Wilde LeuteBild aus: Joseph Strutt, The sports and pastimes of the people of England: Including the rural and domestic recreations, may games, mummeries, shows, processions, pageants, and pompous spectacles, from the earliest period to the present time, Printed for Thomas Tegg, 1838; p. 378: A Wodehouse.EinleitungAls ›Wilde Leute‹ bezeichnet man in der Frühneuzeit menschenähnliche, fast vollständig behaarte Wesen, die meist im Wald leben – damit erschöpft sich die Definition; sie erscheinen in verschiedenen Wissensbereichen, Denkfeldern, Kontexten (bis hin zu Spielkarten, aber kaum in Enzyklopädien) und haben dementsprechend verschiedene Symbolik. Die Forschung tut sich recht schwer mit ihnen. Eine immer wieder aufscheinende Symbolik dieser Gestalten ist möglicherweise die, aufzuzeigen, was »unter der dünnen Firnisschicht« der kulturellen Formung »bedrohlich schlummert« (N. Ott, S. 495) – und aus Gründen der psychologischen Stabilität hinausprojiziert wird, in den Wald, an den Rand von Buchseiten oder der Erde in exotische Gegenden, ins Fiktionale. Es ist klug, den Horizont möglichst offen zu halten und verwandte Figuren zu betrachten.
Inhaltsübersicht
Der Waldgott SilvanusVergil ruft in der Einleitung seiner Dichtung vom Landbau, »Georgica« (entstanden zwischen 37 und 29 v.u.Z.) alle dem Landvolk hilfreichen Götter an, darunter auch Silvanus, der ein entwurzeltes Reis der Zypresse schwingt (et teneram ab radice ferens, Silvane, cupressum, I, 20) Der Illustrator in der Vergil-Ausgabe 1502 zeichnet den Silvanus struppig behaart:
10. Ecloge. Gallus befindet sich in einer einsamen felsigen Gegend Arkadiens in tiefem Schmerz um seine Geliebte Lycoris, die ihn aus Untreue verlassen hat. Apollon, Pan und Silvanus (auf dem Bild von r.n.l.) ermahnen ihn, in seiner Liebe zu Lycoris maßzuhalten (Galle, quid insanis? Vers 22).
HeiligeMaria MagdalenaIn diesem Zusammenhang ist der folgende Teil der Lebensbeschreibung wichtig: Maria gelangt nach der Auferstehung Christi in einem Schifflein in die Provence, wo sie sich in eine wilde Einöde begibt. Hier führt sie 30 Jahre lang ein Leben strengster Buße ohne irdische Nahrung, derer sie nicht bedarf, weil sie von Engeln alltäglich in den Himmel erhoben wird. – Das lange herabwallende Haar auf den Bildern ist aber nicht nur auf dieses Lebensweise zurückzuführen, sondern soll auch an die Szene erinnern, wo sie mit ihrem Haar die Füße Jesu abtrocknete (Lukas 7,38.41 und Johannes 12,3).
Weitere ähnliche Darstellungen:
Tilman Riemenschneider: Münnerstadt Altar (1490/1492) Blog der British Library Der heilige ChrysostomusVerkürzt dies (Texte aus der Ausgabe 1488): Der jugendliche Johannes soll zum Priester geweiht werden. Aber er fühlt: Ach herr ich bin noch zu iung vnnd ist sere wieder got das ich yetzund ein briester sol sein. Er nimmt sich vor: ich wil als bald in den wald geen vnd darinnen sein die wil ich leb. Er stiehlt sich weg und begibt sich in den Wald, baut sich einen Unterschlupf und ernährt sich von Wurzeln, Laub und Gras. In der Nähe befindet sich das Schloss des Kaisers. Die Tochter mit ihren Gespielinnen erlustieren sich im Günen, da wird die Tochter von einer wintzbraut (Windsbraut) zu des Einsiedlers Höhle geblasen. Nach mehreren Bitten lässt er sie ein, damit sie im Wald nicht umkommt. Er teilt die Zelle mit einem Strich am Boden. Das geht eine Weile gut, bis der böß leydig feind es bewirkt, dass Johannes zu der Junckfrawen gieng vnd vnbfieng sie lieblichen… Usw. Zur Buße gelobt er: ich wil auff henden vnnd auff füssen geen bis er Gottes Gnade wieder erlangt. Das tut er manches Jahr,
Nach 15 Jahren wird er für ein Tier gehalten. Die Geschichte ist im folgenden sehr spannend … : Die Legenda Aurea des Jacobus a Voragine, aus dem Lat. übersetzt von Richard Benz, Heidelberg 1955 (und Neuauflagen) S. 705–715.
