Die Physiologus-Tradition
Tiere können seit dem frühen Christentum allegorisch ausgelegt werden. Ihre Eigenschaften (Körperbau, Verhalten, Nahrung usw.) werden Element für Element auf einen geistigen/geistlichen Sachverhalt (mit dogmatischer oder moralische Thematik) hin ausgelegt. — Vgl. die Einführung in die Allegorese. Diese Werkgruppe ist nicht exakt zu trennen von den ›naturwissenschaftlichen‹ Werken (bei denen moralische Applikaitonen fehlen), den Bibelexegesen (die im Dienst der Auslegung stehen) und der ›angewandten‹ Allegorese in Predigten und Emblematik (mehr zu diesen hier ). PhysiologusDer Physiologus, Übertragen und erläutert von Otto Seel, Zürich: Artemis 1960 [und Neuauflagen]. Physiologus. Griechisch/Deutsch. Übersetzt und hg. von Otto Schönberger, Stuttgart: Reclam 2001 (RUB 18124). Digitalisat der um 830 entstandenen lat. Handschrift Burgerbibliothek Bern Cod. 318: Althochdeutscher Physiologus (11.Jh.) aus Codex Vindobonensis Palatinus 223 der k.k. Hofbibliothek Wien nach Müllenhoff/Scherer, Denkmäler deutscher Poesie und Prosa 1992, Nr. LXXXII dasselbe mit einer lat. Fassung parallel: Elias von Steinmeyer, Die kleineren althochdeutschen Sprachdenkmäler, Berlin: Weidmann 1916, Nr. XXVII Mittelhochdeutsche Übersetzung (Handschrift Wien, Cod 2721; 12.Jh.), Ausgabe von Lauchert, Geschichte des Physiologus, 1889 Milstätter Handschrift (Klagenfurt, Kärntner Landesarchiv … Hs. 6/19; wohl Literaturhinweise:
Mittelalterliche BestiareVorzügliche Einführungen mit Hinweisen zur Gattungs- und Textgeschichte sowie Digiatilisaten und Übersetzungen (Zugriff 20.12.2013): The Medieval Bestiary (David Badke; Victoria, British Columbia, Canada): http://bestiary.ca/index.html The Aberdeen Bestiary (King's College, University of Aberdeen): http://www.abdn.ac.uk/bestiary/index.hti
Allegorese von Natur-Dingen (darunter Tieren) vom Mittelalter bis zur Barockzeit
Bartholomaeus Anglicus O.F.M. (Ende 12. Jh. – nach 1250) »De proprietatibus rerum« (nach 1235); herausgegeben unter der Leitung von Christel Meier, Heinz Meyer, Baudouin Van den Abeele und Iolanda Ventura, Turnhout: Brepols 2007ff. [erst einige Bände erschienen] Explizite allegorische Deutungen und Moralisationen fehlen, sind in Handschriften als Marginalglossen (z.B. nota de gula) beigegeben, die auf die Verwendung als Predigtsteller hinweisen. Digitalisat der Ausgabe Nürnberg, Anton Koberger, 1483:
Thomas Cantimpratensis [von Cantimpré] (um 1201 – um 1270) »Liber de natura rerum«, auf 1225 – 1241 datierbar. Das Handexemplar mit nachgetragenen Ergänzungen des Thomas ist überliefert. Danach weitere Überabeitungen und deshalb komplexe Überlieferungsgeschichte. Gelegentlich Moralisationen. Moderne Ausgabe: Thomas Cantimpratensis, Liber de natura rerum, Teil I [mehr nicht erschienen]: Text, hg. H. Boese, Berlin / New York 1973. Eine mittelhochdeutsche Bearbeitung hat Konrad von Megenberg (1309–1374) geschrieben. E-Text der Edition von Franz Pfeiffer 1861: Petrus Berchorius [auch: Bersuire, Pictavensius] (Ende 13. Jh. – nach 1361) Reductorii moralis fratris Petri Berchorii libri quatuordecim; perfectam officiorum atque morum rationem ac pene totam nature complectentes historiam nusquam hactenus excusi gentium: summa fide ac diligentia ad vetera exemplaria castivati Parrisijs: apud Claudium Cheuallon […] mensis Martij die .xij. Anno dni Millesimo quingenetsimo vigesimoprimo [= 1521; die Erstausgabe!] Jedes Tier (jede Pflanze, jeder Stein usw.) ist ausführlichst allegorisch ausgelegt. Brauchbares Digitalisat einer Ausgabe von 1575 bei GoogleBooks: https://books.google.ch/books?id=fPDSCFeL-cMC&hl=de&source=gbs_navlinks_s Teilübersetzung ins Deutsche durch Aegidius Albertinus 1613 s. unten.
