Symboliken der WaageEinleitungWenn man sich fragt, wie man moralisch gut oder politisch klug handelt, so ist man normalerweise überfordert. Eine Reduktion von Komplexität ergibt sich, wenn das Problem auf eine einfache Alternative mit deren Konsequenzen vereinfacht wird. Eine noch stärkere Simplifizierung besteht darin, dass man die urteilende Instanz in einen Mechanismus auslagert, der die Entscheidung objektiv trifft. Dies gelingt, wenn man die Entscheidung für und wider auf eine zweischalige Waage legt und deren Zünglein den Ausschlag dafür geben lässt, was man tun soll. Zum Bildfeld der Waage gehört das ›Gleichgewicht‹. Ein Gleichgewicht der Mächte wurde von den italienischen Stadtstaaten als Ideal angenommen und dann vor allem in der Epoche der militärisch starken Nationalstaaten Frankreich (unter den Ludwigen), England und den Habsburgern zu einem politischen Leitbild. Auch innenpolitisch ist das Gleichgewicht der Kräfte seit der Aufklärung ein wünschenswertes Ideal. Die Verhältnisse zwischen Mächten und Ständen sollen ausgewogen sein. Für die biologische Oekologie ist das Gleichgewicht beispielsweise zwischen Räubern und Beute eine zentrale Vorstellung. Ein Überwiegen der einen oder anderen Population führt zum Untergang beider. Der Gedanke kehrt wieder in der Oekonomie mit den Faktoren Produktion und Konsum. Die aufklärerische Psychologie postuliert ein Gleichgewicht von Leidenschaften und Vernunft – heute geht es etwas trivialer um die Work-Life-Balance. Die Waage-Metapher impliziert – wie jede symbolische Denkfigur – Fehler. Sind die Phänomene, die man damit zu erfassen versucht, so geartet, dass das Modell einer primitiven, auf Gravitation beruhenden mechanischen Wechselwirkung taugt? Was kann in der Realität tatsächlich mit ›Übergewicht‹ gemeint sein? Ist es so, dass das Nachlassen auf der einen Seite zwingend automatisch eine Förderung der anderen Seite bewirkt? Übel ist es, wenn die Metapher im moralischen Sinne zur Diffamierung von Menschen oder ganzen Gruppen verwendet wird. Der Mächtige rechtfertigt sich damit, dass die Waage des Schicksals die Unterlegenen als zu leicht befunden habe, die Störung des Gleichgewichts nun behoben sei. Wenn man bedenkt, wie intensiv seit der Zeit der Kirchenväter und dann in der Scholastik über das Phänomen der Sünde nachgedacht wurde, so ist die in der Volksfrömmigkeit verbreitete Vorstellung der Sünden auf der Balkenwaage eine terrible simplification, bei der die Metaphern der schweren und leichten Sünde verabsolutiert werden. In der Rhetorik und insbesondere in der Karikatur mögen solche Polarisierungen angehen: Die reiche Braut hat eben nur diesen einen Vorzug; die Protestanten lassen nur die Bibel gelten; das Abstimmungsresultat entscheidet numerisch zwischen Tories und Whigs.
Übersicht(auf das Symbol ♎ klicken!) ♎ Wortfeld ♎ Seelenwaagen: Was wiegt schwerer? (Psychostasie) ♎ Kaiserliche Seelen auf der Waage ♎ Luxus in der Waagschale ♎ Hektor oder Achill? (Kerostasie) ♎ Der Narr wägt ♎ Lieber den Tod als in der Knechtschaft leben ♎ Moralische Güterabwägungen, v.a. in der Emblematik ♎ Der Weise aequilibriert die Waage ♎ Justitia ♎ Gesetz vs. Gnade ♎ Der Herr wägt die Herzen ♎ Gut ausbalanciert? ♎ Gleichgewicht bei der Freundschaft ♎ Wäge-Technik moralisiert ♎ Wörter auf der Goldwaage ♎ Gottes Wort überwiegt ♎ Vergleich von Weltmodellen ♎ Aequinoctium, die Tag-und-Nacht-Gleiche ♎ Das Sternzeichen ♎ Die Heurathswage ♎ Politische Karikaturen (I) ♎ Balance of Power Politische Karikaturen (II) ♎ Visualisierung von Daten ♎ Jux ♎ Weiterführende Literaturhinweise PsychostasieIn den Ägyptischen Totenbüchern erscheint die Idee, dass nach dem Tod das Herz des Verstorbenen mit einer Balkenwaage gewogen wird. Der schakalköpfige Totengott Anubis legt das Herz auf eine Waagschale, als Gegengewicht liegt eine Feder als Symbol der Ma‘at (Prinzip der Gerechtigkeit) auf der anderen. Der Verstorbene muss nun darlegen, dass er nichts Unrechtes getan hat. Die Mitglieder des Totengerichts beobachten währenddessen die Waage.
