibi invicem cor et oculum conformavit, videlicet in agilitate motus, in copiositate Spiritus et in unitate conductus. Propter hoc maxima diligentia gubernandis adhibenda est oculis, ne, si erraveris, vitam perdas […]
Die beiden ältesten lateinischen Fabelbücher des Mittelalters. Des Bischofs Cyrillus Speculum sapientiæ und des Nicolaus Pergamenus Dialogus creaturarum, hg. von J.G. Th. Grässe. Tübingen 1880 (Bibliothek des Litterarischen Vereins in Stuttgart 148) > >
> https://archive.org/details/b21782076

Schau, welchem <Ort> du den Fuss anvertraust, und zögere im allzu Sicheren!
Von der Spinne und der Fliege Kap. 6

Zu einer Spinne, die ihr Netzchen nach ihrer Kunst wob, sagte eine Fliege, die um das in die Öffentlichkeit Gehängte herumflog: "Wozu verschliesst du mit dem trügerischen Netz die durchaus freien Wege der Natur? Mit welchem Recht beanspruchst du so Öffentliches und schliesst mit gespannten Netzen einen dem Gehenden höchst willkommenen Bereich ab?"

Aber diese sagte: "Natürlich tue ich das auf Anordnung der Natur, weil ich als Lehrerin eingesetzt bin und meinen Schulraum auf die geeignetsten Wege ausweite."

Da fügte die Fliege an: "Wenn das so ist, dann eröffne mir die Regeln deiner Lehre!"

Jene nickte ihr wohlwollend zu und sagte: "Du musst wissen, dass das Leben der Sterblichen nicht weniger von der Richtigkeit der Augen abhängt als vom Herzen. Und dass das auch offensichtlich wird: Es hat die von Weisheit erfüllte Natur Herz und Auge sehr einander angeglichen, etwa in der Gewandtheit der Bewegung, in der Reichhaltigkeit des Geistes und in der Übereinstimmung des Führens. Deshalb ist auf die Lenkung der Augen höchste Sorgfalt zu verwenden, damit man nicht, wenn man abirrt, das Leben verliert." (Übersetzung von Thomas G. in W.)

Hier ein Ausschnitt aus dem illustrierten Druck der Übersetzung von Ulrich von Pottenstein:

Das bůch der Natürlichen weißheÿt, Augsburg: Anton Sorg 1490.
> http://daten.digitale-sammlungen.de/bsb00025657/image_19

In der deutschen Übersetzung von Sebastian Münster (1520) lautet der Dialog so:

Luog wo hin du dyn fuoß setzest/ und in den sicheren dingen soltu noch zwyfeln/ das lert dich dise fabel von der spinnen und fliegen. Cap. vj.

ES fluch uff ein zyt ein muck oder fliege vor einer spinnen die do span ein netzlin irer kunst und sprach zuo ir. Was verschlegst du der fryen natur die gemein straß/ und daz do yederman gemein ist/ das eigestu dir zuo mit dinem ußgespanten garn.

Antwuort die spinn. Daß ich das thuo/ hat mir dar zuo die natur gewalt geben/ dann diewyl ich ein lermeisterin worden bin/ streck ich uß myn schuol in die offen straß.

Sprach die flieg. Jst das war/ so sag an die regel diner kunst.

Antwuort die spinn. Das wil ich gern thuon. • Zum ersten solt du wissen/ daß das leben in disem tödlichen wesen so wol bedarff ein recht gesicht als ein recht hertz. Das hat die fürsichtig natur wöllen anzeigen mit dem/ das sy das hertz und das aug gar glychformig gemacht hat/ in behender bewegung/ in vil lebendiger geist/ und in einförmiger beleytung. Des halben sol man groß sorg han die augen wol zuo regiren/ uff das man nit irr und umb das leben kumm. Du solt nymmer beid augen zuothon/ sunder so eins ruowet/ sol daz ander wachen und dich regieren [Spr. 6,4]. Dann dyn aug (spricht Christus) ist ein latern dines lybs [Matth. 6,22]. Also spricht auch der wyß mann: Du solt behalten dyn hertz in grosser behuotsamkeit [Spr. 4,23] / und din aug flyssigliche bewaren. • Die ander regel ist. Das du nit zuo güdig syest mit dinen füessen/ nymmer einem zwen gebest/ uff daz so du sy villycht bütest zum bösen/ du nit nachgandes erholest iren verlust. Dann es spricht die geschrifft/ das der wyß hat sinen füeß in sinem gewalt [vgl. Spr. 1,48]/ aber der unwitzig ist under dem gewalt siner füeß. Darum sollen dine augpraen vorgan dine fuoßtritt/ und nymmer sol der fuoß das aug füeren. [Es folgt eine dritte Regel.]

Nach dem alles/ vergaß die flieg der regel und lere/ und uß irer unruow und ungestümem fliegen viel sy der spinnen in ir garn. Und als sy behing/ klagt sy über die spinn/ sy het sy betrüglichen gefangen.

Antwuort die spinn. Es ist kein betrug oder untrew/ sunder die gerechtikeit erfordert das/ daß man mit kunst und liste fahe einen der do schedlich einer gemein ist. Jch hab dich doch vorhin vermanet/ du solt ruow han und für dich din straß gan/ und hast mir nit wöllen folgen. Darumb sollen die andern uß dinem übel lernen/ das du versumet hast din guot mit diner unfürsichtikeit.

Romy Günthart, Sebastian Münster, »Spiegel der wyßheit«. Einführung, Edition und Kommentar, München: Fink (2 Bde.) 1996. — Darin I,6 und Kommentar auf S. 20–22.

(Danke R.G., für die Hinweise!)

••• Der Seidenwurm erteilt der Spinne, die ihn nach dem Sinn und Zweck seiner Arbeit fragt, eine Lehre über Uneigennützigkeit und Freigebigkeit.

Vgl. die Hinweise in > https://wiki.brevitas.org/wiki/Spinne_und_Seidenwurm

••• Der lutherische Pastor Hermann Heinrich Frey (1549–1599) widmete in seiner »Therobiblia« (1595) – einem Handbuch zur erbaulichen Ausschmückung von Predigten – der Spinne ein Kapitel (Fünffter Theil, Das Dreyzehende Capitel, Fol 366r. – 369v.):

Die Bibelstelle Jesaias 59,6 (Jr Spinneweb taug nicht zu Kleidern / vnd jr Gewircke taug nicht zur Decke / Denn jr werck ist mühe / vnd in jren Henden ist freuel. Luther 1545) ist bei Frey Ausgangspunkt für die Kritik an der Liturgie der katholischen Kirche, wozu er Luther und den lutherischen Theologen und seit 1547 scharfen Papisten-Verächter Johannes Brenz zitiert.