Hermann Heinrich Frey Therobiblia. Biblisch Thierbuch, darinne alle vierfüßige, zahme, wilde, gifftige und krie¬chende Thier, Vogel vnd Fisch (deren in der Bibel meldung geschiht) sampt jren Eigenschafften vnnd anhangenden nützlichen Historien beschrieben sind. Mit der alten vnd newen Kirchenlehrer Außlegungen fleissig erkleret … Durch M. Hermannum Heinrychum FREY …, Leipzig: Johann Beyer 1595. – Hermann Heinrich FREY, Therobiblia. Biblisch Thier- Vogel und Fischbuch, Leipzig 1595. Reprint hg. von Heimo Reinitzer, Graz: A.V.D.A. 1978. Obwohl sich Luther schnöde über die Allerogese geäussert hat, legt der Lutheraner Frey munter allegorisch aus.
Heinrich von Hövel (? – ?) Heinrich von Hövel, Neuwer Wunderbarlicher Thiergarten: In welchem der Unvernünfftigen Irrdischen Gethieren/ auch der Vögeln und Fischen Natur und Eygenschafften etlicher massen beschrieben/ und auff allerley/ so wol Geistliche als Weltliche Sachen/ durch wolgereimpte Vergleichungen gedeutet werden. In drey unterschiedtliche Theil verfasset ... / Durch ... Heinrich von Hövel anfängklich auff dem Hauß Stockum[m] ins Werck gerichtet, Franckfurt am Mayn: Egenolff 1601; 2.Auflage: Franckfurt am Mayn: Steinmeyer 1613.
Wolfgang Franz (1564–1628) Historia Animalium, In quâ plerorumqve Animalium præcipuæ proprietates in gratiam Studiosorum Theologiae & Ministrorum Verbi … In Academia Witenbergensi ... dictata a Wolfgango Franzio ... Jam denuò emendatiùs & correctiùs edita ... nec non moralium indice recens addito, Praefixa item praefatione Augusti Buchneri. … Editio Sexta, Wittenbergae: B.Mevius / J.Bauer 1659. [Vorwort ist auf 1612 datiert] Aegidius Albertinus S.J. (um 1560 – 1620) Der Welt Tummel= und Schaw-Platz. Sampt der bitter=süssen Warheit. Darinn mit einführung viler schöner und fürtrefflicher Discurscen, nit allein die Natürliche, sondern auch Moralische und sittliche Eigenschafften und Geheimnussen der fürnemsten Creaturen und Geschöpf sehr lustig, Geist= und Politischer Weiß erklärt, und auf die Weltläuf gezogen werden. Acht Theil begreiffendt. Im ersten wirdt gehandelt von GOtt, von den Himmeln, von der Höllen, guten und bösen Engeln, Sonn, Mohn, Sternen Elementen, Wolcken, Winden, Regen, Regenbogen, Morgenröth, Hagel, Reiff, Schnee, Thaw, Meer, Liecht, Finsternuß, etc. Im andern von den grossen vnd kleinen, wilden vnd zämen vierfüssigen Thieren. Drittens, von kriechenden Thieren. Viertens von allerhandt Vögeln. Zum fünfften von Fischen. Zum sechsten von Bäumen, Pflantzen, Früchten, Blumen, Kräutern vnd Samen. Sibendens von allerhandt Edelgesteinen, Corallen, Glaß, Saltz, Wein, Oel, Honig, Wachß, Milche, Butter, Käß vnd Brot, etc. Im achten von dem Menschen, und dessen äusserlichen vnd innerlichen Geheimbnussen. Allen StandtsPersonen, vnd sonderlich den Predigern sehr dienlich. Durch Aegidivm Albertinvm, Bayrischen Secretarium colligiert. Getruckt zu München, bey Nicolao Henrico MDCXIII, in Verlegung Hansen Krugern. Es handelt sich um Auszüge aus des »Reductorium« in deutscher Übersetzung.Gutes Digitalisat (Herzog August-Bibliothek): http://diglib.hab.de/drucke/21-phys/start.htm
Ein Beispiel: Der Biber
Schaut man sich ein konkretes Beispiel an, so verschwimmen die Gattungsgrenzen: dieselbe Geschichte erscheint in Enzyklopädien, in Fabelsammlungen, christlicher Moralität, Emblematik usw. Heidnisch-antike Literatur Plinius, nat. hist. VIII, xlvii, 109: Easdem partes sibi ipsi Pontici amputant fibri periculo urgente, ob hoc se peti gnari; castoreum id vocant medici. — Ebenso beißen sich die pontischen Biber bei drohender Gefahr die Geschlechtsteile selbst ab, weil sie wissen, dass man sie deshalb verfolgt: die Ärzte nennen es Bibergeil. Aelian De natura animalium 6,34 (dt. Übers. in: Älian, Die tanzenden Pferde von Sybaris. Tiergeschichten. Übersetzt von Ursula Treu und Kurt Treu, Reclam, Leipzig 1978 (= RUB 747)): Der Biber […] versteht sehr wohl, warum ihm die Jäger nachsetzen. Dann wendet er sich nach hinten, beisst sich die Hoden ab und wirft sie ihnen hin, so