Bei der altägyptischen Wägung der Seele beim Totengericht gilt also die Parallele ▼ schwer ≈ schlecht. In den Darstellungen von Erzengel Michael als Seelenwäger am Jüngsten Gericht (nicht biblisch) ist umgekehrt die schwere Waagschale die bessere; in ihr sitzt die zur ewigen Seligkeit gelangende Seele.
Dies mag zurückgehen auf das ›Mene Tekel‹ Der Prophet Daniel legt den Begriff Tekel so aus: Gewogen wurdest du auf der Waage und zu leicht befunden. (Vulgata: thecel, appensus es in statera et inventus es minus habens, Dan 5,27). Es obwaltet mithin die Vorstellung ▲ schwer ≈ gut. Diabolische Intervention Oft werden Teufelchen dargestellt, welche sich an die eine Waagschale hängen, damit die Seele in der anderen Waagschale nach oben schnellt, das heißt: für die Hölle gewonnen wird. Gelegentlich werfen sie etwas plump einen Mühlstein darein; etwas gescheiter: sie werfen Dinge in die Waagschale, mit denen der Verstorbene gesündigt hatte: gestohlene Dinge wie z.B. Vieh, oder bei Frauen Kleider, mit denen sie Luxus getrieben haben; gewisse Sünden wie Gewalttaten oder Ausschweifungen muss der Maler künstlich materialisieren. – Die Vorstellung hat kein biblisches Fundament. Lucas Cranach d. Ä. zeigt 1506 den Erzengel Michael mit der Seelenwaage. Fratzenhafte teuflische Wesen hängen sich an die eine Waagschale, damit die zu wägende Seele des Verstorbenen in der anderen nach oben gerät, das heißt dann: dieser Mensch ›für zu leicht befunden‹ wird und in die Hölle kommt. Dieses Motiv ist sehr häufig. Kaiserliche Seelen auf der Waage›Wiedererwägungsgesuche‹ beim Jüngsten Gericht ••• Der Erzähler der »Historia Caroli Magni« (Mitte 12. Jh. Kapitel XXXII) schildert, wie er am ›himmlischen Geburtstag‹ des Kaisers des Großen, 28. Januar 814, in einer Kirche, ins Gebet versenkt, in einer Vision ungezählte Scharen schrecklicher Kriegergestalten erblickt. Einer von ihnen, der etwas langsamer folgt, ist schwarz wie ein Aethiopier. Ihn fragt er, wohin sie gehen. »Nach Aachen, zu Karls Tod ziehen wir, um seine Seele in die Hölle zu stürzen«. Kaum hat der Erzähler das Gebet beendet, kommt die teuflische Schar wieder zurück, und er fragt den Schwarzen, was sie erreicht hätten? Der Teufel erwidert:
Der Galizier ohne Kopf ist der Apostel Jacobus, der im Jahr 43 enthauptet wurde; sein Leichnam soll in einem Schiff ohne Besatzung an der Küste Spaniens, in Galicien, angelandet sein, wo er beerdigt wurde. Nach der Wiederentdeckung seines Grabes wurde dort im 9. Jahrhundert Santiago de Compostela gegründet. Die spanischen Könige führten ihre Siege auf das Eingreifen des heiligen Jacobus zurück. Die Steine und das Bauholz beziehen sich auf die vielen Kirchengründungen von Kaiser Karl. Er war berühmt als Erbauer von Kirchenbauten (templorum Domini magnus fabricator), man denke an Lorsch, Fulda, Germigny-des-Prés, Steinbach, Centula, Corvey, Müstair und Aachen. Diese guten Werke kommen ihm nun bei der Seelenwägung zugute: Quod magis appenderunt (haben mehr gewogen) bona quam eius commissa. Und was liegt in der anderen Waagschale? Welche Sünden (commissa) ziehen seine Seele nach oben? Kaiser Karl der Große war bekannt für seine Konkubinate; sein Biograph Einhard nennt vier Frauen namentlich: Madelgard – Ruothild – Gerswinda – Adelind. Noch im Jahre 824 hatte der Reichenauer Mönch Wetti in einer Vision den Kaiser im Fegefeuer gesehen, wo er an jenen Gliedmaßen bestraft wird, mit denen er gesündigt hatte. Im 12. Jahrhundert überwiegen die guten Taten des 1165 heiliggesprochenen Kaisers.
