Biologie des Farbensehens

Peter Peisl

Zur Biologie des Farbensehens

Der Autor, Dr. Peter Peisl (25. Dez. 1926 – 2. Juni 2015) war 1954 bis 1993 Biologielehrer am Freien Gymnasium Zürich.

Dieser Vortrag wurde am 30. August 2008 auf der Arbeitstagung »Farbensymbolik« bei der Schweizerischen Gesellschaft für Symbolforschung gehalten und für die online-Publikation überarbeitet. Bis zum Hinschied des Verfassers wurde er über 27’000 mal abgerufen.

Zur Seite Farbensymbolik hier

 

Farbwahrnehmung ist eine biologische Leistung: Was lohnt sich, darüber zu wissen?


Ich betrachte das Thema aus verschiedenen Perspektiven. Zuerst folge ich einer Schulstufenleiter.

 

A. Sekundarschule


Im Buch »Bau und Funktionen unseres Körpers« von Paul Walder, herausgegeben vom Lehrmittelverlag des Kantons Zürich (1979) ist zu lesen:

Die Sinnesorgane stellen die Verbindung zur Umwelt her. Sie wandeln Reize in Nervensignale um.

Wir unterscheiden Gesicht, Gehör, Geschmack, Tastsinn sowie Temperatur- und Gleichgewichtssinn.


Das Auge besteht aus zwei Teilen:

Optischer Teil: Cornea, Iris, Linse, Glaskörper

Nerventeil: In der Netzhaut wandeln die Sinneszellen (Stäbchen für das Hell-Dunkel-Sehen und Zapfen für  das Farbensehen) Lichtreize in Signale um.



Bild aus: Wolfgang Miram und Karl-Heinz Scharf, Biologie heute S II, Hannover: Schroedel 1998.

So weit das von Sekundarschülern erwartete Verständnis. Schon ordentlich anspruchsvoll: Neue Begriffe werden verwendet: Sinnesorgane, Reize, Sinneszellen, Signale.

Das Verstehen von Farbensehen erfordert analytisches Denken.

 

B. Gymnasium

Was ist der Auslöser unserer Seh-Erlebnisse? Die Aussenwelt: Licht als elektromagnetische Strahlung

 



Licht nennt man den Bereich des Spektrums, den wir mit unseren Sehorganen (Auge + Gehirn) wahrnehmen können. Goethe hat als Motto seiner Farbenlehre »Taten und Leiden des Lichts« gesetzt. Vorderhand betrachten wir nur das ›Leiden‹: Sobald Licht auf Materie trifft, wird es reflektiert, gebeugt, gebrochen, absorbiert, zur Interferenz gebracht. Das heisst, es wird ihm manches angetan. Schon in der Atmosphäre wird der kurzwellige Anteil gestreut; darum ist der unbedeckte Himmel bei Tag blau. Das alles bedeutet: Wir leben in einer reich strukturierten Mischung optischer Strukturen.
 

 

Intensitätsverteilung der Wellenlängen in der Sonnenstrahlung. Sonnenlicht ist ein Gemisch von Strahlen verschiedener Wellenlänge. Am häufigsten sind Wellen von etwa 550 nm Länge, die, allein für sich als grün empfunden werden. Gemische von Licht verschiedener Wellenlängen erzeugen eigene Farbeindrücke, z.B. ist Gelb ein additives Gemisch aus Rot und Grün.



Auf just  den Anteil der Strahlung sind unsere Augen empfindlich, der im Sonnenlicht in maximaler Menge enthalten ist. Es ist Angepasstheit an Gegebenheiten der Natur.

Kurzwelligere Strahlung (Ultraviolett) ist  zellschädigend; wir sehen sie nicht, weil wir sie mittels Linse und Cornea abschirmen. Verschiedene Insekten (z.B. die Honigbiene) verwenden dagegen UV auch für das Sehen. Es gibt triftige Gründe dafür, warum sie das tun und wir nicht. (Sie darzulegen  würde einen eigenen Vortrag erfordern.)