Da stehet der Meßpfaff für dem Altar/ bald in Königlichem Schmuck/ dem seind zween Diener zugeordnet […] die auch köstliche Kleidung haben; Mitten innen stehen die Knaben/ die auch mit weisen helleleuchtenden Kleidern sind angethan. [Sie singen, was sie lesen usw.] Aber warlich solche Meß/ mit grossem fleis vnd vnkosten verrichtet/ ist nichts anders als ein Spinnengewebd/ die zu nichts dienet/ als Fliegen vnd Mücken damit zu fangen/ die Leut zu bethören …

ΘΗΡΟΒΙΒΛΙΑ: Biblisch Thierbuch / darinne alle vierfüßige / zahme / wilde / gifftge und kriechende Ther / Vogel vnd Fisch (deren in der Bibel meldung geschiht) sampt jren Eigenschafften vnnd anhangenden nützlichen Historien beschrieben sind. Mit der alten vnd newen Kirchenlehrer Außlegungen fleissig erkleret […] Durch M. Hermannum Heinrychum Frey […], Leipzig: Johann Beyer 1595. — Reprint mit Vorwort und Registern, hg. Heimo Reinitzer, Graz: ADVA 1978.

••• Das soll die Imprese des englischen Königs Eduard II. (1284–1327) gewesen sein: Eine Spinne, die trotz blasenden Winds ihr Netz webt und alle Kräfte dagegen aufbietet.

Silvestro Pietrasanta [S.J. 1590–1647], De symbolis heroicis, libri IX, Antuerpiae: Ex officina Plantiniana Balthasaris Moreti 1634.

Audentior ibo (≈ ich will dreist voran stürmen) meint die Entschlossenheit, sich nicht um Probleme zu kümmern, sondern eine Angelegenheit direkt anzupacken. Die Wendung ist hergeleitet von Vergil, Aeneis VI,95f: Tu ne cede malis, sed contra audentior ito, | qua tua te Fortuna sinet. ≈ Weiche dem Unglück nicht, sondern tritt ihm kühner entgegen als es dein Geschick zugestehen will.

••• Antonius a Burgundia (1593–1657) stellt in seinem Emblembuch immer die eitle Prahlerei der Wahrheit gegenüber: Beim Spinnenetz:

VANITAS: Ingenii acies subtilis ≈ Die subtile Schärfe des Verstands

VERITAS: Quia subtilis, inutilis ≈ Weil subtil: unnütz

(Darauf folgt ein längerer lat. Text)

Mvndi Lapis Lydivs siue Vanitas per Veritatem Falsi accusata & conuicta, Antwerpiae: Cnobbarus 1639.
> http://diglib.hab.de/drucke/p-540b-4f-helmst/start.htm

••• Die Fliegen werden für ihre Neugier gestraft, sagt Kurfürst Karl II. (1651–1685 in seinem unter dem Pseudonym Philotheus erschienenen Emblembuch:

Symbolum XCVI: Se intricat.

Verwickelt sich
Muthwilliglich
.

Es gelingt den Fliegen übel/ welche sich unvorsichtig in die Spinnenwebe begeben; Dann sie verwickeln sich darinn/ und werden wegen ihrer Curiosität gestrafft/ und von der Spinn abgethan […]

1. Wenn die Fliege ungefehr
Bleibet an der Spinnenweben
In der Lufft unglücklich kleben/
Dann verwickelt sie sich mehr/
In dem sie von ihren Ketten
Sich gedencket zu erretten.

2. Dann was will sie fangen an/
Sie kan nimmermehr entrinnen/
Sondern sie wird von der Spinnen
Uberwunden abgetahn/
Wenn sie einmahl ist gefangen/
Kan sie kein Genad erlangen.

3. Führe weißlich deinen Tritt/
Hüte dich vor solchen Sachen/
Die verwirrte Händel machen
Und kein Nutzen bringen mit/
Die viel Ungemach erwecken/
Und darinn man bleibet stecken.
[…]

Philothei Christliche Sinne-Bilder. Auß dem Lateinischen ins Teutsch gebracht. Franckfurt/ Bey Johann Peter Zubrodt. Anno MDCLXXIX.
> https://archive.org/stream/philotheipseudch00karl#page/30/mode/2up

Lateinische Fassung: Philothei Symbola Christiana, quibus idea hominis Christiani exprimitur. Frankfurt/Main: Zubrod 1677.
> http://www.uni-mannheim.de/mateo/desbillons/symbol.html

••• Beide Tiere saugen Saft aus Pflanzen, aber die Spinne produziert daraus Gift, während die Biene aus demselben Saft Honig gewinnt:

glych wie der blumen, die wol rücht,
darusz das bylin honig zücht,
aber wenn daruff kumpt ein spinn,
so suocht sy gift nach irem gwinn!

(Fastnachtsspiel des 15.Jhs., zit. bei Grimm, DWB Band 16, Sp. 2510)

Bei Conrad Meyer (1618–1689) in Zürich sieht das so aus:

Die arbeitsame Bien das Gut auß allem fasset […]
Das wüste Thier, die Spinn, auß allem sauget Gifft […].

Fünff und zwanzig Bedenkliche figuren mit Erbaulichen Erinnerungen. Dem Tugend und Kunstliebenden Zu gutter gedechtnus in Kupffer gebracht, Durch Conrad Meyer Mahler in Zürich, Ao. 1674.
> http://diglib.hab.de/drucke/xb-4f-344/start.htm

Ein anderer Vergleich der beiden Insekten:

Die Bienen wircken ihren Blumen= und Honig=Safft im Verborgenen/ innwendig im Stock; also/ daß man nicht weiß/ welche dieses oder jenes Stück Honigseims gemacht habe. Die Spinne aber zeucht ihre saubre Arbeit/ und subtiles/ aber unnützes Gewebe/ aus dem Leib hervor an die Lufft/ und giebt sich/ samt ihrer Würckung/ zu erkennen. Sey du eine Biene/ und nicht eine Spinne. (S.1194)

Erasmus Francisci, Glantz Krafft und Würckung der Geistlichen Wandel-Sterne, welche am Firmament himmlischer Seelen leuchten, das ist der sieben Haupt-Tugenden eines wahren Christenthums, Nürnberg: Riegel 1678.

••• Julius Wilhelm Zincgref (1591–1635) demonstriert anhand der Spinne, dass sich der Herrscher immer im Zentrum (der Macht) befinden soll:

Die Spinn den mittel Punct inhelt in jhrem Netz/
Dadurch sie vnterweist Fürsten und Herren groß/
Welcher vorkommen will/ vnbill vnd Feindts anstoß/
Daß er sein Thron vnd Stul in deß Lands mitten setzt.

Sapientia Picta. Das ist, Künstliche Sinnreiche Bildnussen vnd Figuren : darinnen denckwürdige Sprüch vnd nützliche Lehren im Politischen vnd gemeinen Wesen durch hundert schöne newe Kupfferstück vorgebildet, entworffen, vnd durch teutsche Reymen erkläret werden. So auch zu einẽ Stam̃ oder Wappẽ Büchlein füglich zugebrauchen, Franckfurt: bey Joh. Am̃on vnd Petro Marschallo Jm Jahr 1624.
> http://diglib.hab.de/drucke/li-6643-2/start.htm

••• Derselbe: Die dreiste Hoffnung frohlockt nicht lange

Die Schnaack sich an den Löwen reibt/
Sticht vnd betrübt den Helden groß/
Vberhebt sich deß Siegs ohn maß
Bald in der Spinnwepp hangen bleibt.