••• In der Vita des heiligen Laurentius wird berichtet, dass Kaiser Heinrich II. (1146 heiliggesprochen), vom Teufel gereizt, seine Ehegattin scheußlich zu peinigen versuchte. Nach seinem Tod vernimmt ein Einsiedler von einer Schar von Teufeln, dass sie es nicht vermochten, die Waagschale des Kaisers herunterzudrücken, weil auf der anderen Seite der hl. Laurentius jenen schweren goldenen Kelch in die Waagschale legte, den der Kaiser für die Kirche Sanct Laurentio in Eichstädt hatte anfertigen lassen. (Tag des Heiligen ist der 10. August; Die Legenda Aurea des Jacobus a Voragine, aus dem Lat. übersetzt von Richard Benz, Heidelberg 1955, S. 572.)
Schwer wiegende Sünden einer luxus-süchtigen DameIm Exempelbuch »Der Ritter vom Turm« wird erzählt, dass ein Ehemann nach dem Ableben seiner Frau einen Einsiedler herauszufinden bittet, ob syner frowen sele verloren oder behalten were. Dieser hat im Gebet eine Vision, in der er sant Michel und den Teufel beim Wägen der Seele mitsamt den im Leben begangenen guten und schlechten Taten sieht. Der Teufel wirft der Frau unter anderem vor, zehn Röcke besessen, statt das Geld den Armen gespendet zu haben, die im Winter ohne gute Kleider froren.
KerostasieGegen Ende des Trojanischen Kriegs kommt es zu einem Duell zwischen dem Trojaner Hektor und dem Griechen Achilles. Jetzt stehen nicht mehr bloß Männer einander gegenüber, sondern die Götter schalten sich ein.
Vergil nimmt das Bild auf für den Kampf zwischen Aeneas und Turnus; hier ist der Entscheid durch Juno bereits gefallen und das Bild der Waage wird zu einem bestätigenden Symbol (»Aeneis« 12, Verse 725ff.):
Der Narr wägtDer Narr bei Sebastian Brant betrachtet nur das Weltliche und achtet nicht auf das Ewige; er rühmt sich, dass er das Himmelreich Gott anheimstelle und einfach freudig-wollüstig dahinlebe. Das wird damit veranschaulicht, dass auf seiner Waage das Irdische – dargestellt als Stadt mit Türmen – überwiegt, während in der obenaus-schwingenden Waagschale eine Sphäre mit Sternen liegt, die das Himmlische darstellt. (Für den Narren gilt halt eben fälschlich die Parallele ▲ schwer ≈ gut.)
Ähnlich inszeniert das Jan David S.J. (1545? – 1613):
Lieber den Tod als in der Knechtschaft lebenCicero schreibt in »de officiis« (Vom pflichtgemäßen Handeln I, xxiii, 81): mors servituti turpitudinique anteponenda. In der frühen deutschen Übersetzung des Johann von Schwarzenberg (1463–1528): Es ist fechten/ vnnd auch der leyblich todt schnöder dienstbarkeit fürzuosetzen. Das Buch mit der Übersetzung wurde vom Petrarcameister illustriert. In der höheren Schale kniet ein kampfbereiter Mann in Rüstung; in der tieferen liegt ein Gefesselter (die servitus / dienstbarkeit darstellend). Der Illustrator hat sich wohl an der Metapher der ›Schwere‹ inspiriert, die in der Versüberschrift des Bilds vorliegt: Wol krieg und streyt hat vil gefer/ [Gefährdung] – Noch mer ist boeser zwangksal [Not, Bedrängnis, Ungemach] schwer. (Es liegt also das ▼ heidnisch-antike Modell vor.)