Es ist eigentlich etwas salopp, von rotem, blauem, grünen etc. Licht zu sprechen. Farben gibt es nur in unserer Erlebniswelt, nicht in der Natur. Schon Newton hat klargestellt, dass es kein farbiges Licht gibt, sondern nur Farberlebnisse, die durch Strahlen der betr. Lichtsorten hervorgerufen werden.

Der besondere Rang des Gesichtssinns


Er ist der differenzierteste Informationsvermittler und auch der distanzierteste.


Der Differenzierteste: Die Informationsmenge, die er pro Zeit- und Raumeinheit aufnimmt, ist enorm. Unsere Augen unterscheiden über 100'000 Farbnuancen. Hauptsächlich darum ist unser Hirn so gross.

Frage: Ist diese erstaunliche Fähigkeit biologisch, d.h. im Umgang mit unserer natürlichen Umwelt nützlich oder gar notwendig? Oder ist sie ein menschenfreundliches Geschenk der Natur, also ein uns zur Verfügung gestellter Luxus? Um uns ein Urteil zu bilden, müssen wir folgendes untersuchen:

(i) Ist die Aussenwelt tatsächlich spektral so fein abgestuft? Antwort: Ja. Die chemische Welt ist es; jede Substanz hat ihr eigenes Absorptionsspektrum, das oft kompliziert ist.

(ii) Muss denn unser Sehapparat mit dieser äusseren Vielfalt mithalten? Kann man erlebten Reichtum an Qualitäten mit der Darwinschen Selektionstheorie hinreichend rechtfertigen? Ginge es nicht vielleicht auch mit weniger? Oft schon: z.B. sind die meisten Leute mit den Produkten der 4-Farben-Drucktechnik zufrieden, obwohl sie messbar mangelhaft sind. Auch ›Farbenblinde‹ (8% der Männer, 0,4% der Frauen) leiden meist nicht bewusst unter dieser Behinderung.

 

 

Pseudoisochromatische Tafeln. Testtafeln zur Prüfung auf Farbtüchtigkeit: Jedes Bild besteht aus farbigen Flecken, jedes von mindestens zwei komplementären Testfarben. Kann sie der Proband unterscheiden, so erkennt er im Bild eine Zahl.

Ein Test auf Rot-Grün-Schwäche von Daniel Flück, eine Simulation eines Anomaloskops findet sich im Internet unter http://www.colblindor.com/rgb-anomaloscope-color-blindness-test/

(iii) Sind die Emotionen, die wir den bunten Erscheinungen der Umwelt verdanken, für unser persönliches Erleben und Empfinden unerlässlich? – oder vielleicht doch nur ›Luxus‹? Das möchte ich offen lassen


Der Distanzierteste:

(iv) Er liefert Information aus der Nähe bis zu den Weiten des Sternenhimmels. Er gestattet exakte Verortung entferntester Signalquellen. Er ist damit unserer ›intellektuellster‹ Sinn und damit der verlässlichste Diener der Wissenschaften.

(v) Dies ist er auch in manipulatorischer Hinsicht: Wir können nicht nur passiv sehen, was uns die Natur bietet, z.B. den Regenbogen, sondern auch Strahlungen jeglicher Wellenlänge und Stärke künstlich erzeugen. Wir setzen Pigmente und Farbstoffe zum Schreiben, Zeichnen, Malen, Fotografieren etc. ein.  Auf Bildschirmen erzeugen wir bunte und bewegte Bildwelten. Kurz: Wir leben grafisch in Saus und Braus, auch schöpferisch.