> https://www.digitale-sammlungen.de/de/view/bsb11407817?page=57

••• Jacques Lagniet (1600? – 1675):

Le noble est l’airaignée et la Paisan la mouche

Recueil des plus illustres proverbes divisés en trois livres : le premier contient les proverbes moraux, le second les proverbes joyeux et plaisans, le troisiesme représente la vie des gueux en proverbes ; mis en lumière par Jacques Lagniet,... Paris : [s.n.] 1663.
> https://gallica.bnf.fr/ark:/12148/btv1b86267983/f49.item#

••• Ebenfalls auf den geizigen Ausbeuter wendet Conrad Meyer (1618–1689) das Emblem an:

Die Spinn laurt ohn verdruß,   auf armer Mügglein bluot:
Der Geitzig gleicher weiß,   saugt aus der Armen guot.
Reich werden mit unrecht,   das ist deß Satans strike,
Damit die Seel erarm;   Merk hie des Teüfels tüke.

Fünff und zwenzig bedenkliche Figuren mit erbaulichen Erinnerungen / dem Tugend und Kunstliebenden zuo gutter Gedechtnus in Kupffer gebracht durch Conrad Meyer Mahler in Zürich 1673. (Die Verse stammen vermutl. von Johann Wilhelm Simler [1605–1672])
> https://doi.org/10.3931/e-rara-55360

••• Für Juan de Boria handelt die Spinne verwegen, gottlos – unkann dannnihrem eigenen Gespinst nicht entrinnen:

Joannes de Boria, Moralische Sinn-Bilder. Von Jhme vor diesem in Spanisch geschrieben/ nachmahls in Lateinisch/ nunmehro aber wegen seiner Vortrefflichkeit in die Hoch-Teutsche Sprache übersetzet/ von Georg Friedrich Scharffen / Joannes de Boria. Berlin: Rüdiger 1698.
> http://diglib.hab.de/drucke/xb-2/start.htm

Joannes de Boria, Moralische Sinn-Bilder. Von Jhme vor diesem in Spanisch geschrieben/ nachmahls in Lateinisch/ nunmehro aber wegen seiner Vortrefflichkeit in die Hoch-Teutsche Sprache übersetzet/ von Georg Friedrich Scharffen / Joannes de Boria. Berlin: Rüdiger 1698. http://diglib.hab.de/drucke/xb-2/start.htm

••• Der Benediktinerabt Willibald Kobolt (1641–1687) stellte ein umfangreiches Buch zusammen, das als Predigthilfe diente. Daraus nur ein Ausschnitt:

Ferners kan auch füglich durch die Spinnen mit ihrem Geweb der böse Feind mit seinen Versuchungen verstanden werden; dann auch dieser spannet überall das Garn seiner Versuchungen aus / und lausteret biß ihm der unbehutsame Mensch eingehet /und in diesem Garn behangen bleibt / das ist / in die Versuchung einwilliget / da verstricket und verwicklet er ihn als wie ein Spinn die Fliegen / erstlich zwar mit den Stricken der Falschheit des betrüglichen Wollusts in dem Sündigen / hernach aber mit den Stricken der bösen Gewohnheit zu sündigen / und endlich (wann nicht GOtt sonderbare Gnad gibt) mit den Stricken der Verzweiflung / auf daß er sich also seiner völlig bemächtige / und dieser ihm nicht mehr entrinnen möge. Darum hat auch der heilige Paulus gesprochen: Die reich werden wollen / fallen in Versuchung /und in die Strick des Teufels. (1 Tim 3,7; 2 Tim 2,26)

Die Groß- und Kleine Welt, Natürlich-Sittlich- und Politischer Weiß zum Lust und Nutzen vorgestellt, Das ist: Der mehrist- und fürnemsten Geschöpffen natürliche Eigenschafften, und Beschaffenheit, auf die Sitten, Policey und Lebens-Art der Menschen ausgedeutet. Ein Werck, welches in 4. Theil abgetheilt ist mit mancherley curios- und nutzlichen mehrentheils allegorischen Concepten, Moralien, Geschicht und Fabeln versehen; mithin zur Auferbauung und Ergötzlichkeit aller Gelehrt- und Ungelehrten / Geistlich- und Weltlichen Stands-Personen / auch zu sonderer Bequemlichkeit deren Prediger gewidmet / verfaßt und in Truck gegeben von A.R.P. Wilibaldo Kobolt. Augsburg: Martin Veith / und Happachische Interessenten Anno 1738.
Der III. Theil, IX. Von etlich kriechenden und anderen Thieren, Der 3. Absatz.
Der ganze Text hier > http://www.zeno.org/nid/20005181984

••• Abraham a Sancta Clara (1644–1709) verwendet die Spinne für ein Emblem und eine daran anschließende Predigt; das Bild stammt von Christoph Weigel (1654–1725):

Lat. Text (übersetzt von Thomas G. in W.; Text der besseren Ausgabe 1707):

Die Spinne.
     Den andern durch eigene Laster schädlich,
Ist sie die schlimmste.

Schau, mit welch staunenswerter Kunst die Spinne webt,
     Dünn <sind sie>, die Aufhängung, der Radius; sie selbst und ihr Garn.
Das presst sie selber heraus und knüpft den Faden dann in den Baum,
     Hängend läuft sie auf verschiedenen Wegen darüber hin und her.
Wo sie läuft und neue Fäden zieht, spannt sie rundum ein sechseckiges
     Netz, aus ihren Gespinnsten erzeugt.
So viele Schlingen knüpft sie, so viele Tage lang reiht sie Fäden an,
     Weil sie dich, kleine Fliege, als Beute will.
Wer so, dass andere zugrunde gehen, seine Geschäfte treibt, der
     Ist mit seiner vergifteten Betrügerei voll und ganz eine Spinne.

Deutscher Text (auf der folgenden Seite)

Die Spinne.

So thut mancher selbst sich weh/ daß es andern übel geh.

Schau! Es ist Wunderns werth/ der Spinnen künstlichs Weben
    Die selbst ihr Garn und Kamm/ ihr Eintrag/ Spuhl/ und Stuhl.
Sie zettelt Fäden an aus ihrem Leib und Leben
    Und rennt (Seil-Tänzer komm’ und geh’ hier in die Schul)
von dem/ zum andern Baum. Sie zieht mit höchstem Fleiß
    aus ihrem Därmer-Zwirn/ ein allzeit frisches Gleiß.
[einen Strang]
Recht nach der Messe-Kunst. Führt gleich abstehnde Züge/
    Und schliest sie ingesamt mit einem Sechs-Eck ein.
Und dieses alles thut sie dir/ du kleine Fliege/
    Daß du darinnen mögst von ihr gefangen seyn.
    Wer nun sich selbst verderbt/ zu andrer Leute Leid/
    Ist der nicht Spinnen-Art von Falschheit/ Gifft und Neid?