Moralische Güterabwägungen••• Cicero spricht in »De officiis« II, xxv, 88–90 kurz den Konflikt verschiedener Güter an: äußere Güter und innere. Das führt er dann im dritten Buch aus, wobei er dann feststellt, dass utilitas (Nutzen) und honestas (Ehrenhaftigkeit) praktisch gar nicht getrennt werden können. – An der genannten Stelle spricht Cicero nur von einem Vergleich (comparatio); im dritten Kapitelblock verwendet er dann Begriffe wie praeponderari (III, 18) und pondere gravior habenda (III, 35). Die Metapher der Waage verwendet er explizit in andern Büchern: tusc. disp. V,51 (lanx animi) und in de finibus V, xxx, 91 (in librae lance ponere). Der Übersetzer Johann von Schwarzenberg formuliert in der Randglosse zu II,88: Wie zwischen zwaien nutzen dingenn das nützer zuo erwölen. Der Illustrator (der Petrarcameister) visualisiert das als eine Frau, die eine Balkenwaage hält, auf deren Waagschalen die Güter liegen. Diese sind angeschrieben mit Innerliche güeter / Eüsserliche güeter:
Das Motiv hält sich in der Emblematik lange Zeit, in profaner wie religiöser Schattierung. Hier nur eine kleine Auswahl. ••• Carolus Musart, S.J. (1582–1653) beginnt sein Emblembuch mit dieser Mahnung: Minerva (mit Helm und Speer und dem Schild mit dem Medusenhaupt) fragt den höfisch gekleideten Jüngling, was ihm wertvoller sei: delicias (rerpesäentiert durch Krone, Degen und Schmuck) an honores (Lorbeerkranz in der schwerer wiegenden Waagschale).
••• Noch eine profane Moralisation: Josephus Melchior Franciscus Tschudi de Greplang
•••• Zur Lesung der Bibelstelle Römerbrief 8,18–23: Denn ich halte es dafur/ Das dieser zeit leiden der Herrligkeit nicht werd sey/ die an vns sol offenbaret werden. Denn das engstliche harren der Creatur wartet auff die offenbarung der kinder Gottes […] (Luther 1545) ersinnt Johann Michel Dilherr (1604–1669) folgendes Emblem:
••• Zu Jakobusbrief 4,4: Der Welt Freundschaft ist Gottes Feindschaft ersinnt der Illustrator von Arndts Erbauungsbuch folgendes Emblem. (Die emblematischen Bilder zuerst in der Ausgabe Leipzig 1678/9).
••• Selbst-verständlich ist das Emblem hier (▲) :
••• Der Tod hält eine Waage; in der einen liegen Harke und Rechen / in der andern liegen Krone und Szepter. Am Ende sind beide von gleichem Gewicht.
Der Weise aequilibriert die WaageVor dem Text des Buchs »Von der Artzney bayder Glück» (in den sog. ›Paratexten‹) plaziert der Verleger die deutsche Übersetzung eines Lobgedichts auf Petrarca von Sebastian Brant, zu dem der Petrarcameister einen Holzschnitt beigibt: Ein Mann mit dem typischen Barett der Gelehrten hält eine Waage, in deren einen Schale defekte Gefäße liegen, in der anderen Schale intakte. Darüber gießt er aus einer gediegen gestalteten Kanne einen Strahl einer Flüssigkeit.
Dem Graphiker hat evtl. ein Bild des Erzengels Michael vorgeschwebt wie hier in der ›Elsässischen Legenda Aurea‹. Was gießt er hier über die fromme Seele? Taufwasser oder Messwein können es kaum sein, aber evtl. allegorisch die Gnade, so dass sich ihre Schale senkt (▲).
Justitia••• Die Figur der Justitia mit der Waage kennen wir bis zum Überdruss. Sie urteilt nach sorgfältiger Abwägung der Sachlage. Hier im Buch von Christian Sambach (1761–1797) del. und Jos. Stöber (1768–1852) sc.:
Als Figurentext von Sigmund von Birken (1626–1681) :
••• Im religiösen Bereich gibt es dagegen die Bitte: Gehe nicht in das Gericht mit deinem Knecht, denn keiner, der lebt, ist gerecht vor dir (Psalm 142,2 Vg. = 143,2 MT). Hermann Hugo S.J. (1588–1629) legt der büßenden Seele diesen Vers in den Mund.