Husband Nr. 24 mit Abb. 62–64. und und zeichnen eine Szene, wo die Königstochter mit ihrem kleinen Kind im Vordergrund und der tierische Chrystostomus im Hintergrund erscheint – zwei zeitliche Phasen der Geschichte ineinander. Vgl.Ein Büßer Brandan trifft auf seiner Meerfahrt einen Büßer, der aussieht wie ein Wilder Mann.
Im Druck 1489 heißt es:
Vgl. Walter Haug, Artikel »Brandans Meerfahrt«, in: Verfasserlexikon – Die dt. Lit. des MAs., Band 1 (1978), Sp. 985–991. St. Onophrios / OnuphriusDer Fürstensohn wurde als Mönch erzogen und begab sich dann in die Wüste, wo er 60 Jahre als Einsiedler lebte. Er wird im 15./16.Jh. meist als am ganzen Körper behaart mit einem Blätterschurz dargestellt. Vgl. https://www.heiligenlexikon.de/BiographienO/Onuphrios.html
Der Heilige Paulus von Theben (vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Paulus_von_Theben); seine Vita wird von Hieronymus erzählt (Text auf Bibliothek der Kirchenväter, hier als PDF).
ProphetenPropheten (Elia, vgl. 2Kön 1,8; Sach 13,4) sind in Felle gekleidet, was ihre Armut und Kulturferne andeuten soll. Johannes der Täufer trägt ein Gewand aus Kamelhaar (Markus 1,6; Matthäus 3,4). Haben sich diese Männer mit ihrer Kleidung abgesetzt vom priesterlichen Establishment, dem Gewänder aus Leinen (1.Sam 2,18; 2.Sam 6,14) oder Byssus vorgeschrieben waren (Exodus 28), während wollene Kleidung verboten war (Ezechiel 44,17)? Die Kleidersymbolik erhellt aus der Stelle Jesus Sirach 40,3f. wo von den großen Mühsalen der Menschheit die Rede ist Von dem, der auf hohem Thron sitzt, bis zu dem, der in Staub und Asche sitzt; von dem, der Krone und Stirnreif trägt, bis zu dem, der ein Kleid aus Fellen trägt. 2Könige 1,8 Er trug einen Mantel aus Ziegenhaaren und hatte einen ledernen Gurt um die Hüften. … Das war Elija aus Tischbe. Nach Lukas 1,80 hält sich der heranwachsende Johannes der Täufer bis zu seinem öffentlichen Auftreten in der Wüste auf. Matthäus 3,1: In jenen Tagen trat Johannes der Täufer auf und verkündete in der Wüste von Judäa »Kehret um!« … 4 Johannes trug ein Gewand aus Kamelhaaren und einen ledernen Gürtel um seine Hüften; Heuschrecken und wilder Honig waren seine Nahrung. Jesus selbst stellt den Bezug zwischen Elias und Johannes her: »Und wenn ihr es annehmen wollt – dieser [der Täufer] ist Elia, der kommen soll.« (Matthäus 11,14).
Literaturhinweis: Petra Watermann zu Pelz/Felle als Kleidung in der Bibel Sünder, Deprimierte, GeprüfteNabuchodonosorDer babylonische König Nebukadnezar wird von höchster Instanz wegen seines Hochmuts in eine Art Wilden Mann verwandelt ( 4,28ff.; hier in der Übersetzung der Zürcher Bibel 1531):
In der Bibel-Illustration sind Darstellungen selten (vgl. T.Husband, 1981, Fig. 8 und 9); dagegen findet sich eine in Rudolf von Ems, »Weltchronik« (ca. 1400/1410):
Berühmt ist die Darstellung Nebukadnezars von William Blake (1757–1827). Der Inhumane bei CiceroAuch die heidnische Antike kennt die Vorstellung, dass man mit der ›humanitas‹ auch seine menschliche körperliche Beschaffenheit ablegt. Cicero fragt in »de officiis« (III,82): Gibt es einen Unterschied, ob sich ein Mensch in ein grausames Tier verwandelt oder ob er sich in menschlicher Gestalt so grausam wie ein Tier benimmt? – Quid enim interest, utrum ex homine se convertat quis in beluam an hominis figura immanitatem gerat beluae? Der , der die Übersetzung des Johann von Schwartzenberg illustriert hat, zeichnet dazu einen typischen Wilden Mann:
Iwein und der Liebhaber im »Busant«Im »Iwein«-Roman des Hartmann von Aue lebt der Ritter Iwein nach der Verstoßung durch seine Frau Laudine als ein tôre in dem walde (Vers 3260), aber als ein edeler tôre (3347), bis er durch fremde Hilfe wieder resozialisiert wird.