Huy! und Pfuy! der Welt. Huy / oder Anfrischung zu allen schönen Tugenden: Pfuy / oder Abschreckung von allen schändlichen Lastern: durch unterschiedliche sittliche Concept, Historien / unde Fabel vorgestellt. Worinnen der Poet / Prediger und waserley Standes=Personen für ihren Kram etwas finden können; durch R. P. Abraham à S. Clara, Augustiner Barfüsser= Ordens […] Mit Kupffern geziert und verlegt durch Christoph Weigel […] in Nürnberg. Gedruckt bey Martin Frantz Hertzen 1710.
Digitalisat der EA > http://digi.ub.uni-heidelberg.de/diglit/abraham1707
> http://emblematica.library.illinois.edu/detail/emblem/E010249

••• Barthold Heinrich Brockes (1680–1747) beobachtet eine kluge Motte, die dem Spinnenetz entflieht – wie die Seele der Sünde:

Das Eulchen*.

Am Abend saß ich jüngst, gelassen und in Ruh,
In einem kleinen Garten-Zimmer,
Und sah, durchs Fenster-Glas, wie sich des Tages Schimmer
Gemach verringerte: Die Schatten nahmen zu.
Indem erblicket’ ich ein ämsiges Geschwebe.
Von einer Spinnen war ein ziemlich starck Gewebe
Im Zimmer, vor den Scheiben her, gespannt,
Und, zwischen dieser falschen Wand,
Sah ich, am Scheiben-Glas’, ein weisses Eulchen fliegen
Stets auf und nieder, hin und her.
Es schien, ob sucht’ es bloß am Lichte sein Vergnügen,
Und, daß es blos dadurch gesichert wär.
Ihr schwartzer Feind, die Spinne, ruhte nicht,
Sie lieff’ bald in die läng’, bald in die qver,
Mit offnen Klauen   doch des Himmels Licht,
Des Eulchens Augenmerck, wodurch es nicht zurücke,
Und nur stets vorwärts flog, befreit es von dem Stricke
Und seinem Untergang, indem es ungefehr,
Nach langem Flattern, in der Scheibe
An eine Spalte kam,
Und, durch dieselbige, sich seinem Tod’ entzog,
Die Freyheit fröhlich nahm,
Und nach dem lang gesuchten Lichte flog.

Der Zufall rührte mich, und glaubt' ich, daß, zur Lehre,
Er nützlich anzuwenden wäre.
Das Eulchen schiene mir der Seelen Bild zu seyn;
Das Scheiben-Glas des Cörpers; durch den Schein
Des Lichtes schiene mir die GOttheit; Sünd’ und Welt
Durch das Geweb’ und durch die Spinne, vorgestellt.

Barthold Heinrich Brockes, Irdisches Vergnügen in Gott, bestehend in Physicalisch- und Moralischen Gedichten, Fünfter Theil, Hamburg: Conrad König 1736, S.107f.

*) Eulchen ≈ Motte, vgl. ich seh’ die kleinen Eulchen schweben, | die man Ephemeris sonst heisst. (Brockes Band 4, 351)

••• Bei Christian Fürchtegott Gellert (1715–1769) gilt die Spinne als hochmütiger Pedant, dessen Kunst niemandem nützt:

Die Spinne

Hochmütig über ihre Künste,
Warf vom durchsichtigen Gespinnste
Die Spinne manchen finstern Blick
Auf einen Seidenwurm zurück;
So aufgebläht wie ein Pedant,
Der itzt, von seinem Wert erhitzet,
In Werken seiner eignen Hand
Bis an den Bart vergraben sitzet
Und auf den Schüler, der ihn grüßt,
Den Blick mit halben Augen schießt.

Der Seidenwurm, den erst vor wenig Tagen
Der Herr zur Lust mit sich ins Haus getragen,
Sieht dieser Spinne lange zu
Und fragt zuletzt: »Was webst denn du?« –
»Unwissender!« läßt sich die Spinn' erbittert hören,
»Du kannst mich noch durch solche Fragen stören?
Ich webe für die Ewigkeit!«

Doch kaum erteilte sie den trotzigen Bescheid,
So reißt die Magd mit Borsten in den Händen
Von den noch nicht geputzten Wänden
Die Spinne nebst der Ewigkeit.

Die Kunst sei noch so groß, die dein Verstand besitzet,
Sie bleibt doch lächerlich, wenn sie der Welt nicht nützet.
»Verdient«, ruft ein Pedant, »mein Fleiß denn keinen Dank?« –
»Nein! denn er hilft nichts mehr als andrer Müßiggang.«

Fabeln und Erzählungen, Erstes Buch, Leipzig: Wendler 1746, S.75f
> http://www.zeno.org/nid/20004805933

••• Johannes Oppelt S.J. (ca. 1730/1750):

SPES PASCIS INANES ≈ Du nährst nichtige Hoffnungen

Die Spinne.

NIcht stehe nach so schlechten dingen/
Die weder Ruhm noch Nutzen bringen!

Die Zarte Lyderin [Arachne] spinnt Garn zum dinnen Netze
     Aus eignem Ingeweid/      
Und wann es dann bereit/
So dienet es allein zu eytler Fliegen-Hetze.
Sie lauert Tag/ und Nacht/ auf der gestrickten Breite/
[Fläche]
    Und wann das Gelücke will/
    So ist es endlich viel/
Daß eine Mucke nur/ ist worden ihr zur Beute.
Wer wohl bescheiden hofft/ stehe nicht nach eytlen Sachen/
     Die nach so langer Müh/
     (Erlanget er gleichwohl sie)
Ihm weder Ruhm noch Lust/ noch wahren Nutzen machen.

Sammlung geist- und sinnreicher Gedancken uber verschiedene aus der Natur, Kunst, und Wissenschafften vorgestellte Sinn-Bilder. Durch alle Gattungen der Hoch-Teutschen Reim-Kunst, theils zur Tugendsamen Lehr, und nutzlicher Gemüths-Ergötzung/ theils zur angenehmen Gesang/ im Druck heraus gegeben von P. Joanne Oppelt Societatis Jesu. Prag: Gedruckt in der Carolo-Ferdinandeischen Universitäts-Buchdruckerey Soc. Jesu bey St. Clementz durch Jacobum Schweiger Factorn 1749. — Anderter Theil, Zwey und Zwantzigstes Sinn-Bild

> https://archive.org/details/sammlunggeistund00oppe

> https://mdz-nbn-resolving.de/bsb00077551

Gicht und Spinne

La Fontaine, Fabel III,8:

Die Hölle, die sowohl die Gicht als auch die Spinne geschaffen hat, stellt die beiden vor die Alternative, sich entweder in einer elenden Hütte oder einem prächtigen Palast sich einzuquartieren. — Die Spinne mag nicht in einer Hütte ziehen, und die Gicht fürchtet sich vor den Ärzten in den Palästen. — Das Netz der Spinne wird indessen im Plast immer wieder weggeputzt; und der der arme Mann in der Hütte arbeitet streng, um die Gicht wegzubekommen. — Da tauchen die beiden den Ort: die Spinne zieht in die Hütte, wo sie kein Besen stört, und die Gicht zu einem Prälaten, macht ihm Pein und lässt ihn nicht mehr aus dem Bett....