(vi) Überaus wichtig ist die exploratorische Funktion: Augen sind weit mehr als nur Sensoren für Strahlung wie z.B. die Fotoapparate. Sie sind ständig rastlos auf der Suche nach relevanten Strukturen im Gesichtsfeld, nach Feinden, Beute, Partnern. Unser Sehapparat ist ausgesprochen parteiisch: Er interessiert sich nur für Strukturen, die für ihre Träger von möglicher Bedeutung sein könnten, also in erster Linie für andere Lebewesen. Erstes Kennzeichen solcher sind deren Augen, weitere: geschlossene Gestalten, Farben, die aus dem Rahmen fallen, Kontraste, Bewegungen, Geschlechtsmerkmale.
Wir könnten nicht lesen ohne diese Fähigkeiten.

Sehen ist ein aktiver Prozess im Umgang mit der Aussenwelt.

 

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Ella Miller (Durham) kann diesen Artikel (aus dem Jahr 2009) zum Thema Farbenblindheit 2021 ergänzen:

FOUR TYPES OF RED/GREEN COLOR BLINDNESS

Deuteranomaly - Green looks more like red.

Protanomaly - Red looks more like green.

Protanopia & deuteranopia - Complete failure to distinguish between red and green

TWO TYPES OF BLUE-YELLOW COLOR BLINDNESS

Protanomaly - Difficulty distinguishing green and blue, yellow/red

Protanopia - Blue and green, purple and red, yellow and pink. The colors look less bright.

TWO TYPES OF COMPLETE COLOR BLINDNESS (ALSO CALLED MONOCHROMACY)

Rod Monochromacy - No detectable cone function. Rod monochromats only see shades of gray.

Cone Monochromacy – This is a situation where there is only one functioning type of cone. Cone monochromats can see in normal daylight but have trouble seeing hues.

Vgl. die Website > https://myeyebb.com/blogs/news/everything-you-need-to-know-about-color-blindness

 

C. Hochschule

(1)  Farbensystematik


Es gibt unzählige Farbensysteme. Hier sei nur auf die klar durchdachte und für die technische Farbwiedergabe äusserst nützliche Theorie von Harald Küppers hingewiesen. Doch unser Gehirn arbeitet nicht so einfach.

Der besonders unter Physikern verbreitete Glaubenssatz »Simplex sigillum veri« (Einfachheit ist das Kennzeichen des Wahren) mag dort und in der Mathematik Nutzen gestiftet haben. In der Biologie erweist er sich als notorisch unsicher, wenn nicht gar irreführend. Hier gilt eher der ironische Satz: »Alle Probleme haben eine einfache Lösung – und die ist mit Gewissheit falsch«.

(2)  Wie entstehen unsere Farberlebnisse?


Wir sehen unerhört nuancenreiche Szenen. Man könnte vermuten, für jeden Farbton sei eine speziell darauf ansprechende Sinneszelle zuständig. Vor 200 Jahren hat  Thomas Young (1773 – 1829) eine andere Vorstellung entwickelt, die, später von Hermann von Helmholtz (1821 – 1894) ausgebaut, zum Welterfolg wurde, die 3-Rezeptoren-Theorie.

 

Drei Rezeptortypen genügen, um die ganze Vielfalt von Farberlebnissen hervorzurufen: einer für Rot, ein zweiter für Grün, ein dritter für Blau. Zwischentöne entstehen durch Mischungen der drei Grundfarben in verschiedenen Verhältnissen.

Auch die Farbfotografie verwendet nur drei Farbstoffe.

Die Reduktion der Farbinformationen auf lediglich 3 Kanäle bedeutet einen meist erheblichen Informationsverlust gegenüber dem Original. Man mag das bedauern, doch diese brutale Vereinfachung kann man anderseits als eine geniale Einrichtung sehen: Sie bedeutet eine Reduktion von Komplexität. Würden wir Farbinformationen auf mehr als 3 Kanälen erheben und verarbeiten, so müssten unsere Gehirne viel grösser sein. Sie würden durch höheren Rechenaufwand langsamer arbeiten, d.h. sie könnten der primären Aufgabe des Sehapparates, nämlich das Erkennen von schnellen Veränderungen, nicht mehr genügen.