Auch in der Verserzählung »Der Busant« (Der Bussard, Anfang 14.Jh.) fällt der Held in Wahnsinn und wird zum Wilden Mann. Ein Königssohn verliebt sich in eine Königstochter, die aber bereits verlobt ist. Am Hochzeitstag folgt sie dem als Spielmann verkleideten Liebhaber. In einem Wald legen sie sich auf eine Maienwiese; sie entschläft in seinem Schoß. Er zieht ihr einen Ring vom Finger, um ihn zu betrachten. Da schießt ein Raubvogel nieder und entführt den Ring. Der Mann verfolgt den Vogel, verläuft sich darüber und findet nicht mehr zur verlassenen Frau zurück:
Szenen der Erzählung sind auf Wandteppichen dargestellt (vgl. Rapp / Stucky Nr. 114), hier das Exemplar aus dem MetMuseum:
Der BärenhäuterDer desolate Held schließt einen Pakt mit dem Teufel. Dieser verlangt: »Du darfst in den nächsten sieben Jahren dich nicht waschen, dir Bart und Haare nicht kämmen, die Nägel nicht schneiden, und kein Vaterunser beten.« Erfüllt er die Bedingungen, soll er Reichtum erlangen, andernfalls sein Seelenheil verwirken. So geht der Held in abstoßender Gestalt unter die Menschen:
In der Grimmschen Fassung ist der Held in der Probezeit mildtätig und gottesfürchtig; er hilft einem Armen, dessen jüngste Tochter sich ihm verlobt. Nach Ablauf der Probezeit muss der Teufel ihn säubern usw. Brüder Grimm, Märchen KHM 101 (erstmals 1815 gedruckt, verändert in der 5.Auflage 1843) > https://de.wikisource.org/wiki/Der_Bärenhäuter_(1843) In der Fassung von [vermutlch] Grimmelshausen, »Der erste Beerenhäuter« (1670) lautet der ensprechende Passus so:
Liminale FigurenIm Iwein-Roman des Hartmann von Aue (Vers 418ff.) erzählt der Ritter Kalogrenant am Artushof eine Geschichte, die ihm widerfahren ist. Auf der Suche nach Abenteuer sei er einst in den Wald geritten. »Dort drang ich in die Wildnis und fand am späten Vormittag im Walde versteckt eine breite Rodung, doch ohne Leute. Hier bot sich mir zu meinem Schrecken ein schlimmes Schauspiel: Alle möglichen Tiere, die ich je habe nennen hören, sah ich in furchtbarem Streit miteinander kämpfen und ringen. Es kämpften da grimmig und greulich brüllend Wisente und Auerochsen. Nun hielt ich an, ich bereute, dass ich hergekommen war. Und, hätten sie mich wahr genommen, so hätte ich mich nicht anders getraut, mich zu wehren, als Gott um Hilfe zu bitten. Ich begehrte sehr, davonzukommen.« Do gesach ich sitzen einen man
Der Waldmann lebt an der Grenze zwischen der Welt der höfischen Kultur und der unzivilisierten Welt. – In einem Fresko auf Schloss Rodenegg ist er dargestellt: https://de.wikipedia.org/wiki/Iwein#/media/File:Iweinwaldmensch.jpg Literaturhinweis: Lambertus Okken, Kommentar zur Artusepik Hartmanns von Aue, Amsterdam: Rodopi 1993 (Amsterdamer Publikationen zur Sprache und Literatur 103). S.261–271. ›Groteske‹ Bilder am Rand von Manuskripten / DruckenIm Luttrell-Psalter (1325-134; British Library Signatur Add MS 42130) findet sich unten auf Fol. 70recto) ein Wilder Mann:
Es fragt sich, ob es sich hier um ein reines Ornament handelt oder ob ein Zusammenhang besteht mit der Textstelle, wo die Figur steht: Psalm 36 [Vulgata], 10 Et adhuc pusillum, et non erit peccator ; et quæres locum ejus, et non invenies. (Ps. 37 [MT], 9–12: Denn die Bösen werden ausgetilgt; die aber auf den Herrn hoffen, werden das Land besitzen. Eine Weile noch und der Frevler ist nicht mehr da; schaust du nach seiner Wohnung – sie ist nicht mehr zu finden. Doch die Armen werden das Land bekommen, sie werden Glück in Fülle genießen.) Auch beim folgenden Beispiel fragt man sich, ob die im Rahmen vorkommenden Wilden Leute einen Zusammenhang haben mit dem Jesus taufenden Johannes im Fellkleid:
Im »Plenarium deutsch«, Strassburg: Martin Schott, 18.VIII.1483 ist das Blatt zum ersten Tag im Kirchenjahr (erster Sonntag im Advent) bildlich reich ausstaffiert: Ein Bild illustriert die Szene des Tages-Evangeliums (Jesus schickt die Jünger, die Eselin zu holen, Matthäus 21,1ff.); eine Initiale (B zu Brüeder) in Gestalt von zwei Drachen (wiederholt auf fol. IX recto, xix recto); ferner Bordüren, unten an der Seite mit Wilden Leuten. Auch sie haben wohl keinen inhaltlichen Bezug auf die Tages-Epistel (Römerbrief 13,11ff. wo Paulus rät lasset uns ablegen die Werke der Finsternis).
