Andreas Hebestreit

Das Soziale als Gefäß. Gedanken zur Töpferei des Neolithikums

Vortrag, gehalten am Kolloquium der Schweizerischen Gesellschaft für Symbolforschung am 21. September 2019 zum Thema »Die Präsentation sozialer Gruppierungen mittels symbolischer Formen.«

Vorausschicken möchte ich einen Satz des Historikers und Mediävisten Ernst Kantorowicz. Der Satz lautet: „Der soziale Körper ist ein Körper, den man nicht sehen kann.“ Das klingt nun zunächst einmal nicht sehr ermutigend. Natürlich stimmt es, dass wir in der Regel keine sozialen Körper sehen, sondern immer nur einzelne Individuen – wenn überhaupt. Wirklich aufschlussreich und fruchtbar wird der zitierte Satz also erst, wen wir ihn gewissermaßen auf den Kopf stellen. Dann nämlich lautet er etwa: „Alles, was wir bewusst wahrnehmen können, ist deshalb für uns wahrnehmbar, weil es einmal Teil der Identität (irgend-)eines sozialen Körpers gewesen ist.“ Das klingt nun schon wesentlich unvertrauter. So las man es nicht im Schulbuch und deshalb habe ich in den letzten vierzig Jahren immer wieder versucht, es ein bisschen zu erläutern.

Am ausführlichsten ist das geschehen in meinem Buch über die soziale Dimension der Farbe. Die Quintessenz lautete da: Um eine Farbe bewusst wahrzunehmen, brauchen wir Bezeichnungen, Namen, Lexeme. Aber eine Bezeichnung für einen Farbton gibt es erst in dem Moment, wo eine Gruppe von Menschen sagt: „Dieser spezielle Farbton da hat irgendetwas mit uns zu tun. Der ähnelt uns, der gleicht uns, der ist wie wir. Wir sind (nämlich) die Roten. Oder: Wir sind (eigentlich) die Schwarzen. Oder: Wir sind (recht besehen) die Grünen.“ – Und (erst) in dem Moment gibt es eine Farbbezeichnung, die sich dann, weil sie von einem sozialen Aggregat getragen und vertreten wird, auch allgemein verbreitet und durchsetzt.

Wenn man sich die Mühe macht, die aus aller Welt zusammengetragene ethnographische Literatur unter diesem Gesichtspunkt ein wenig durchzuarbeiten, dann lässt sich das sehr schön belegen. Die Realität, mit der wir täglich konfrontiert sind, ist eben nicht nur anthropomorph, also „menschengestaltig“, dergleichen ist dank philosophischer und psychologischer Bemühungen inzwischen einigermaßen bekannt, sie ist vor allem auch „soziomorph“, sie ist „gesellschaftsförmig“.

Heute geht es aber nicht um Farben, sondern um Formen. – Dazu gleich noch die Frage vorweg: Was ist (eine) Form? – Antwort: Form ist immer das Resultat oder das Abbild einer Begegnung.

Das gesellige Wesen

In der akademischen Antrittsrede, die Friedrich Schiller im Mai 1798 in Jena gehalten hat, kommt er tatsächlich vor – der „ungesellige Höhlenbewohner.“ – Nun, heute wissen wir über diese Dinge etwas besser Bescheid. „Höhlenbewohner“ stimmt, aber „ungesellig“ ist wohl eher ein überliefertes Klischee aus der antiken Philosophie. Die moderne Anthropologie und die Ethologie bestätigen uns hingegen: Der Mensch war schon immer ein geselliges, ein soziales Wesen. Anders ist er nicht denkbar.

Anmerkung: „The formation of socially definable alliances for survival is a unique characteristic of humans.“ (B. Haydn: Shamans, Sorcerers and Saints, Washington DC, 2003, S. 30)

Was heißt nun aber „sozial“? Ich mache das ohne lange Umschweife fest an zwei Begriffen: Tausch und Zusammenarbeit. – Tausch und Zusammenarbeit sind aber ihrerseits an eine Bedingung geknüpft. Wir müssen nämlich wissen, wer waren diese Leute, denen wir vor einiger Zeit einen großen Gefallen erwiesen haben? Und wer waren die Leute, die uns vor einiger Zeit dringend benötigte Hilfe geleistet haben? – Mit anderen Worten: Das soziale Leben braucht Namen, es funktioniert nur mit dauerhaften, zuverlässig abrufbaren Identitäten.