Gesetz vs. GnadeDaniel Cramer († 1637) stellt das AT und das NT (nach Römerbrief 6,14) so gegenüber:
Der Herr wägt die HerzenIn der lateinischen Bibel (Vulgata) lautet dieser Satz so: Appendit autem corda Dominus. (Proverbia = Sprüche Salomonis 21,2) Der Benediktiner Benedictus van Haeften (1588–1648) hat 1629 ein Gebet-Buch mit 55 Emblemen verfasst, in dessen Betrachtungen der Bezug des Menschen zu Gott anhand der schon biblisch ausgebildeten Symbolik des Herzens breit entfaltet wird.
Auf dem Bild zeigt der Schutzengel der (als Mädchen gestalteten) Seele eine Waage, in deren einen Schale das Gesetz (in Form der von Moses empfangenen steinernen Tafeln, vgl. 2. Moses 34,1) liegt, in der anderen das Herz. Im Text wird immer wieder wird Bezug genommen auf ähnliche Bibelstellen wie z. Bsp. Hiob 31, 6: Er wäge mich auff rechter Wage, so wird GOtt erfahren mein Einfältigkeit. Gut ausbalanciert?Das Bild (Holzschnitt von Tobias Stimmer 1539–1584) sagt mehr als der Text:
Gleichgewicht bei der Freundschaft••• Guillaume de La Perrière (1499/1503 – 1565) warnt vor Freundschaften, die sich im Unglück nicht bewähren:
••• Das Emblem von Otto van Veen (1556–1629) beruht auf einem Text von Horaz (Satire I, 3, Vers 68ff.):
••• Zum Thema Freundschaft etwas anders im sog. Ständebuch von Christoph Weigel das Kapitel Der Wagmeister.
Wäge-Technik moralisiertDie folgenden Bilder zeigen Schnellwaagen. Deren Technik: Am langen Arm, in dem eine Skala eingraviert ist, kann ein Gewicht verschoben werden; die Last wird an den Haken am kurzen Arm gehängt; infolge des Hebelgesetzes vermag ein geringes Gewicht am langen Hebel ein großes Gewicht am kurzen Hebel aufzuwiegen; das Laufgewicht wird verschoben, bis der Waagbalken horizontal steht; dann kann die Last an der Skala abgelesen werden. Das Emblem hat das Motto A mas distancia mas peso. Je größer die Entfernung, desto stärker das Gewicht. Es macht hier nicht eine religiöse Aussage (wie bei Johann Arndt), sondern lehrt eine allgemeine Lebensweisheit:
Seit der Ausgabe 1678/79 steht in den »Büchern vom Wahren Christentumb« des protestantischen Theologen Johann Arndt (1555–1621) dieses Emblem:
Wörter auf die Goldwaage – oder eher nicht?Jesus Sirach 21, 27: Die vnnützen Wesscher plaudern/ das nichts zur sachen dienet/ Die Weisen aber bewegen jre wort mit der Goldwaage. Jesus Sirach 28, 29: Du wegest dein gold vnd silber ein/ Warumb wegestu nicht auch deine wort auff der Goldwage? (Übersetzungen der Luther-Bibel 1545)
Cicero wendet sich gegen die dialektischen Spitzfindigkeiten der Stoiker, die den Rhetor nur behindern:
Gottes Wort überwiegtDie Überlegenheit der protestantischen Lehre über die katholische wird so gezeigt, dass die Waagschale, auf der einzig die Bibel liegt (angeschrieben mit Verbum Dei), schwerer wiegt als die andere, auf der sich die Dekretalien (päpstliche Entscheidungen von Rechtsfragen), liturgische Geräte und Ablassgelder befinden und die vom Teufel nach unten gezogen wird. – Auf der Seite der Protestanten steht Jesus (mit Nimbus) mit reformierten Märtyrern; auf der Seite der Katholiken sind erkennbar: der Papst, ein Kardinal, ein Bischof, Mönche. Den theologischen Hintergrund bildet der Grundsatz »sola scriptura«: Die Botschaft des Heils wird einzig durch die Heilige Schrift verkündet und bedarf keiner Vermittlung durch kirchliche Autoritäten und Praktiken.
Die Idee mit der Wägung der Konfessionen hat Tradition. Auf dem polemischen reformatorischen Traktat werden der Papst und ein Kardinal, die den Teufelchen Ablassbreife zugeworfen haben, als zu leicht befunden; während in der anderen Waagschale Gottvater sitzt; das von ihm präsentierte (warum leere?) Blatt hat auf dem Siegel das ein Kreuz tragende und segnende Jesuskind:
Die Wägung der Konfessionen, ausgestaltet: Luther und die anderen Refomatoren rechts mit ihrer Bibel auf der Waagschale – auf der anderen Seite versuchen vor dem Papst und seinem Hofstaat katholische Geistliche ihrer Waagschale mehr Gewicht zu verleihen.