Deutsche Übersetzungen:
> la_fontaine_buch_3.htm#Die_Gicht_und_die_Spinne
> http://www.fabelnundanderes.at/

Grandville in seiner Illustration mischt die Szenen: die Kammerzofe entfernt die Spinnweben – auf dem Bild an der Wand der streng arbeitende arme Mann – die Hauptszene: der von einem Arzt verpflegte Gichtkranke:

Die Kleinen fängt man – die Großen rasen durch

Hierzu hat Clausdieter Schott (s. unten) einen von der Antike bis in die Gegenwart umfangreich recherchierten Aufsatz vorgelegt. Hier nur Kostproben aus der voluminösen Sammlung:

••• Eine oft zitierte Stelle ist Valerius Maximus, »Facta et dicta memorabilia« (7.2.ext.14):

Quam porro subtiliter Anacharsis leges araneorum telis conparabat! nam ut illas infirmiora animalia retinere, ualentiora transmittere, ita his humiles et pauperes constringi, diuites et praepotentes non alligari.

Übersetzung von Eberhard Werner Happel 1678 (hier ext. 11): Wie gar weislich verglich Anacharsis die Gesetze der Spinnweben; denn gleich wie wir sehen/ daß von denselben die kleine Thiere auffgefangen werden/ die grössere aber durchfallen/ also sehen wir auch/ daß die arme und geringe Leute müssen herhalten/ die Reichen aber und Gewaltigen bleiben ungebunden.

••• Sebastian Franck (1499–1542) »Sprichwörter/ Schöne/ Weise/ Herrliche Cluogreden vnnd Hoffsprüch« (Frankfurt a.M. 1541):

Der richter und der welt gerechtigkeyt wirt damit gestupft, daß sy ir recht feyl hat und die grossen hummeln und dieb laßt durch hin schlupfen und die kleynen henckt sie/ wie Anacharsis das recht einer spinnwepp vergleicht, das durch die schnur premen faren/ die mücklin hangen. Dann die kleynen diep haben kein ansehn und dem richter nicht zegeben/ dram müssen sie dran.

Und einige Ergänzungen. In der Emblematik ist dieses Thema beliebt. Vgl. dazu: Arthur Henkel / Albrecht Schöne, Emblemata. Handbuch zur Sinnbildkunst des XVI. und XVII. Jahrhunderts, Stuttgart 1967, Sp.939–942.

 

••• Guillaume de La Perrière (1499–1565)

Schön ist die Erfindung der Spinne und gut geeignet, kleine Fliegen in ihrem Netz zu fangen. Sie ist aber schwach und gegen die Großen und Wilden schutzlos. — Heutzutage fürchten die Mächtigen keinen Zwang, und das Gesetz herrscht nur über die Elenden und Armen. Die Reichen haben einen Freibrief, Böses zu tun. Die Armut hat nie Wind im Segel. So sollte es nicht sein, aber es ist evident, dass eine große Fliege das Gewebe zerstört. (Übers. bei Henkel/Schöne Sp.939)

La morosophie de Guillaume de la Perriere Tolosain contentant cent emblemes moraux, illustrez de cent tetrastiques latins, reduitz en autant de quatrains francoys Lyon 1553.
> http://gallica.bnf.fr/ark:/12148/bpt6k311208r

••• Petrus Costalius (1510–1568)

Petri Costalii Pegma, Cum narrationibus philosophicis Apud Matthias Bonhomme 1555.

Zur Spinne, bekannt gemacht durch Diogenes [bezieht sich auf Diogenes Laertios I,58] (Übersetzung von Thomas G. in W.)

Auf die bestechlichen Richter.

Im Flug zerreisst die Gewebe der stolzen Arachne
     die Bremse, und furchtlos zerzaust sie die weichen Garne.
Gefangen wird aber die schmächtige Fliege mit ihrem mageren Leib
     Und entgeht nicht dem mit kundiger Hand hergestellten Netz.
So entkommt der Arme den Urteilen der dazu aufgestellten Urne kaum,
     Aber der Reiche bricht durch den Zaun und geht unbehelligt weg.

••• Joachim Camerarius (1534–1598), »Symbola et emblemata« (lat. Erstausgabe des 3. Bands 1596).

Vierhundert Wahl-Sprüche und Sinnen-Bilder, durch welche beygebracht und außgelegt werden die angeborne Eigenschafften, wie auch lustige Historien und Hochgelährter Männer weiße Sitten-Sprüch. Und zwar Im 1. Hundert: Von Bäumen und allerhand Pflanzen. Im II. Von Vier-Füssigen Thieren. Im III. Von Vögeln und allerley kleinen so wol fliegenden als nit fliegenden Thierlein. Im IV. Von Fischen und kriechenden Thieren. Vormahls durch den Hochgelährten Hn. Ioachimum Camerarium In Lateinischer Sprach beschrieben: Und nach ihm durch einen Liebhaber seiner Nation / wegen dieses Buchs sonderbarer Nutzbarkeit allen denen die in vorgemelter Sprach unerfahren seyn/ zum besten ins Teutsch versetzet, Maintz: Bourgeat 1671.

Die Großen bleiben nicht behangen/
Die Kleinen werden nur gefangen.

Die Gesetz und Rechte sind einer Spinnweb zu vergleichen/
    Die der kleinen Fliegen-Schaar
    Bringt Verderben und Gefahr/
Wespen aber können leicht durch das dünne Netze streichen:
Also werden die Gesetz von den Großen und den Reichen
   Durch gewalt und Macht geschwächt;
   Aber der verarmte Knecht
       Wird bedrücket
       Und verstricket.
[doppeldeutig: Spinnen-Schlinge und Galgen-Strick!]

••• Florens Schoonhoven (1594–1648) spricht die korrupten Richter gleich schon im Titel an. Mercur (erkennbar am Flügelhelm und dem Caduceus-Stab) nähert sich dem Richter; er gilt als der schlaue, betrügerische Gott.

Aranearum tela magnis rumpitur
   Muscis, minores strangulat;
[…]

Das Spinnennetz wird zerrissen von großen
     Fliegen, die kleinen umschlingt es;
Angeklagte mit Vermögen lenken den Spruch der Richter
     mit dem Wohlgeruch von Geschenken;
Wer nichts hat, um die Gesetze zu beugen, kriegt jämmerlich
   Hiebe auf die Haut als Habenichts.

(Übers. mit Umsetzung der Alliteration p-p-p im letzten Vers: Thomas G. in W.)

Der gelehrte Kommentar – beginnend mit: Der Ausspruch stammt von Anacharsis und er verspottet damit Solons Eifer im Abfassen von Gesetzen. Er sagte nämlich jeweils, die Gesetze seien den Spinnweben recht ähnlich,… – umfasst mehrere Seiten mit antiken Textstellen.