Exoten in geographischen BeschreibungenDer einen Reisebericht in den Orient vorspiegelnde Jean de Mandeville (verfasst ca. 1357 bis 1371) will den Wilden Leuten dort begegnet sein. In den frühen Drucken werden sie gezeigt:
Diodorus Siculus, ein griechisch schreibender Geschichtschreiber (1. Jh. u.Z.), berichtet über Völker in Libyen (Bibliotheca historica III,31) – wir zitieren eine deutsche Übersetzung aus dem Jahre 1554: Zuo ausserst gegen Mittemtag/ do whonen leüth/ die von den Griechen Cynamolgi/ von den andern Waldtleuth geheissen werden. dise haben grosse lange bärth/ vnd ziehen grosse hauffen wilder hund/ zu schutz ires lebens.Als ›Abbildung‹ dieses Volkes dient ein Holzschnitt wilder Leute, dessen Bildformel längst bekannt ist. (Spätestens) in der 1588 ebenfalls in Basel (bei Sebastian Henricpetri) gedruckten Ausgabe von Sebastian Münsters »Cosmographey« dient der Holzschnitt dazu, ein Volk zu illustrieren, dem Alexander der Große auf seinem Marsch durch den Osten begegnet sei (pag. Mcccxlviij):
(1518–1561), genauer: sein Übersetzer (1514–1667) erklärt, wie die Wildleute überhaupt entstanden sind – die Nachkommen Adams müssten ja alle gleich aussehen wie die Protoplasten. Beim Turmbau von Babel hat Gott nicht nur die Sprachen verwirrt (Genesis, Kap. 11), sondern (das steht freilich nicht in der Bibel) auch das Aussehen der Menschen. In der Reihe der seltsamen Gestalten erscheinen die Wildleute zuerst:
Bei Hypertrichose – und vor den Kynokephalen und Satyrn: (1522–1605) erscheinen die Waldleute in der »Historia Monstrorum«, ambig eingeordnet nach den Pilosi – das sind Menschen mit
Im Zusammenhang mit den Entdeckungen der Frühen Neuzeit glaubt man dann auch solche ›Wilden Leute‹ in der Natur zu sehen. Der Anatom Nicolaes Tulp (1593–1674) bespricht in seinen medizinischen Beobachtungen (Erstausgabe 1641) – nach teratologischen Erscheinungen – in Kapitel LVI den Satyrus Indicus, den Prinz Friedrich Heinrich von Oranien geschenkt bekommen hatte und der von den Einheimischen Orang-outang sive homo sylvestris (Waldmensch) genannt werde: Erat autem hic satyrus quadrupes; sed ab humana specie, quam præ se fert, vocatur Indis orang-autang, sive homo sylvestris. Er beschreibt das Wesen offenbar aus eigener Anschauung, und gibt eine Abbildung in einem Kupferstich, der dann Furore macht. Er geht insbesondere auf die Ähnlichkeit bzw. Verschiedenheit mit dem menschlichen Aussehen ein: das Gesicht täuscht das eines Menschen vor, aber er ist plattnasig: Facies mentiebatur hominem, sed nares simæ. Der Orang geht meist aufrecht, er trinkt artig aus einem Becher und geht zu Bett wie ein höfischer Mensch. Vom Kenner Borneos, Samuel Blommaert, hat er auch von der sexuellen Potenz des Orang gehört, der Menschen-Frauen raubt und notzüchtigt – wie man es von der Geilheit der literarischen Satyrn kenne. Diesen gleiche er überhaupt sehr; und hier zitiert Dr. Tulp antike Quellen…
Travestie höfischer Lebensformen(Travestie: Verspottung von etwas Ernstem durch Beibehaltung des Inhalts und dessen Wiedergabe in einer unpassenden Gestalt, so dass die Diskrepanz zwischen Form und Inhalt lächerlich wirkt.) Motive der höfischen Minne sind ins Wildleute-Mileu übertragen worden: Turnier, Tanz, Spiel, Jagd – Darstellungsort sind Luxus-Artikel wie Elfenbeinkästchen, Kissenbezüge u.dgl. — Vgl. N. Ott bes. 499–510 — Rapp Buri / Stucky-Schürer — zur Erstürmung der Minneburg T.Husband Nr. 12–14. ••• Der Kontrast zwischen dem höfischen Tänzerischen und der äußeren Erscheinugnsform wird hier ausgekostet:
••• Der »Bal des ardents«. Für den gemütskranken Karl VI. (1368–1422) wurde an seinem Namenstag (28. Januar 1393) zur Erheiterung ein Maskenball veranstaltet. Er selbst wollte zusammen mit fünf adligen Freunden als ›Wilde Männer‹ auftreten. Sie schmierten sich mit Pech ein, bedeckten sich mit Federn und Werg und ketteten sich aneinander. Verkleidung als Wilde Leute als lustvolles, spielerisches Aussteigen aus der Konvention, in die man aber nach dem Ausziehn des Fellkleids wieder bequem zurückkommt? Wie einem eine Fackel zu nahe kam, entzündete sich die Montur – Löschversuche mit Wasser und Weinkannen taugten wenig – vier der sechs Vermummten verbrannten jämmerlich. Noch in der Barockzeit wurde über diesen Unfall berichtet:
Ein ähnlicher Unfall ereignete sich an der Fasnacht 1570 auf Schloss Waldenburg. In einem Bericht heißt es: … vermummten sich die Herren und der Adel mit einem scheußlichen Habit, ließen an ihre Hosen und Wammes, Arm und Beinen, dick Werg von Flachs mit Faden stark annähen und knüpfen, daß sie hereintraten zotticht und zerlumpt, … > Link zur Wikipedia Die zeitgenössischen Bilder zeigen eindeutig eine Verkleidung als ›Wilde Leute‹. Hier die Zeichnung in der Sammlung von (1522–1588):
••• Turnier: Statt der Lanzen halten die Wilden Männer Baumstämme. Bild des Hausbuchmeisters (= Meister des Amsterdamer Kabinetts, ca. 1475/80), Rijksmuseum, Amsterdam
••• Die Jagd hat ihrerseits eine vieldeutige Symbolik. Ist gemeint: die Wilden Leute treiben keine Ackerbaukultur, sondern sind Jäger und Sammler? Oder ist es Spott über die Jagd der Adligen? Wandteppich Wilde Leute auf der Hirschjagd, Wandbehang (Basel, Historisches Museum; auf Wikimedia) Ureinwohner und AussteigerDie Wilden Leute können einen urtümlichen Kulturzustand symbolisieren. Das illustriert möglicherweise dieses Bild eines namentlich unbekannten Monogrammisten:
Jean Bourdichon (ca.1457–1521) malt vier Bilder mit Entwicklungsstufen der Menschheit, modern so benannt: L’Homme sauvage ou l’État de nature. – L’Homme misérable ou l’État de pauvreté – L’Artisan ou Le Travail — L’Homme riche ou La Noblesse. – Man beachte den Kontrast zu den Schlössern im Hintergrund:
Hans Sachs (1494–1576) dichtet Anno salutis 1530. am 2. tag Junij die »Klag der wilden holzleut über die ungetreuen welt«. Die Wilden Leute schildern eine – unsere – verderbte Kultur. Daraus einige Verse:
hat dazu für den Drucker Guldenmundt in Nürnberg 1545 einen Holzschnitt (25 x 27 cm) geschaffen:
Fasnachts-GestaltenDie Fasnacht hat u.a. die Funktion, die eigene Identität durch eine zeitlich eingeschränkte Etablierung einer Gegenwelt zu stärken. (Die Literatur zum Thema Fasnacht, das Karnevalistische ist unübersehbar.) Zu den drei Figuren Löwe – Vogel Gryff – Wild Maa vgl. den Artikel von Mike Stoll: http://www.baselinsider.ch/jahreshighlights/vogel-gryff/wild-maa.html {zuletzt aufgerufen 14.12.2016} Bei den Silvesterkläusen in Appenzell Ausserrhoden gibt es die Wüeschte, die den Wilden Leuten ähneln. Es handelt sich dabei um eine junge Mode, die als Vegetationsritus gedeutet wurde. Vgl. Regina Bendix und Theo Nef, Silvesterkläuse in Urnäsch, St. Gallen: Verlagsgemeinschaft 1984; S. 94. Hierhin gehören die Schembartläufer. – Quellentexte dazu bietet das Grimmsche Wörterbuch (Band 15, 1899, Sp. 1486ff.) unter dem Stichwort Schönbart. (Er schreibt etymologisierend scheinbart, weil das Wort von Maske, Larve, d.h. scheinbares Angesicht herkommen soll.) Daraus der Beginn, nachher folgt die Geschichte von der Einrichtung des Schembartlaufs: dichtet am 27. Januar 1548 einen »scheinpart-spruch«.