Vergleich von WeltmodellenGiovanni Battista Riccioli S.J. (1598–1671) wandte sich in seinem Buch gegen das heliozentrische astronomische Modell von Kopernikus. Hier das Frontispiz:
Die heliozentrische Theorie von Kopernikus wird für zu leicht befunden gegenüber Tycho Brahe's Modell, in dem der Mond, die Sonne, Jupiter und Saturn die Erde umkreisen und Merkur, Venus und Mars die Sonne. (Das ptolemäische geozentrische Modell liegt am Boden.) Auf dem Waagbalken steht: Ponderibus librata suis
• Die Waage wird gehalten von der personifizierten Astronomie oder evtl. von der dafür zuständigen Muse Urania; sie hält in der anderen Hand eine Armillarsphäre. Die Waage und die geflügelten Füße verweisen auch auf Astraea, d.h. die Gerechtigkeit (Dike), die nach dem Einbruch des Eisernen Zitalters unter die Sterne versetzt wurde (das Sternbild Jungfrau, Virgo), vgl. Ovid, Met. I,150; Hygin, Astronomica II,25. — Sie zitiert aus Psalm 103 (Vg.), 5: Qui fundasti terram super stabilitatem suam non inclinabitur in saeculum saeculi. (Der du die Erde auf ihre Grundfeste gegründet hast, dass sie in Ewigkeit nicht wanke.) • Die andere Figur ist Argos. Argos hat am ganzen Köper Augen, daher sein Beiname ›Panoptes‹. Vgl. Apollodor, Bibliotheke II,4; Hygin Fabulae 145: Argus, cui undique oculi refulgebant. (In den Ovid-Illustrationen wird jeweils die Szene dargestellt, wo Hermes/Mercur den Argus tötet, vgl. Metamorphosen I, 713ff.). Der Illustrator von Riccioli könnte das Fresko von Bernardino Pinturicchio (1454–1513) in den Appartamenti Borgia, im Vatikan gekannt haben. — Gemeint ist wohl, dass die ständige optische Beobachtung der Weg zum richtigen astronomischen Modell führt. — Er zitiert aus Psalm 8,4 Quoniam videbo caelos tuos, opera digitorum tuorum, lunam et stellas quae tu fundasti. (Wenn ich sehe die Himmel, deiner Finger Werk, den Mond und die Sterne, die du bereitet hast …) — In der linken Hand hält er ein Helioskop, wie es Christoph Scheiner S.J. für die Beobachtung der Sonnenflecken (1626/30) verwendet hatte. • Kopernikus, unter seinem Modell sitzend, sagt: erigor dum corrigor (Ich werde mich erheben, wenn ich verbessert werde.) Aequinoctium, die Tag-und-Nacht-GleicheCesare Ripa (um 1555 – 1622) visualisiert das Equinotio dell’Autunno:
Die Figur hält con la destra mano il segno della libra, cioè un paro di bilance egualmente pendenti, con due globi, uno per lato in dette bilancie, la metà di ciascun globo sarà bianco et l’altra metà negro, voltando l’uno al roverscio dell’altro. Die zusätzliche Pointe: La libra, overo bilancia, è uno de i dodici segni del Zodiaco, nel quale entra il Sole il mese di Settembre et fassi in questo tempo l’Equinotio. Das Sternzeichen WaageVergil beginnt sein Werk über den Landbau, die »Georgica«, mit einer Inhaltsangabe, darauf folgt die übliche Anrufung der Gottheiten, die ihm beistehen mögen. Nach den für die Zeitmessung zuständigen Gestirnen folgen Liber und Ceres, die Wein und Brot spenden, die Hirtengottheiten in Gestalt der Faune und Dryaden, Neptun als Stifter des Pferdes, Minerva als Stifterin des Ölbaums, aber auch kleinere wie Aristaeus, der die Bienen, und Triptolemos, der den Pflug beigetragen hat. Nach all denen ruft Vergil nun auch Augustus als Gott an, der er zwar noch nicht ist, aber, wie sein Vorgänger Cäsar, einmal sein wird. Offen ist allerdings, welcher Gruppe von Gottheiten er dann angehören wird, ob er für Stadt und Land sorgen, im Weltmeer herrschen oder gar am Himmel erscheinen wird, als eines der Sternzeichen. Vergil weiss, dass in den ursprünglich elfteiligen Tierkreis erst nachträglich die Waage eingefügt worden ist, und das scheint ihm der richtige Ort und das passende Symbol für den neuen Gott:
Von der Waage als solcher wird hier nicht gesprochen. Vergil lässt dem Publikum das Vergnügen, selber zu merken, dass in die Lücke die libra gehört. Doch das Abwägen ist da, in der Zumessung des Raums, den der Skorpion Augustus und seiner Waage zugesteht.