Für uns ist das eine Selbstverständlichkeit, über die man nicht mehr nachzudenken braucht, aber in den endlosen Jahrtausenden der Steinzeit war das ein Problem. Es gab ja noch keine Berufe. Man konnte also nicht Schumann, Weber oder Wagner heißen. Ganz zu schweigen von Bäcker, Fischer, Maurer, Müller, Richter, Schneider, Schuster, Schlosser, Schindler oder Seiler. Und es gab für die nomadisierenden Jäger und Sammler nur bedingt feste Wohnsitze. Man konnte also auch nicht Buxtehude, Furtwängler oder Offenbach heißen. Ganz zu schweigen von Zürcher, Glarner, Veronesi, Strittmatter oder Heidegger.

Wie hat man sich beholfen? – Antwort: Mit Nachahmungen. Der Mensch ist das nachahmende Wesen, sagt Aristoteles. Man hat also bestimmte Tiere nachgeahmt, die eine Gruppe dieses Tier, die andere Sippe ein anderes, und wenn man das oft genug und gut genug macht, mit mimetischen Riten und Tänzen und eventuell auch schon mit Masken und Bemalungen, dann entsteht bei den jeweils anderen der Eindruck: „Die haben das irgendwie im Blut! Die müssen das geerbt haben!“ Das nachgeahmte Tier ist folglich ihr Ahne. Sie selber sind die „Kinder“ dieses Tier-Ahnen. Und dann hat man eine Identität – durch mimetische Tänze. (Man kennt das Ganze auch unter dem in der Fachwelt derzeit etwas umstrittenen Stichwort „Totemismus“.)

Manifestationen des Sozialen

Nun können wir nicht immer nur tanzen, manchmal müssen wir uns auch mit unwichtigeren Dingen beschäftigen und da wäre es gut, wenn es etwas gäbe, das uns sozusagen permanent darstellt, das uns dauerhaft verkörpert. (Denn „dauerhaft“ wollen wir ja als Lebe-Wesen vor allem sein.) Die Frage ist nur: Wie soll man das anstellen? Woher soll man das nehmen? Idealerweise müsste es etwas sein, mit dem sich ein ganzer Prozess darstellen lässt. Das heißt, zuerst muss der gesuchte Grundstoff vollkommen formlos sein, so wie auch wir selber ohne einen Namen und eine Identität formlos sind. Dann muss es aber eine Form annehmen und zwar genau die Form, die wir ihm geben wollen. Und schließlich, wenn es diese Form angenommen hat, sollte es sie auch behalten – unauflöslich. –

Das Material, das wir suchen, kann nicht Stein sein, nicht Holz, nicht Bast und nicht Wolle, sondern das gesuchte Material ist der Lehm. Lehm gibt es auf der ganzen Welt, aber Lehm ist nicht gleich Lehm. Es gibt da sehr viele Varianten – und nicht alle sind für unsere Zwecke geeignet. Das heißt, wir müssen manchmal in Kontakt mit einer anderen Gruppe treten und schauen, ob wir etwas von ihrem Material eintauschen können. Oder wir müssen verschiedene „Ton-Arten“ zusammenmischen oder zusammenkneten, um ein brauchbares Material zu erhalten. Die beiden Hauptmotive des Sozialen, der Tausch und die Kooperation, sind gewissermaßen schon in diesem Material angelegt.

Materia prima

Und nun geht es unverzüglich an die Arbeit. Wir greifen uns also einen Batzen Lehm heraus,

und das erste, was wir damit anstellen, ist: Wir geben den Druck, unter dem wir stehen, an das Material weiter. Denn wir stehen unter einem enormen existentiellen Druck. Wir müssen Tauschpartner finden, wir brauchen Zusammenarbeit, sonst gehen wir unter. Allein schon genetisch. Die flachen, rundlichen Objekte, die nun auf diese Weise entstehen, hat man tatsächlich archäologisch nachweisen können. Man spricht da in Fachkreisen von „Backscheiben“, also von Scheiben, auf denen irgendetwas gebacken wurde. Da kann natürlich sein, ich werde mich hüten, hier zu widersprechen, aber es fällt doch auf:

Einige dieser so genannten Backscheiben sind sehr klein. Nur etwa drei cm im Durchmesser. Das müsste also ein sehr, sehr kleines Gebäck gewesen sein. Und das hat bei mir den Verdacht geweckt, ob es sich hier nicht – zumindest teilweise – um etwas ganz anderes gehandelt haben könnte: Nämlich um die Urform unserer Siegel. Siegel sind tatsächlich etwas sehr Altes, sie sind mindestens so alt wie die „reguläre“ Keramik, wenn nicht sogar etwas älter.