Emblemata Florentii Schoonhovii, partim moralia, partim etiam civilia. Cum latiori eorundem ejusdem auctoris interpretatione. Accedunt et alia quædam poëmatia in alijs poëmatum suorum libris non contenta, Goudæ: Apud Andream Burier 1618.
> https://archive.org/details/emblemataflorent182scho/page/201/mode/1up

••• Jacob Cats (1577–1660) wendet das Verhalten der Spinne und der Insekten auch an auf den dummen Liebhaber. Venus versucht wie die Spinne die Menschen zu fangen; in ihrem Netz bleibt nur hängen, wer leichtfertig herumschwebt. Bienen und wer Gutes tut, kann Venus widerstehen. Was keine Krafft/ Das bleibt in hafft.

Proteus ofte Minne-Beelden verandert in Sinne-Beelden, Rotterdam 1627.
> http://diglib.hab.de/drucke/2-1-eth/start.htm

Non intrandum, aut penetrandum — Entweder nicht hineinkommen – oder hindurchkommen

(Die ersten beiden Verse im Epigramm sind ein Zitat aus Ovid, »Ars amatoria« I,387 und 389 zum Thema an prosit violare ministram.)

Dazu allein rate ich, wenn man der Belehrung einigen Glauben schenkt: […]
Entweder beginnst du es nie – oder du vollendest es.

Das Zitat aus Montaigne, »Essais« III,5: Le vice est de n’en pas sortir; non pas d’y entrer. bezieht sich ebenfalls auf den Besuch bei einer Kurtisane.

••• Auch Willibald Kobolt (1738; siehe oben) kennt diese Auslegung:

Aber zu mercken ist / daß gleichwie die Spinnen nur die kleine schwache Thierlein / als Fliegen / Mucken und dergleichen in ihrem Garn zufangen / und zuverstricken pflegt / die grössere und stärckere Thierlein aber / als wie die Wepsen und Hurnaussen / etc. wann sie an einem Spinnen-Geweb anstossen / schlagen sie sich durch / zerreissen der Spinnen ihr Garn / verjagen sie / und fliegen ungehindert fort: eben also kan der Teufel in dem Garn und Fall-Stricken seiner Versuchungen nur diejenige fangen und aufhalten /welche klein und schwach in dem Glauben und der Tugend seynd: die Stärckere und Tugendhaffte aber schlagen sich leichtlich durch / sie zerreissen das Garn / das ist / sie verstöhren und zernichten die Anschläg oder Vorhaben des höllischen Feinds / und jagen ihn selber in die Flucht.

Die Spinne begleitet die Melancholie

Raymond Klibansky / Erwin Panofsky / Fritz Saxl, Saturn und Melancholie, (engl. 1964), dt. Übersetzung Frankfurt/M.: Suhrkamp 1990 machten (S. 547 und Abb. 143) aufmerksam auf diesen Holzschnitt von Christian Friedrich (1770–1843) nach Caspar David Friedrich (1774–1840):

Graphische Sammlung ETH Zürich, Inventarnummer D 1182
> https://www.graphikportal.org/document/gpo00218417

Der Bezug zwischen Melancholie und der Spinne beruht möglicherweise auf dem seit etwa 1530 gebräuchlichen Wort spintisieren; vgl. Grimm, DWB unter den Einträgen ›spintisieren‹ und ›Hirngespinnst‹ [sic] zitiert: Grillen, Phantasieen und Spintisirerey (Goethe 1818) — Adelung, WB (1796): »Das Hirngespinst, … ein Werk der bloßen Einbildungskraft, welches entweder gar nicht, oder doch nicht auf die eingebildete Art vorhanden ist, im verächtlichen Verstande; eine Chimäre.« — Dass Melancholiker:innen in diesem Sinne spintisieren, ist eine alte Einsicht der Psychologie.

Aber wahrscheinlicher ist diese Spinne einfach aus diesem Emblembuch ausgebüxt, wo der Müßiggang (otium) dadurch verspottet wird, dass eine vor sich hindösende Schlange nicht durch die Spinne aufgeschreckt wird:

In otio negotiatur

Le cœur est bien tost captif
Quand Amour le trouve oisif.

Amoris divini et humani antipathia, sive effectus varij, e varijs Sacrae Scripturae locis deprompti, emblematis suis expressi ... 1629.
> https://gallica.bnf.fr/ark:/12148/bpt6k1520804b/f5.item
> https://archive.org/details/amorisdiviniethu00antv/page/n7/mode/2up
> https://www.dbnl.org/tekst/leuv001amor01_01/leuv001amor01_01_0029.php

Feindschafft zwischen Kröten und Spinnen

Peter Lauremberg (1585–1639), Neue und vermehrte ACERRA PHILOLOGICA Das ist: Sieben Hundert Außerlesene, Nützliche / lustige und denckwürdige Historien und Discursen. Aus den berühmtesten Griechischen und Lateinischen Scribenten zusammen getragen, Frankfurt am Main / Leipzig, 1717 (Erstausgabe 1637):

Drittes Hundert, 78: Feindschafft zwischen Kröten und Spinnen.

Erasmus von Rotterdam / in seinen Gesprächen / erzehlet eine Geschicht / welche würdig ist / daß man sie mercke: Und ob er zwar selber es eine Fabel nennet / so bezeugets doch jetzund die tägliche Erfahrung / daß es sich in der Natur wahrhafftig also befindet. Zwischen der Spinnen und der Kröten ist eine innerliche und inbrünstige Feindschafft und grosse Widerwärtigkeit / daß / wann die Spinne der Kröten ansichtig wird / sie alsbald diese anfähret / und zu tödten sich bemühet. / Auf eine Zeit hatte ein Mönch in Britannien etliche Bündlein Grases oder Binsen gesammlet / selbige in seine Kammer zu streuen / zur Erfrischung. Er legt sich schlaffen aufm Rücken / siehe /da kreucht ihm eine grosse Kröte ans Maul / hefftet sich an die Ober- und Unter-Leffze mit ihren vier Füssen gar fest. Die Kröte mit Gewalt abzureissen / wäre der gewisse Tod gewesen: Sie sitzen lassen / und so immerfort am Munde tragen / wäre greulicher als der Todt. Was war hier für Mittel und Rath? Da seynd etliche Naturerfahrne Leute gewesen / welche gerathen /man solte den Mönch ans Fenster tragen / aufn Rücken legen / gerade unter eine grosse Spinne / die eben zur Zeit allda ihre Herberge hatte. Solches ist geschehen. Die Spinne / so bald sie ihres Feindes / der Kröten / gewahr worden / hat sich mit einem Faden schleunig herunter gelassen / ist der Kröten aufn Leib gesessen / ihr einen Stich gegeben / und alsbald wieder mit ihrem Faden in die Höhe gefahren. Die Kröte fänget an zu schwellen / bleibet aber sitzen. Die Spinne sticht noch einmal: Die Kröte schwillet noch mehr / stirbt aber doch nicht. Endlich drittens wie die Spinne noch eins gestochen / hat die Kröte ihre vier Füsse nach sich gezogen / ist gestorben / und vom Mönche abgefallen.