(3)  Harmonielehren


Es gibt eine umfangreiche Literatur über Farbenharmonien.


Schon Newton glaubte im Regenbogen 7 Farbzonen zu erkennen. Er glaubte an die Einheit der Natur: In der Musik gibt es 7 Töne bis zur nächsten Oktave, also müsse es auch 7 Grundfarben geben. Die siebente, «Indigo» ist eine Variante von Blau. Ein Beispiel für Harmoniesucht.

Bild: Newtons Farbenkreis

Farbenharmonik ist seit eh’ ein Lieblingsthema von Künstlern, Ästheten, Farbenlehrern, vielleicht auch von Symbolforschern.

(4)  Die Helmholtz – Hering – Kontroverse  

Nach Young und v. Helmholtz gibt es drei »Grundfarben« Rot, Grün und Blau, aus denen sich sämtliche unterscheidbaren Farbtöne ermischen lassen.

Farbbildschirme  bestehen an jedem Bildpunkt aus drei Lichtern in den Grundfarben R, G und B. Computer codieren die Farbtöne als RGB-Koordinaten. Im Programm »Photoshop« stehen für jeden Farbkanal 256 Stufen zur Verfügung; das gibt 256^3 = über 16,7 Millionen unterscheidbare Nuancen.

Ewald Hering (1834 –1918) liess sich davon nicht überzeugen und postulierte 1872 seine Gegenfarben-Theorie. Er unterscheidet vier bunte Primärfarben, nämlich Rot, Gelb (Y), Grün und Blauviolett. Je zwei davon sind Antagonisten: Gelb – Blau, Grün – Rot  Man bezeichnet, die Partner dieser Paare als zu einander komplementär; sie ergänzen sich additiv zu weiss. Es gibt keine Übergänge von Blau zu Gelb und von Cyan zu Rot.

Als weiteres Argument nannte Hering die Tatsache, dass Farbenblindheit nie einen einzelnen Farbton betraf, sondern immer jeweils beide Antagonisten eines Paares: Rot und Grün bzw. Gelb und Blau.

Wie ging der jahrzehntelang geführte, oft heftige Streit zu Ende? In beiderseitiger Enttäuschung. Schade, denn die Lösung hätte in Griffnähe gelegen: Beide hatten Recht!  Auf der Rezeptoren-Ebene Young-Helmholtz. In der Netzhaut sind jedoch die Neuronen-Verbindungen so geschaltet, dass die primären Nervenimpulse gegeneinander im Sinne von Hering verrechnet werden. Ins Gehirn gelangt die Information in Hering’scher Notation. (Das ist nicht ein Friedensschluss aus Ermüdung der Kämpfer, sondern bestens erwiesen.)

Die Umrechnung von Helmholtz-Daten in den Hering-Code ist unausweichlich aus folgendem Grund: Ein Farberlebnis benötigt eine Referenzgrösse, und die ist notwendigerweise unbunt. Wenn die drei Zapfentypen  R + G + B  gleich stark erregt sind – das sind sie bei vollem Licht – interpretiert es das Hirn als Weiss. Farbigkeit entsteht also nicht durch einen zusätzlichen Reiz, sondern durch das Wegbleiben eines bisherigen. Fällt einer der drei Rezeptoren aus, dann entsteht der Eindruck der Mischfarbe aus den beiden verbliebenen, also, wenn im genannten Beispiel Blau fehlt, dann verbleiben R + G, das ist zusammen (additiv) Gelb. Gelb ist komplementär zu Blau. Fehlt Grün, so bleibt R + B, d.h. Magenta, fehlt  R, so bleibt G + B das ist Cyan.

Küppers’ Farbensechseck: Diagonal gegenüber sind Farben, die sich, additiv gemischt, zu Weiss ergänzen. Man nennt sie ›komplementär‹. Beispiel: Gelb (oben) + Blau (unten). Benachbarte Farben ergeben Mischtöne: z.B. Rot + Grün = Gelb.