Was aber ist überhaupt ein Siegel? – Ein Siegel ist grundsätzlich etwas, mit dem eine Symmetrie dokumetiert wird. Die eine Seite erbringt eine bestimmte Leistung, und dieser Leistung soll etwas möglichst Gleichwertiges entgegengestellt werden. Das Siegel repräsentiert also eine gewisse Gleichheit, um nicht zu sagen eine Gerechtigkeit, und das ist auf jeden Fall schon einmal eine gute Basis für etwas, das ein soziales Aggregat symbolisch verkörpern soll.

Form follows function

Wenn wir uns dieses Gebilde nun von der Seite anschauen, dann merken wir sehr schnell: Hier fehlt noch etwas ganz Wesentliches. Hier fehlt das Profil! Die schönste Identität der Welt ist nichts wert, wenn man sie nicht sieht. Mit den Worten des englischen Philosophen George Berkeley: Esse est percipi – „Sein heißt wahrgenommen werden.“ Was nicht wahrgenommen wird, das ist nicht. – Und wie wird man nun wahrgenommen auf dieser platten Erde? – Ganz einfach: Indem man sich nach oben streckt.

Wir strecken uns also nach oben und wenn wir uns das räumlich vorstellen, dann entsteht etwas, das tatsächlich der schematischen Darstellung eines sozialen Körpers entspricht. Es hat nämlich, einmal abgesehen von der „gerechten“ Basis, eine Außenseite, mit der es abgrenzt oder abwehrt. Es hat eine Innenseite, mit der es uns zusammenhält. Und es hat eine Austauschzone, mit der wir bestimmen können, ob wir nun grundsätzlich sehr offen sein wollen, offen für alle möglichen Einflüsse, oder ob wir lieber konservativ und exklusiv geschlossen sein wollen und nur ganz weniges, speziell Ausgesuchtes, Exquisites hereinlassen oder von uns geben.

    

 

Die Lehren des Topfes

Man könnte einwenden: „Das ist ja an sich ein sehr interessanter Ansatz, aber was ich hier sehe, ist doch einfach nur ein Topf, ein Krug aus Keramik.“ – Keramik, das wissen wir alle, entsteht erstmals im Neolithikum. Damals hat man angefangen, Getreide anzubauen und Getreide kann man nicht einfach vom Halm weg genießen, das muss man auf- oder zubereiten. Also einweichen oder auch kochen (Reis). Und dazu braucht man Gefäße. Wenn möglich wasserdicht und feuerfest. Das ist absolut richtig, stimmt aber leider nicht ganz.

Tatsache ist: Man hat im Nahen Osten, im so genannten Fruchtbaren Halbmond, Siedlungen ausgegraben, von denen man weiß, diese Menschen waren Neolithiker, die haben Getreide angebaut, aber – von Keramik keine Spur. Während Jahrhunderten keine Spur. Es gab also ein a-keramisches Neolithikum und das hat nun einige sehr intelligente Leute auf den Gedanken gebracht, dass es vielleicht nicht unbedingt die praktische Funktion war, die zur Erfindung der Keramik geführt hat, sondern eine andere – nämlich eine symbolische.

Indogermanisch zum Einstieg

Nun könnte man an dieser Stelle einwenden: Das ist einfach eine Annahme, eine reine Hypothese! Lässt sich das denn in irgendeiner Form beweisen? Gibt es irgendwo einen Beleg dafür? – Dazu schauen wir uns dieses Objekt hier an.

Für dieses Objekt gibt es im deutschen Sprachraum eine spezielle Bezeichnung. In Hamburg kennt man sie nicht und in Salzburg kennt man sie auch nicht, aber ungefähr in der Mitte, also im Rhein-Main-Gebiet kennt man dieses Objekt als einen „Kump“ oder „Kumpf“. Bei Goethe kommt das Wort nicht vor, aber bei Jung-Stilling kann man es entdecken. Das ganz Erstaunliche an diesem Kumpf-Wort ist nun aber, dass es sich – die indo-germanische Sprachfamilie macht es möglich – auch im fernen, fernen Indien findet. Dort allerdings mit einem weichen „b“-Laut – als Kumbh oder Kumbha. In Indien kennt man das Wort Kumbh vor allem in Verbindung mit dem Wort Mela. Mela heißt als Verb „vereinigen, verbinden, zusammentreffen, versammeln.“ Vor allem heißt Mela aber das „Fest“ und Kumbhmela ist somit ganz offiziell das „Fest des heiligen Kruges“.