Es ist nichts in der Natur so böß oder gifftig / daraus den Menschen nicht kan Nutz und Frommen entstehen.

> http://www.zeno.org/nid/20005236681

Die Tarantel

Der Biss der giftigen Spinne Tarantel wird durch Musik geheilt.

Interessanterweise äußert sich der Unversalgelehrte Athanasius Kircher (1602–1680) in seinem Buch »Magnes sive de arte magnetica« (1641; 2.Aufl.1643) ausführlich dazu, weil er der Auffassung ist, dass der Musik magnetische Kräfte innewohnen, die auf die sie Hörenden einwirken.
> https://www.e-rara.ch/zut/content/zoom/4319417
> https://archive.org/details/bub_gb_nK1DAAAAcAAJ/page/n963/mode/2up

Erasmus Francisci (1627–1694) stellt (bunt und ohne logische Durchdringung) mehrere Autoren zusammen, die über die Tarantel berichtet haben. Einen großen Raum nehmen Exzerpte aus Athanasius Kircher ein. (Wir sind dankbar, das er den lat. Text auf deutsch zusammenfasst...). — Der Biss der Tarantel erzeugt nicht nur starke Schmerzen, er beeinträchtigt die Gebissenen auch psychisch schwer. — Verabreichung von Gegengift nützt nur, wenn man den Patienten zu tanzen nötigt, bis er vor Ermüdung zu Boden fällt, dann auffrischt und wieder tanzen lässt, dies vier Tage lang. Auf diese Weise wird das Gift mit dem Schweiß ausgetrieben. — Die auf den Patienten einwirkenden Harmonien muntern seine Lebens-Geisterlein auf, so dass die dort verborgene Kraft des Gifts schwindet. — Wichtig ist, dass die zum Tanzen aufgespielte Musik mit dem Gift eine Synpathy hat, so dass die Affecten der Tänzer aufgelöst werden; denn imfall der Klang dem scharffsiechenden Humor des Giffts nicht recht proportioniert [ist]/ fühlt der Patient gar keine Erleichterung davon/ daß er vielmehr/ durch solchen un bequemen Ton jämmerlich gepeinigt und gefoltert wird. — usw. usf. &c.

Die lustige Schau-Bühne von allerhand Curiositäten: darauf viel nachdenckliche Sachen, sonderbare Erfindungen, merckwürdige Geschichte, Sinn- und Lehr-reiche discursen, auch zuweilen anmuthige Schertz Reden und Erzählungen, fürgestellet werden Bey freundlicher Sprachhaltung aufgerichtet und erbauet, amtlichen vertrauten guten Freunden: und beschrieben durch E.F. Samt beygefügten Register, Nürnberg: Endter 1663; S. 672-692 (!)
Direkt zur Textstelle > http://digital.bibliothek.uni-halle.de/hd/content/pageview/792398

Michael Bernhard Valentini (1657–1729) zeigt zu seinem viel knapperen Text das Tier im Bild und die zur Heilung erforderlichen Noten: Melodey wordurch die von der Tranantula gebissene curiret und geheilet werden. (Das Bild ist inspiriert von Athanasius Kirchers Buch.)

Durch das Gift werden die Gebissenen schwermütig. Die Musicanten müssen allerhand Thon und Melodien anstimmen/ biß sie den rechen Laut treffen — der Thon muss sowohl der Größe als der Farb der Tarantulae proportioniert seyn — Dann fangen sich die sonst halbtodte Patienten allgemach an zu regen/ holen tieffe Seuffzer/ springen auf tantzen mit sehr wunderlichen Leibs-Bewegungen und Crimassen/ zwey biß drey Stund lang.

Musei Museorum. Oder Der vollständigen Schau-Bühne frembder Naturalien Zweyter Theil/ Worinnen Die rareste Natur-Schätze aus allen biss daher gedruckten Kunst-Kammern / Reiss-Beschreibungen und andern Curiosen Büchern enthalten/ und benebenst einer Neu-auffgerichteten Zeug- und Rüst-Kammer der Natur/ auch vielen Curiosen Kupffer-Stücken vorgestellt sind. Frankfurt a.M.: Zunner 1714.
Drittes Buch / Von allerhand Thieren. Das XLIII. Capitel. Von den Spinnen, absonderlich denen so genandten TARANTULEN. (S. 514)
> https://www.biodiversitylibrary.org/item/30610

Thomas Browne (1605–1682) ist diesbezüglich skeptisch:

Some doubt many have of the Tarantula, or poisonous Spider of Calabria, and that magical cure of the bite thereof by Musick. But since we observe that many attest it from experience: Since the learned Kircherus hath positively averred it, and set down the songs and tunes solemnly used for it; Since some also affirm the Tarantula it self will dance upon certain stroaks, whereby they set their instruments against its poison; we shall not at all question it.

Pseudodoxia Epidemica or Enquiries into very many received tenents and commonly presumed truths, (The Sixth and Last Edition of 1672) Book III: Animals, Chapter xxviii
> https://penelope.uchicago.edu/pseudodoxia/pseudodoxia.shtml#III

La Querelle des Anciens et des Modernes

Jonathan Swift (1667–1745) inszeniert eine Kontroverse zwischen Spinnen und Bienen. In einer Ecke der Bibliothek wird eine fette Spinne von einer Biene attackiert, die ihr Netz zerstört; es kommt zu einem Streitgespräch, in der die Spinne der Biene vorwirft, sie plündere überall in Feld und Garten, Nesseln wie Veilchen, während sie selbst ein angeborenes Vermögen (nämlich ein Netz zu konstruieren) in sich selbst trage:

Your livelihood is a universal plunder upon nature: a freebooter over fields and gardens: and for the sake of stealing will rob a nettle as readily as a violet; whereas I am a domestic animal, furnished with a native stock within myself.

Die Biene fragt dagegen, was edler sei: das Wesen, dass auf einem kleinen Platz sich stolz aus sich nährt und dabei nur Gift und Spinnweben hervorbringe, oder dasjenige, welches auf langer Suche und fleissig, mit sicherer Unterscheidung der Dinge Honig und Wachs einträgt:

whether is the nobler being of the two—that which by a lazy contemplation or four inches round, by an overweening pride, feeding and engendering on itself, turns all into excrement and venom, producing nothing at all but fly-bane and a cobweb: or that which by a universal range, with long search, much study, true judgement, and distinction of things, brings home honey and wax?

Aesop, der diesen Streit verfolgt hat, wendet die Aussagen auf die Querelle des Anciens et des Modernes an: Die Spinne parallelisiert er mit den Modernen, die Biene mit den Fürsprechern der Antike.

Biene und Spinne sind auf dem Frontispiz links oben zu sehen.