Die HeurathswageDas in Aussicht gestellten Geld der Dame scheint den Ausschlag zu geben; Cupido macht sich indessen davon.
Einfacher sagt das die Überschrift einer französischen Fassung (1613): Povr se marier on balance – A qvi aura plvs d’opvlance
Politische Karikaturen (I)••• Die politische Schaukel. Zeitgenössische Karikatur über die Zustände in der Helvetischen Republik 1803 von David Hess (1770–1843):
••• Irdische Gerechtigkeit
••• Benjamin Disraeli, 1. Earl of Beaconsfield (1804–1881), war seit 1874 erfolgreicher konservativer Premier; 1880 wurde der liberale William Ewart Gladstone (1809–1898) wieder Premier.
Balance of PowerDie in der Schlacht an der Allia (365 a.u.c. / 387 oder 390 v.u.Z.) siegreichen Kelten plünderten in der Folge die Stadt, und nur die Burg auf dem Kapitol konnte von den Verteidigern gehalten werden. Für den Rückzug verlangten die Kelten ein Lösegeld. Livius, »Ab urbe condita«, 5.Buch, Kap. 48, ¶ 7–9; überliefert, der Gallierkönig Brennus habe nach der Schlacht, als die besiegten Römer sich sträubten, die auferlegten 1000 Pfund Kriegskontribution in Gold nach den zu schweren Gewichten der Feinde abzuwiegen, höhnend auch noch sein Schwert in die Waagschale geworfen und dabei ausgerufen: »Wehe den Besiegten!«. Danach sagen wir heute noch: Sein Schwert in die Waagschale werfen, wenn von gewaltsamen Entscheidungen die Rede ist.
›Historische‹ Illustratíonen dieser Szene:
Francesco Bartolozzi nach Sebastiano Ricci, 1763 Paul Lehugeur, 1886 Dazu: Politische Karikaturen (II)••• 1867 versuchte Giuseppe Garibaldi nach seinem vorübergehenden Rückzug, neuerlich, Rom einzunehmen. Seine Einheiten wurden jedoch am 3. November 1867 durch Truppen des Papstes und ihre französischen Hilfstruppen zurückgeschlagen. Diese wurden entsandt von Napoleon III. (1852 bis 1870 Kaiser der Franzosen, Beschützer des Katholizismus). Bild: Napoleon legt das Schwert auf die Waagschale, auf der die Tiara liegt. In der anderen Schale stehen Büsten von Garbialdi und König Vittorio Emmanuele, dem Vertreter der italienischen Einigungsbewegung.
••• 1885/86 zerbrach der Dreikaiserbund; die Sicherheit des Deutschen Reiches war gefährdet. Reichkanzler Otto von Bismarck (1815–1898) versucht, die Balance zu bewahren.
Überraschend für uns ist, wie schnell die Karikaturisten auf die politischen Ereignisse reagierten. Und: Wie gebildet die Leser der Journale waren und die Anspielung auf Brennus verstanden. (In der Erstausgabe von Büchmanns »Geflügelten Worten« 1864 erscheint S.139 nur des Brennus Spruch Vae victis, ohne die Schwert-Waage-Szene.) Und: Woher die Leser die Portraits der karikierten Politiker kannten? (Münzen, Briefmarken, Journale?). Visualisierung von DatenHandels-Bilanz: Hier werden nüchterne Zahlen miteinander verglichen: Die Schweiz hat 1929 Waren im Werte von 2’783 Millionen Franken gekauft und Waren im Werte von 2’104 Millionen Franken verkauft. Vor allem Rohstoffe müssen importiert werden; den Hauptbestandteil der Ausfuhr bilden Fabrikate. Mit Säulengraphiken werden, nach Artikelgruppen differenziert, die Einfuhr von und die Ausfuhr nach einzelnen Ländern visualisiert. Für die jugendliche Leserschaft zeigt ein Bild eine Waage; in der einen Waagschale importierte Artikel, in der andern exportierte – wobei nicht deutlich wird, dass das Übergewicht der Einfuhr ein ▼ Handelsbilanzdefizit bedeutet.