Anmerkung: „Die Wortkunde kann eine Reihe indogermanischer und germanischer Wörter aus dem Bereich der Feier, des Festes und der Festfreude anführen, die etymologisch mit Wörtern für Gemeinschaft, Gruppe, Kreis, Versammlung zusammenhängen, und zwar so zusammenhängen, dass die Bedeutungen Feier, Fest, Festfreude der Bedeutung Versammlung folgen.“ Jost Trier: Rhythmus, in Studium Generale, Heft 3, 2.Jg. 1949, S.11.

Dieses „Fest des heiligen Kruges“ ist nun nicht irgendein hinduistisches Fest neben anderen, es ist das größte hinduistische Fest. Und nicht nur das, es ist das größte religiöse Fest überhaupt. Wenn wir zum Vergleich die Wallfahrt nach Mekka und Medina heranziehen: Dort spricht man von etwas über zwei Millionen Teilnehmern. Beim Kumbhmela in Allahabad (2013) waren es aber schätzungsweise 120 Millionen Teilnehmer!

Umgangsformen

Angesichts solch überwältigender Zahlen würde man eigentlich erwarten, dass es da irgendwo auch einen ganz konkreten Tonkrug gibt, aber das scheint (meines Wissens) nicht der Fall zu sein. Das heißt, der heilige Krug existiert nur (oder vorwiegend) im Mythus. Was ist das nun für ein Mythus?

Erinnern wir uns an dieser Stelle an das, was ich in der Einleitung gesagt habe: „Form ist immer das Ergebnis oder Abbild einer Begegnung.“ Im vorliegenden Fall ist diese Begegnung ein Kampf – ein Kampf zwischen weißen Göttern (Devas) und schwarzen Dämonen (Asuras). Dabei geht es um einen Krug und in diesem Krug befindet sich das mit Hilfe eines zweckentfremdeten Schlangenkörpers gequirlte Amrit – das „Elixir des ewigen Lebens“.

Anmerkung: Siehe dazu mein Buch „Drachensaat und Schlangensegen“ (2018); hier.

Was hat das nun zu bedeuten, wie lautet die Exegese? – Meiner Meinung nach bezieht sich dieser Mythus auf die Einwanderung der Indo-Arier auf dem indischen Subkontinent (seit etwa 1500 v. Chr.; Ich sage ausdrücklich „bezieht sich“, nicht „datiert“.). Die „weißen Götter“ sind also die Indo-Arier, die „schwarzen Dämonen“ sind die bereits vorhandenen Ethnien, unter anderem auch die Tamilen. Das heftig umkämpfte „Elixier des ewigen Lebens“ ist das Bleiberecht auf diesem Subkontinent, auf dem man sich „auf ewig“ niederlassen und ansiedeln will. Und was ist schließlich der „Krug“? – Der Krug ist die exakte, von einer herrschenden Oberschicht sehr klar definierte Form, die man diesem Leben auf dem Subkontinent geben will. Ich erinnere hier nur kurz an das hinlänglich bekannte indische Kastensystem.

Frühneolithikum

Sichtlich bestärkt durch diese Überlegungen können wir nun nach Europa zurückkehren.

Anmerkung: Nicht ohne einen kurzen Zwischenhalt im Vorderen Orient. Auch das AT kennt das (Ton-)Gefäß als Symbol des Sozialen. Allerdings eher in einem negativen Sinn, als etwas Bedrohliches und folglich zu Zerstörendes. s. Jeremia 1,13, Jeremia 19, Jesaja 39,14.

Und wir gehen zugleich auch ein ganzes Stück weit zurück in der Zeit – nämlich ins Frühneolithikum. (5700 – 4900 v. Chr.) Damals ist der europäische Kontinent bereits seit vielen Jahrtausenden besiedelt, aber – diese Menschen sind noch auf der Stufe der Jäger und Sammler. Sie pflegen also eine rein aneignende Lebensform. Und nun kommt aus Richtung Süd-Osten, genauer gesagt aus der Region um den ungarischen Plattensee etwas in Gang und breitet sich langsam nach Westen aus.