Sinnbild für rohe Gewalt und sexuelle Potenz••• In der Heldendichtung befreit Dietrich von Bern einen Zwerg aus der Gewalt eines Wilden Manns. (Der Zwerg Baldung wird ihm dafür einen Zauberstein schenken, mit dem Dietrich dann im Kampf gegen Sigenot lange Zeit bestehen wird.)[Der Wilde] het weder harnisch noch wat [Gewand] | Als es auch noch geschryben stat | Wenn das er nur mit hare | Gantz über all bedeckt was | So kleyn [fein] als ist eyn faden. Die Heidelberger, durchgehend wie ein Trickfilm bebilderte Handschrift Cod. Pal. germ. 67, (um 1470) zeigt diese Szenen schön: Vgl. den Inkunabeldruck Historia Sigenot, Heinrich Knoblochtzer 1490 – Staatsbibliothek zu Berlin; Preußischer Kulturbesitz > http://resolver.staatsbibliothek-berlin.de/SBB0000A92500000013 Literaturhinweise: Joachim Heinzle, Artikel »Sigenot« in Verfasserlexikon Band 8 (1995), Sp. 1236–1239. — Henrike Lähnemann / Timo Kröner: Die Überlieferung des ›Sigenot‹. Bildkonzeptionen im Vergleich von Handschrift, Wandmalerei und Frühdrucken. Jahrbuch der Oswald von Wolkenstein-Gesellschaft 2003/2004, S. 175–188. ••• Der Held im mit phantastischen Einsprengseln durchzogenen Text *) Rauh von mittelhochdeutsch rûch = haarig, struppig [deshalb ist die moderne Ortografie rau dumm]. (Fassungen B und D) gerät einmal an eine Wilde Frau, genannt die Rauhe Else*, die ihn umarmen (und mehr) möchte und, wie er sich wehrt, zu diesem Zweck dann verzaubert.
Sie wird so geschildert:
••• Ein Festspiel für den jugendlichen Herzog Karl (später als Kaiser des HRR: Karl V.) mit dem Titel »Voluptatis cum virtute disceptatio: Carolo Burgundiae duce ... Viennae Pannoniae coram Maria Hungarorum regina […] a Benedicto Chelidonio [† 1521] heroicis lusa uersibus«, Wien bei Johannes Singrenius 1515 hat als Thema die Entscheidung des Herkules für den tugendhaften Weg. Der Titelholzschnitt zeigt indessen den Kampf des Herkules/Karl (beachte die Wappen auf den Schilden) gegen einen zweiköpfigen (?) Wilden Mann. ••• Die mittelalterliche ›Minne‹ ist ein komplexes Phänomen: Ohne emotionalen Antrieb kommt sie ebensowenig zustande wie ohne höfische Zucht. In der Geschichte des Minnesangs gibt es ein Oszillieren: Bald überwiegt die Zurückhaltung, bald das Triebhafte, in den interessantesten Texten verschränken sich die beiden Bestreben paradox. Gerne wird das Verhältnis der beiden Kräfte allegorisch dargestellt, vgl. Ingeborg Glier. Artes amandi, (MTU 34) München 1971. Auf einem Bildteppich wird gezeigt, wie eine tugendreiche Dame einen Wildmann an einer Kette führt, wozu dieser sagt: ich wil iemer wesen wild, bisz ich zemt ein frouwen bild (Rapp / Stucky Nr. 31). Denkbar, dass Darstellungen, wo Wilde Leute eine Burg zu erobern suchen, auf deren Zinnen edle Damen weilen, diese Wechselbeziehung darstellt. Die Erstürmung einer Burg durch Wilde Männer ist dargestellt auf einem Bildteppich (Elsaß ca. 1400–1430), der im Germanischen Nationalmuseum Nürnberg (Objekt / Inventarnr.: Gew3807) aufbewahrt wird. Seltsamerweise sind auch die Verteidiger als Wilde Männer dargestellt – wie ist das psychologisch zu deuten?