[Jonathan Swift] Full and True Account of the BATTEL Fought last Friday, Between the Antient and the Modern BOOKS in St. James’s Library (entstanden um 1697; gedruckt im Anhang von »A Tale of a Tub« 1704) Satiren und Streitschriften, ausgew., übers. und mit einem Nachw. vers. von Robert Schneebeli, Zürich: Manesse 1993. (bes. S. 21–28). Das Kupfer in The fifth edition: with the author's apology and explanatory notes. By W. W--tt--n, B.D. and others. London, MDCCX.   > online hier

Literaturhinweis: Ellke Wawers, Swift zwischen Tradition und Fortschritt. Studie zum ideengeschichtlichen Kontext von "The battle of the books" und "A tale of a tub" (Trierer Studien zur Literatur 16), Frankfurt am Main / Bern [etc.]: Lang 1989; bes. S.174ff. und 215ff.

Spinnenetz als Text

Theodor W. Adorno (1903–1969), »Minima moralia« (1951)

Anständig gearbeitete Texte sind wie Spinnweben: dicht, konzentrisch, transparent, wohlgefügt und befestigt. Sie ziehen alles in sich hinein, was da kreucht und fleucht. Metaphern, die flüchtig sie durcheilen, werden ihnen zur nahrhaften Beute. Materialien kommen ihnen angeflogen. Die Stichhaltigkeit einer Konzeption läßt danach sich beurteilen, ob sie die Zitate herbeizitiert. Wo der Gedanke eine Zelle der Wirklichkeit aufgeschlossen hat, muß er ohne Gewalttat des Subjekts in die nächste Kammer dringen. Er bewährt seine Beziehung zum Objekt, sobald andere Objekte sich unkristallisieren. Im Licht, das er auf seinen bestimmten Gegenstand richtet, beginnen andere zu funkeln.

(Hinweis von Urs Herzog)

Spinne in der politischen Karikatur

 

••• 1621 — Im Spinnennetz sind mehrere Dörfer und Städte gefangen; wer ist gemeint?

Gehaime Andeutung vber den vermainten König 1621


> https://www.bavarikon.de/object/bav:KVC-LUT-0000000000049564?lang=de

Die in den Strophen (unterhalb des Bilds) genannten Tiere (mit Verweisziffern auf die dargestellten Tiere), bieten keine Entschlüsselung.

7

Nach so vil die da kommen seynd
   Das Unbild groß zu rechen/
Kompt auch die Spinn ein starker Feind
   Tut nach dem Gifft hart stechen/
Das Hirn saugt sie dem Löwen auß
   Auß seinem Haupt mit Zoren/
Und macht ein Spinnenweben drauß
   Der Raub ist nu verloren.

Beate Rattay weist im Kommentar den Löwen dem Pfalzgrafen Friedrich V. (böhmischer Köng 1619–1620) zu und kann von hier aus auch weitere Tiere deuten. Aufgrund der Pseudoetymologie könnte mit der die Spinne der Feldherr Ambrogio Spinola (1569–1630), seit 1621 Heerführer im spanischen Krieg gegen die Niederlande, gemeint sein.

Illustrierte Flugblätter aus den Jahrhunderten der Reformation und der Glaubenskämpfe. Herausgegeben von Wolfgang Harms. Bearbeitet von Beate Rattay. Kunstsammlungen der Veste Coburg 1983, Nummer 77.
> https://online.kunstsammlungen-coburg.de/downloads/katalog-illustrierte-flugblaetter.pdf

••• Napoleon 1808

Thomas Rowlandson (1757–1827): The Corsican Spider in His Web! (1808)

https://archive.org/details/mma_the_corsican_spider_in_his_web_392746
https://gallica.bnf.fr/ark:/12148/btv1b69412622.item
https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Bodleian_Libraries,_The_Corsican_spider_in_his_web.jpg

Bild und Beschreibung hier > https://www.metmuseum.org/art/collection/search/392746

••• Sonderbund in der Eidgenossenschaft 1847:

Was jetzt dann mit dem Sonderbund anzufangen wäre!

Litho von Heinrich von Arx (1802–1858)

Aus: Der Gukkasten, 27. Juli 1847 Das ist der Moment, wo die Tagsatzung beschloss, den Sonderbund aufzulösen. Offenbar ist gemeint, dass das Netz der wirkenden sieben "ultramontanen" Kantone vom urscheizerischen Landsknecht weggefegt wird.

Friedrich Jenni [1809–1849] verlegte in den spannungsgeladenen Jahren 1843 bis 1849 ein Witzblatt, in dem er radikal die Gegner der liberalen Gesinnung in der Eidgenossenschaft karikierte: Der GUKKASTEN, Zeitschrift für Witz, Laune und Satyre.

Grandville

Grandville (1803–1847) war in den politisch turbulenten 1830er Jahren in Frankreich ein regime-kritischer Karikaturist; nach dem Erlass der restriktiven Pressegesetze im September 1835 musste er sich neu orientieren und illustrierte nun literarische Texte – aber dies sind wiederum Satiren, allerdings in verschlüsselter Form. Hier eine Ilustration im surrealen Text Encore une révolution von ›P.–J.Stahl‹ (Pseudonym von Pierre-Jules Hetzel):

Un Éléphant se balançait
Sur une toile d’Araignée;
Voyant qu’il se divertissait,
Une Mouche en fut indignée:
Comment peux-tu te réjouir,
Dit-elle, en voyant ma souffrance?
Ah! vient plutôt me secourir,
Ma main sera ta récompense.

Scènes De La Vie Privée Et Publique Des Animaux. Études De Mœurs Contemporaines, Publiées Sous La Direction De M. P.-J. Stahl, Avec La Collaboration De Messieurs De Balzac ... Vignettes Par Grandville, Paris: J. Hetzel et Paulin, Éditeurs [EA 1842].

Dt. Übers.: Bilder aus dem Staats- und Familienleben der Thiere, hg. August Diezmann, Leipzig: Teubner, 1846. Neuausgabe mit Nachwort von Karl Riha (insel taschenbuch 214) 1976.

Literaturhinweise

Clausdieter Schott (1936–2023), »Gesetze sind wie Spinnweben.« Sprichwörtliches zur Rechtsgleichheit, in: SIGNA IVRIS. Beiträge zur Rechtsikonographie …, Halle/Saale: P. Junkermann, Band 18 (2021), S. 83–114 + Abbildungen. — Seinem Gedenken sei diese Website gewidmet.

Klaus Lindemann / Raimar Stefan Zons (Hgg.), Lauter schwarze Spinnen. Spinnenmotive in der deutschen Literatur. Eine Sammlung. Bonn: Bouvier 1990. (Anthologie literarischer Texte über Jahrhunderte)

Katarzyna Michalski / Sergiusz Michalski, Spider, London: Reaktion Books 2010.

Udo Reinhardt, Arachne und die Liebschaften der Götter. Eine Mythennovelle aus Ovids Metamorphoses mit ihrer literarischen und bildlichen Rezeption bis zur Gegenwart. (Reihe Paradeigmata, Band 22), Freiburg im Breisgau: Rombach 2014. (224Seiten; 682 Fußnoten)
> https://arachnebuch.files.wordpress.com/2013/08/inhalt.pdf

Spinnen-Forum Wiki > http://wiki.arages.de

Und wer jetzt noch mehr solche nützliche Tiere fangen möchte, dem sei der Spinnenfänger der Firma GLOBOL empfohlen:

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