wie ein kluger Mann, der unter die Räuber fällt, all seine Habe als Lösegeld für seine Rettung hingibt. […] Phaedrus (?) Appendix Perottina 30 [Perry Nr. 118]. Moral: Multi viverent, si salutis gratia parvi facerent fortunas. Viele lebten, wenn sie, um ihr Leben zu retten, ihren Besitz geringachteten. Juvenal (1./2. Jh.) verwendet das Verhalten bereits als poetisches Gleichnis in seiner 12.Satire: Ein Freund des Dichters namens Catullus hat ein Schiffsunglück überlebt, und J. möchte zum Dank den Göttern opfern. J. schildert den Unfall, bei dem C. alle Güter über Bord warf, um das Schiff vor dem Untergang zu bewahren; dazu bringt er das Gleichnis (Verse 34ff.):
Christliche Literatur Griechischer Physiologus (Kap. 27)
http://titus.fkidg1.uni-frankfurt.de/texte/etcs/germ/mhd/physiol/physiol3/physi.htm?physi018.htm Die Allegorese ist also folgendermassen strukturiert:
Petrus Berchorius bringt das Verhalten in seiner für Predigtzwecke gedachten Enzyklopädie:
Reductorii moralis fratris Petri Berchorii libri quatuordecim, Parrisijs: apud Claudium Cheuallon, 1521; Lib. X, Cap. xxv de castore = fol. CXCIIII verso. — Die allegorische Ebene ist in die Sach-Ebene eingeflochten; hier farbig hervorgehoben. — P.B. ist bestrebt, jede Deutung mit einem Schiftwort zu belegen, hier kommt ihm Matth. 19,12 entgegen.
Die Geschichte ist mit oder ohne Auslegung weit herum bekannt, z.Bsp.: Das Verhalten des Bibers ist nahezu sprichwörtlich, vgl. Tertullian († um 220), Fünf Bücher gegen Marcion, I,1
Konrad von Megenberg, Buch der Natur (hg. F. Pfeiffer 1861), III, A, 10: VON DEM PIBER
Hugo von Trimberg († nach 1313; »Renner« 19529ff.) kennt ebenfalls die zweigfipflige Version: Einmal beisst sich der Biber die Hoden (mhd. geilen) ab; wenn der Jäger wieder sieht, so spreizt er die Beine und zeigt, dass er keine Hoden mehr hat. Moral: Wer die Hoden seiner Vergehen (missetat) bereits entfernt hat (durch das Beichtsakrament?) braucht nicht zu klagen, wenn ihn der Tod jagt.
Hinweis auf die Seite von Prof. Henrike Lähnemann (Oxford): http://users.ox.ac.uk/~fmml2152/renner/
Die Deutung wird unterstützt durch die Pseudo-Etymologie des Worts für den Biber castor < castrare: Isidor von Sevilla (um 570–636), Etymologiae XII,ii,21:
Verwendungen in der Frühneuzeit: Sebastian Brant (1458–1521): Hier (und bei Alciati) liegt das Signifikat im Rückgriff auf die heidnisch-antike Tradition nicht im geistlichen Bereich, sondern im profanen.
Burchard Waldis (um 1490–1556) ersetzt in seinem Text (Esopus/ Gantz neu gemacht/ vnnd in Reimen gefaßt, Erstdruck: Frankfurt am Main 1548; 3. Buch, Nr. 34) das instinktmässige Verhalten des Tiers durch eine intellektuelle Leistung; dann wird daraus eine Fabel im Sinne Lessings:
Auch in der Emblematik kommt das Verhalten des Bibers vor: Andrea Alciato (1492–1550, auch Alciati), Emblem Nr. 135
Es gab aber immer auch Kritiker, welche das Verhalten des Bibers für eine Erfindung hielten: Albertus Magnus, lib. XII, tract. 2, cap. 1, ¶ 39 (ed. Stadler, Band 2, S. 1370)
Neue und vermehrte Acerra philologica, Das ist: Sieben Hundert auserlesene, nützliche, lustige und denckwürdige Historien und Discursen, aus den berühmtesten griechischen und lateinischen Scribenten zusammengetragen [...], Frankfurt am Main, Leipzig, 1717 [Erstausgabe 1633] (1585–1639):
Sir Thomas Browne (1605–1682) hat eine Enzyklopädie von Irrtümern zusammengestellt: Pseudodoxia Epidemica or Enquries into very many received tenets and commonly presumed truths, 1646 — Kommentierte Ausgabe (der 1672er-Edition): ed. Robin Robbins, Oxford: Clarendon Press 1981 (2 vols.) — http://penelope.uchicago.edu/pseudodoxia/pseudo34.html#b2
Literaturhinweise Meinolf SCHUMACHER, Der Biber – ein Asket? Zu einem metaphorischen Motiv aus Fabel und ›Physiologus‹, in: Euphorion 86 (1992), S. 347–353. Thesaurus proverbiorum medii aevi. Lexikon der Sprichwörter des romanisch-germanischen Mittelalters: A-Birne: Band 1 (1995), S. 465ff. s.v. Biber
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