(5)   Psychologie

Früher hat man angenommen, die bewusst erlebten Farbtöne seien aus den Erregungen der drei Zapfentypen eindeutig bestimmt.  Doch die Meinung, die Welt sei so, wie wir sie bildhaft erleben, erweist sich als naiv. Unser Hirn ist raffinierter als wir annehmen. Es arbeitet für einen Herrn, dem es weniger auf Wahrheit ankommt als auf Erfolg. Unser Bewusstsein akzeptiert nur Siegesmeldungen. Dazu seien ein paar einschlägige Effekte vorgestellt:

(a) Sukzedaner Farbkontrast (Nachbild-Effekte)

Er tritt als Folge von Ermüdung von Rezeptoren auf: Bei Dauerbelichtung werden die lichtempfindlichen Sehpurpur-Farbstoffe (Opsine) ausgebleicht. Wendet man sich dann vom betrachteten Objekt ab, so erscheint es für kurze Zeit als Nachbild in schwach komplementärer Tönung.

(b) Simultane Farbkontraste, Nachbarschaftseffekte

 


    
Hering hatte erkannt, »dass das Auge hell und dunkel wiedergibt, indem es die Lichtintensität benachbarter Regionen vergleicht« (Ings S. 298).

(c) Farbige Schatten

Otto v.Guericke hatte sie 1672 beschrieben, später auch Goethe.

Farbschatten entstehen, wenn zwei Lichtquellen verschiedener Tönung einen Gegenstand beleuchten, z.B. blauer Himmel und untergehende Sonne. Die Tasse in diesem Bild erhält von der Fensterseite (links) und von Glühlampen (rechts) Licht. Die Schatten sind blau und braun. Das unbeschattete Tischtuch sehen wir in jedem Fall weiss (Farbkonstanz). – Originalbild des Verfasser.

 

Computersimulation von Farbschatten: Die Farbtöne werden alle so umgerechnet, dass das Tischtuch weiss erscheint. Dadurch werden die Schatten als bunter empfunden. – Originalbild des Verfasser.

Braun kommt im Regenbogen nicht vor, sondern nur in hellerer Umgebung. Eigentlich ist es ein dunkles Gelb, das wir aber als eigene Farbqualität empfinden (im Bild verstärkt). – Originalbild des Verfasser.

(d) Kontextualität:

Braun und Oliv fehlen im Regenbogen. Als dritte Dimension in seinem Farbensystem nannte Hering die unbunten Töne Weiss und Schwarz, die in Gemischen die Grau-Werte ergeben. »Es war ein Geniestreich, Weiss und Schwarz in die Reihe der Primärfarben aufzunehmen. Indem Hering Licht und Schatten in die Diskussion einschloss, konnte er erklären, warum wir Erdfarben (braun und oliv) sehen. Das Auge liefert keine absoluten Werte für Helligkeit der Dinge in einer bestimmten Szene. Absolute Lichtwerte sind fast bedeutungslos.« (Ings)

(e) Konstanzphänomene: Das lernfähige Sehzentrum

 

Farb-Form-Assoziation: Bewegt man den Blick viele Minuten lang über das Farbbild links und blickt dann auf das farblose Muster rechts, so kann man schwach erkennen, dass das Herz rötlich, die Umgebung grünlich getönt erscheint, also komplementär zu den Stellungen der diagonalen Streifen im linken Bild. Der Lerneffekt kann, längere Zeit eingeübt, tagelang anhalten.

(f) Farbton-Assimilation

(g) Konturverstärkung

 

Konturverstärkung: Das Bild besteht aus dreierlei Grau: Der Hintergrund und die Innenflächen der Quadrate ein mittleres, die Konturen aus einem hellgrauen und einem dunkelgrauen Quadrat. Ist letzteres aussen, so erscheint die Innenfläche heller, ist es innen, dunkler. Darum sieht man beim Lesen von schwarzer Schrift auf hellem Grund schärfer als bei weisser auf schwarzem Grund. – Originalbild des Verfasser.