••• Ein Wilder Mann mit einer nackten Venusgestalt auf dem Arm lockt Männer in das Gefängnis der Sinne
Abnormität••• Im Anhang zum Kapitel von den wunderlichen Brunnen bringt in seinem »Buch der Natur« Konrad von Megenberg († 1374) eines über die Wundermenschen (Ausgabe Franz Pfeiffer 1861, S. 486–494). Er unterscheidet seelenlose und beseelte, zu den letzten gehören diejenigen, die geprechen haben von gewonheit, daz sint die in den wälden erzogen werdent verr von den vernünftigen läuten und lebent sam daz vieh. (Sie sind also nicht durch astralen Einfluss oder durch physiologische Komplikationen wunderlich, sondern infolge ihrer Lebensweise.) Im Cod. Pal. germ. 300 (Werkstatt Diebold Lauber, um 1442–1448?) sind einige dieser Wesen gezeichnet:
••• In die Nähe der Wilden Leute kommt der ›Forstteufel‹, der im 16. Jh. Popularität erlangt. Im Gegensatz zu den Wilden Leuten hat er auch Tierfüße und einen Schwanz. (1516–1565) bringt die Geschichte vom Forstteüfel, der 1531 im Bisthuomb zuo Saltzburg/ im Hanßberger Forst beobachtet worden sei. (In Forrers Übersetzung 1563): Wiewol dises thier von niemants mer gesehen worden/ dann eben zuo vnsern zeyten/ vnd gefangen im jar nach Christi geburt M.D.XXXI. [… ist es] on zweyfel ein erschrockenliche bedeütliche wundergeburt gewesen. Gessner hat es auf einem Flugblatt kennengelernt, das ihm Georg Fabricius samt einer Beschreibung zugesandt hat.
Das Monstrum macht sodann Furore: lässt es für seine Prodigiensammlung (zum Jahr 1531) aus Gessners Buch abzeichnen; übernimmt es in seinen »Histoires Prodigievses« (1568); auf Flugblättern erscheint es in Frankreich und Italien (Vgl. Ingrid Faust, Zoologische Einblattdrucke und Flugschriften vor 1800, Stuttgart: Hiersemann, 1998-2010; Band 5, # 760).
••• Auf dem Titelblatt des Buches von Georg Stengel (1584–1651) über die Monstra, die Gottes wunder-bare Schaffenskraft de-monstrieren, erscheint ein Nachfahre des Forstteufels:
••• Auch (1537–1600) kennt diese Gestalt:
••• Zu erwähnen ist in diesem Zusammenhang nochmals die Hypertrichose. Don Pedro Gonzalez (ca. 1537 bis ca. 1618), vollkommen behaart, stammte aus Teneriffa und lebte als Knabe am französischen Hof als Bediensteter, und gründete eine Familie. Vier Portraits des Don Pedro, seiner (normalen) Frau sowie zwei seiner ebenfalls behaarten Kinder gelangten über Herzog Wilhelm V. Bayern in die Ambraser Sammlung, d.h. in die Wunderkammer Erzherzog Ferdinands II. (1529–1595). In der »Monstrorum Historia« von (1522–1605) kommen die behaarten Menschen dann vor. Interessant ist der Ort, wo sie ins Buch eingefügt sind: zwischen den homines sylvestres (Waldmenschen) und den Cynocephali. Auch E. G. Happel hat sich für diese ›curiose‹ Erscheinung interessiert: Der rauch-behaarte Mensch
Der Wilde Mann für Karikaturen verwendet••• In der bildpublizistisch geführten Konfessionspolemik zwischen Katholiken und Lutheranern wird der Papst 1545 halb als Teufel, halb als Wilder Mann gezeichnet (Kupferstich von ). In der Beischrift steht: Der babst heist recht der wildeman | Der durch sein falsches schalckes ban | Al vngluck hat gerichtet an | Das got vndt menschen nicht leiden kann.Hier (ungenügende Qualität, da Vorlage gerastert) aus: Hartmann Grisar / Franz Heege, Luthers Kampfbilder. Bd. 4: Die Abbildung des Papsttums und andere Kampfbilder in Flugblättern 1538–1545, Freiburg/Br. 1923; Tafel II. — Dasselbe Bild als Holzschnitt von Lucas Cranach d.J. ••• Die Geilheit des alten um ein junges Mädchen buhlenden alten Mannes ist ein beliebtes Motiv. inszeniert es so: Eine als Rückenakt dargestellte üppige Frau wird liebkost vom geflügelten Amor – im Hintergrund kriecht ein alter haariger Mann auf allen Vieren aus dem Wald. , Emblemata secularia, Oppenheim, 1611, fol. 13r Non sene lascivo monstrvm est deformivs vllvm (Kein Monster ist hässlicher als ein lüsterner Greis.) Pikant: Es handelt sich um eine (seitenverkehrte) Kopie des Bilds von Crisostomvs darstellt. von ca.1541/45, das S. Iohannes.••• Eine ganz andere Genealogie (!) hat die Karikatur eines unbekannten Graphikers von Charles Darwin aus »The Hornet« (1871). (Quelle: Wiki Commons)
HeraldikDie wilden Leute kommen oft vor in der Heraldik. Hier stehen sie als Gemeine Figur für den Familiennamen (Ruch, Hartmann, Tanner, Bartels o.ä.) oder sie versinnbildlichen als Wappenhalter möglicherweise Schutz der Familie oder evozieren deren Zeugungsfähigkeit.