Diese Menschen vertreten tatsächlich einen vollkommen neuen Lebensstil: Sie kultivieren den Ackerbau, sie pflegen die Viehzucht und sie bauen sich erstmals (Lang-) Häuser. Diese Häuser haben Wände aus Weidengeflecht, das dann mit Lehm verstrichen und abgedichtet wird. Man könnte also sagen: Die Menschen leben tatsächlich in Lehm- respektive in Ton-Gefäßen. Aus der Sicht der bereits vorhandenen Bevölkerung könnten sie die „Tongefäßmenschen“ gewesen sein. Die Archäologen nennen sie die „Linienbandkeramiker“.

Konvexität und Geltungsdrang

Denn natürlich gab es bei ihnen Keramik. Doch wie sah die aus? – Es gibt da nicht nur eine Form, es gibt mehrere. Die Archäologie hat gewisse „Leitformen“ erkannt und an diese Leitformen werde ich mich im Folgenden halten. Wie sieht nun die Form eines sozialen Körpers aus, der offensichtlich vor allem eines will: Sich ausbreiten, sich möglichst ungehemmt und ungehindert in alle Himmelsrichtungen ausdehnen? – Ich würde behaupten, diese Form kann nur eine uneingeschränkt konvexe Form sein. Diese nach außen gewölbte Form repräsentiert am besten, was die Griechen den thymos nannten, den „Geltungsdrang“.

 

Mittelneolithikum

Die Zeit schreitet unaufhaltsam voran und wir befinden uns im Mittelneolithikum (4790 – 4550 v. Chr.) Die Linienbandkeramiker des Frühneolithikums haben sich relativ rasch und homogen in Europa ausgebreitet. Im Mittelneolithikum ist die Ausbreitungswelle einigermaßen abgeschlossen und nun steht eine neue Aufgabe im Vordergrund. Es geht darum, die Verbindungen zwischen den weit verstreuten Siedlungen herzustellen, Kontakte zu konsolidieren, Beziehungsnetze aufzubauen. – Wie macht man das?

Man macht es, indem man den jeweils anderen zu verstehen gibt: „Schaut her! Bei uns ist auch ein bisschen Raum für euch. Wir sind bereit, euch ein Stück weit bei uns zuzulassen. Wir wollen euch etwas einräumen.“ – Also im Ganzen ein konkave, nach innen gewölbte Form, die aber in möglichst harmonischer Weise mit dem konvexen Selbstbewusstsein der Gruppe verbunden werden muss.

Jungneolithikum

Wieder etwas weiter und wir sind im Jungneolithikum (4400 – 3500 v. Chr.), hier vertreten durch die Michelsberger-Kultur. Die Michelsberger-Kultur heißt nach einem Fundort in der Nähe von Karlsruhe, ihr eigentlicher Ursprung liegt aber weiter westlich, nämlich im Pariser Becken. Und das ist vielleicht ein Grund, weshalb sich gerade ein französischer Archäologe eingehender mit dieser Kultur befasst hat – Christian Jeunesse von der Universität Straßburg. Er sagt zusammenfassend:

Die Michelsberger haben keine technische Neuerung hervorgebracht, aber sie haben einiges anders gemacht als bisher. Sie haben also keine Häuser gebaut (oder zumindest keine Häuser, die erkennbare Spuren hinterlassen hätten), es gibt auch keine Friedhöfe oder Häuptlingssitze. Stattdessen findet man bei ihnen etwas rätselhaft wirkende Anlagen aus Wällen und Gräben, oft mit ovalem Grundriss, die vermutlich kultischen Zwecken gedient haben. Dieses Anders-Sein der Michelsberger-Kultur zeigt sich nun aber auch in der Keramik. Dort, wo man nämlich bisher seinen thymos betonen wollte, das mächtige WIR zur Geltung bringen, da nimmt man sich sehr stark zurück. Und dort, wo man bisher zu einem Abschluss kommen wollte, das gibt man sich so weit und so offen wie nur möglich. Das Ergebnis sieht dann so aus:

Spätneolithikum

Und damit wären wir langsam reif fürs Spätneolithikum. (4200 – 2800 v. Chr.) Dazu begeben wir uns ein Stück weit nach Norden in jene Tiefebene, die sich von den Niederlanden bis weit nach Polen erstreckt. In diesem Gebiet erscheint die neolithische Revolution erst mit einiger Verspätung und das heißt, es gibt ein Gefälle. Ein Gefälle kultureller, aber auch sozialer Art. Mit anderen Worten, es gibt eine Differenzierung in eine Unterschicht und eine Oberschicht. Dass es sich tatsächlich so verhält, erschließen wir vor allem aus folgender Tatsache:

In dem genannten Gebiet entstehen zunächst riesige Grabhügel und später dann auch die bekannten Megalithbauten, die man im Volksmund auch als „Hünengräber“ bezeichnet. Man weiß von etwa zehntausend solcher Bauten, und dabei ist zumindest eines ziemlich klar: Solche Bauten können nicht von kleinen Siedlungsgemeinschaften errichtet worden sein. Dazu bedurfte es einer wesentlich größeren Anzahl von Menschen, und deren Arbeitseinsätze mussten ohne Zweifel über größere Einzugsgebiete hinweg straff organisiert werden. Ob das nun Häuptlinge waren, die hier die Befehle erteilten, oder eher Priester, das wissen wir nicht, aber dass diese Vertreter einer Oberschicht einigermaßen zwingend, um nicht zu sagen „keilförmig“ in die vorhandenen sozialen Strukturen eingegriffen haben, das dürfte einigermaßen feststehen.

Die ersten Aristokraten

Jetzt folgt zeitlich noch die Kupfersteinzeit (2600 – 2200) mit der Schnurkeramischen Kultur (2800– 2200) und der Glockenbecherkultur (2600 – 2200), aber die möchte ich überspringen und stattdessen noch kurz auf die frühe Bronzezeit (2300 – 1600/1500) eingehen.

Die Bronzezeit bedeutet nun wirklich einen wesentlichen technologischen Durchbruch. Und sie stellt entsprechend hohe Anforderungen an die Menschen. Man muss nicht nur Kupfererz finden und verhütten, sondern auch die nötigen zehn Prozent Zinn. Dazu gibt es Kontakte und Handelsverbindungen über unerhörte Distanzen, teilweise bis nach Spanien und in die Karpaten. Die dazu erforderlichen Kenntnisse und Fähigkeiten sind nicht jedem gegeben, und deshalb erkennen wir in der frühen Bronzezeit erstmals eine sich deutlich abgrenzende Elite aus Spezialisten.

Ein Kerngebiet der frühen Bronzezeit mit großer mitteleuropäischer Ausstrahlung ist die Aunjetitzer-Kultur, benannt nach einem Fundort in der Nähe von Prag, und in dieser Kultur sieht man, wie sich die gesellschaftliche Differenzierung auch räumlich bemerkbar macht. Das heißt, es gibt Siedlungen in der Ebene, wo „das Volk“ wohnt, und es gibt Siedlungen auf Bergeshöhen, wo sich die Elite verschanzt. Und wie sieht das nun aus in der Keramik?

In der Keramik haben wir zunächst einmal eine Basisstufe, die sehr weit und offen ist. Hier muss sozusagen alles widerspruchslos und ohne Einwendungen hingenommen werden. Und auf diese Basisstufe setzt sich nun eine Form, die deutlich konkav ist. Wichtig ist nun aber, wie das geschieht. Nämlich sehr, sehr brüsk und unvermittelt.

Denken wir an dieser Stelle an den Ausdruck „kurz angebunden sein“ oder an das Englische „to have a short way with s.o.“ Das hier, diese scharfe Kante ist wirklich „kurz angebunden“, und mit dieser Formulierung ändert sich auch die Aussage der aufsitzenden konkaven Form. Die besagt nun nämlich: Bitte kommt uns nicht zu nahe! Haltet gefälligst etwas mehr Abstand! Bei uns legt man Wert auf vornehme Zurückhaltung.

Mit anderen Worten: Diese Form vermittelt erstmals in der Geschichte das Grundmodul eines aristokratischen Bewusstseins. Und als solches begegnet es uns dann viele Jahrhunderte später in einer Kultur, die ohne jeden Zweifel eindeutig aristokratisch geprägt war, nämlich im achtzehnten Jahrhundert. Wenn wir etwa diese prächtige Sèvres-Vase von ihrem leicht geschwätzigen Dekor befreien, dann erscheint vor uns fast deckungsgleich eine Form, wie sie bereits in der frühen Bronzezeit verbindlich formuliert wurde.

Literatur (Auswahl)

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