Man müsste 81 Monde auf die Waagschale legen, um Gleichgewicht mit der Erde zu erhalten.
Weil die Hochseeflotte im 1.WK die englische Blockade nicht durchbrechen kann, verwendet die deutsche Marine U-Boote. Die Zahl wird von 28 auf 371 vermehrt. — Die Graphik vergleicht die Menge der Neubauten mit der Menge der versenkten Boote des Gegners: Die Zerstörung ›überwiegt‹. (Die Zahlenangaben auf dem Plakat sind falsch.)
Jux
WortfeldDas deutsche Wort Waage (seit 1927 mit aa geschrieben) stammt von einer indogermanischnr Wurzel "bewegen". Viele Wörter im Umfeld stammen aus der Antike. Lat. lībra: die Waage, das Gewogene = das römische Pfund; die italienische Währung £ Lira (bis 2001) (libra) bi-lanx: Waage mit zwei Schalen; daraus unser Bilanz aequilibrium (frz. l’équilibre) das Gleichgewicht; der Aequilibrist ist ein Seiltänzer; vgl. dt. egal, engl. equal von. lat. aequalis examen: das Abwägende, Prüfende, das Zünglein an der Waage ex-pendo, -pendī, -pēnsum: gegen einander aufwägen; vgl. engl. expensive aufwendig praepondero: überwiegen, dem einen od. dem anderen den Vorzug geben ausgewogen; den Ausschlag geben; etwas in die Waagschale werfen; Wiedererwägung lat. trutina: ein Paar von Waagschalen lat. statēra: die Waage; eine Münze Zerbrecht die Waagen!Bem daoistischen Philosophen Zhuangzi (4. Jh. v.u.Z.) heisst es: Macht man Scheffel und Eimer, dass die Leute damit messen, so macht man gleichzeitig mit diesen Scheffeln und Eimern die Leute zu Dieben. Macht man Siegel und Stempel, dass die Leute treue Urkunden bekommen, so macht man gleichzeitig mit Siegeln und Stempeln sie zu Dieben [...] Werft weg die Edelsteine und zertretet die Perlen, die kleinen Räuber werden nicht aufstehen! Verbrennt die Stempel und zerstört die Siegel, und die Leute werden einfältig und ehrlich. Vernichtet die Scheffel und zerbrecht die Waagen, und die Leute hören auf zu streiten. (Mitgeteilt von Marc Winter) Aber wer trotzdem eine bauen möchte – hier eine Betriebsanleitung:
Weiterführende Literaturhinweise:Karl Friedrich Wilhelm Wander, Deutsches Sprichwörter-Lexikon, 1866ff. hier Grimmsches Wörterbuch, Artikel »Wage III« = Band 27 (1922), Spalte 348–269. Herbert Butterfield, »Balance of Power«, in: Dictionary of the History of Ideas, 1973, p. 179–188 (online). Alexander Demandt, Metaphern für Geschichte, München: Beck 1978; darin S. 301–311: Das Bild der Waage. Arthur Henkel / Albrecht Schöne (Hgg.), Emblemata. Handbuch zur Sinnbildkunst des XVI. und XVII. Jahrhunderts, Stuttgart 1967; Supplement 1976; Spalten 1430–1439. Leopold Kretzenbacher, Die Seelenwaage. Zur religiösen Idee vom Jenseitsgericht auf der Schicksalswaage in Hochreligion, Bildkunst und Volksglaube, Klagenfurt 1958. W. Till, Artikel »Waage, Wägung« in: E. Kirschbaum / W. Braunfels u.a. (Hgg.), Lexikon der christlichen Ikonographie, Freiburg: Herder 1968–1976; Band 4 (1972), Sp. 475f. Fritz Wagner, Artikel »Seelenwaage« in: Enzyklopädie des Märchens, Band 12 (2007); Spalten 497–502. ♁ |