Wenn die Wappen der Drei Bünde (> https://de.wikipedia.org/wiki/Drei_Bünde) nebeneinander dargestellt wurden, konnte das Wappen des Zehngerichtebunds so aussehen: Der Wilde Mann allein, eine Tanne haltend.
Als Schildhalter:
Am bekanntesten ist wohl der Wilde Mann als Schildhalter auf Dürers Wappen mit dem Totenkopf (Kupferstich 1503); schwer zu deuten. Möglicherweise ist auch der Wilde Mann auf dem Revers von Münzen hier einzuordnen:
Hier ein Beispiel, wo Wilde Leute in einem Buchdruckerzeichen verwendet wurden:
Woher kommen wohl die Wirtshausnamen »Zum Wilden Mann«?
Literaturhinweise
Lise Lotte Möller, Die Wilden Leute des Mittelalters. Ausstellung vom 6. September bis zum 30. Oktober 1963, Hamburg: Museum für Kunst und Gewerbe, 1963. Ilse Wirth, Fellkleid als Attribut, in: Reallexikon zur Deutschen Kunstgeschichte, Bd. VII (1980), Sp. 1170–1210. > http://www.rdklabor.de/w/?oldid=89326 Timothy Husband, The Wild Man. Medieval Myth and Symbolism, New York: Metropolitan Museum of Art 1981. [14 Farbtafeln und 134 Bilder] Lucas Wüthrich, Die Wandgemälde im Haus ›Zum Paradies‹ in Zürich (Kirchgasse 38), in: Zeitschrift für schweizerische Archäologie und Kunstgeschichte 41 (1984), S 176–192. > http://dx.doi.org/10.5169/seals-168399 Anna Rapp Buri / Monica Stucky-Schürer, Zahm und wild. Basler und Strassburger Bildteppiche des 15. Jahrhunderts (Katalog zur Ausstellung im Historischen Museum Basel), Mainz: von Zabern 1990. Norbert H. Ott, Travestien höfischer Minne. Wildleute in der Kunst des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit, in: Europäische Ethnologie und Folklore im internationalen Kontext. in: Festschrift Leander Petzoldt zum 65. Geburtstag, hg. von Ingo Schneider, Frankfurt a.M. usw. 1999, S. 489–511. P. J. Blumenthal, Kaspar Hausers Geschwister. Auf der Suche nach dem wilden Menschen, 2. Auflage Wien: Deuticke 2003. Michael Curschmann, Konventionelles aus dem Freiraum zwischen verbaler und visueller Gestaltung, in: Literatur und Wandmalerei II. Konventionalität und Konversation. Burgdorfer Colloquium 2001, hg. von Eckart Conrad Lutz, Johanna Thali und René Wetzel, Tübingen 2005, S. 237–252. G. Ulrich Großmann, Wilde Leute im Wandel der Zeiten, in: Monster. Fantastische Bilderwelten zwischen Grauen und Komik, Bearb. von Peggy Große, G. Ulrich Großmann, Johannes Pommeranz. Begleitband zur Ausstellung im Germanischen Nationalmuseum vom 7. Mai bis 6. September 2015, Nürnberg 2015, S. 205–220. Hübsch ist der Blog von Egidija Čiricaitė: http://www.blog.egidija.com/2013/12/hairy-men-wild-men-woodwose.html {zuletzt abgerufen am 13.12.2016} Ein Parallel-Unternehmen: http://www.marc-grodwohl.com/mémoires-de-l’ecomusée-d’alsace/l’-homme-sauvage-dans-tous-ses-états {zuletzt abgerufen am 8.12.2018} Vincent Mayr, Wilde Leute, in: Reallexikon zur Deutschen Kunstgeschichte (2019) ferner: http://de.wikipedia.org/wiki/Wilder_Mann http://demonagerie.tumblr.com/tagged/wild-men {26.03.2017} Hunderte von – unkommentierten! – Bildern erreicht man mittels einer Suche im WWWeb etwa mit dem Stichwort woodwose. Dank an Romy G. für viele Anregungen!
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