(h) Das LAND-Phänomen und die Retinex-Theorie von Edwin H. Land (1909 – 1991)


Land erforschte systematisch die von den Nachbarschaften hervorgerufenen Farbeffekte und formulierte mit mathematischen Mitteln eine allgemeine Theorie des Farbensehens. »Jede Farbe wird in Beziehung zu jeder anderen wahrgenommen. … Die Farben erhalten dadurch eine bemerkenswerte Beständigkeit« (Ings). Die Resultate seiner auf Kontextualitäten beruhenden Experimente sind phantastisch: So konnte er »unter Verwendung zweier gelber Lichter, deren Wellenlängen nur 20 Nanometer auseinander lagen, Vollfarbenbilder erzeugen«. (Ings)

(6) Farbempfindungen ohne Lichteinwirkung

Farberlebnisse können aus Erregungszuständen des Gehirns resultieren ohne aktuelle Beteiligung der Augen:

(a) Bunte Träume. Kürzlich sah ich im Traum eine Neon-Leuchtschrift, in ihrem typischen Rot. Das zeigt, was wir längst wissen, dass das Gedächtnis an unseren Erlebnissen Anteil hat. Verweis auf die Konstanz-Phänomene.

(b) Halluzinationen

(c) Phosphene: Man sieht Lichterscheinungen bei geschlossenen Augen. Sie können von der Netzhaut ausgehen, bei mechanischer Einwirkung oder Überlastung. Ausgelöst werden können sie auch durch Magnetfelder oder hirnintern bei Migräne (Flimmer-Skotom).

(d) Synästhesie. Die betrofffenen Personen sehen z.B. Ziffern oder hören Töne verbunden mit einem je eigenen Farbeindruck.

Ein mir befreundeter Synästhetiker (Arzt, Forscher, Dr. Felix Angst), von dem ich Näheres über seine Farben-Erlebnisse beim Erblicken von Zahlen erfahren wollte, antwortete mir schriftlich auf meine Fragen folgendes:

1. Die Farben sind je nach Wichtigkeit der Zahl eher schwach/flau oder satt/scharf (bei bedeutungsvoller Zahl). Ich kann die Schärfe auch bewusst steuern, z.B. wenn ich aus einer Liste/Datenbank gewisse Ziffern heraussuchen muss.

2. Die Helligkeit hingegen ist ganz klar und scharf, sicher deutlicher als die Farbe selber.

3. Seit ich denken kann, hat jede Ziffer ihre eigene konstante Farbe: 0: durchsichtig/glasig, 1: weiss, 2: hellblau, 3: feuerrot, 4: gelb, 5: hellgrün, 6: dunkelgrün, 7: grau, 8: schwarz, 9: dunkelviolett

Diese Erlebnisse treten bei voll wachem Zustand auf. Vermutlich sind diese Fähigkeiten erlernt, d.h. sie stellen Fälle von Konditionierung dar.

Anmerkung: ›Echte‹ und computermanipulierte Bilder:


Ich habe drei Freunde – Biologen,  hervorragende Naturbeobachter – gedrängt, ihre Fotos auf dem Computer nachzubearbeiten. Doch sie mögen nicht;  sie sträuben sich dagegen, zu ›lügen‹. Wenn ich daran denke, wie sehr unsere Gehirne alles bedenkenlos ›fälschen‹, was ihnen die Netzhaut an Informationen liefert, wie sie für sie Relevantes hervorheben und Bedeutungsloses ignorieren, so meine ich, meine Freunde sollten ihre Bedenken zurückstellen und punkto Bild-Nachbearbeitung bei ihrem eigenen Hirn in die Lehre gehen. Dieses manipuliert die von der Netzhaut eingehenden Informationen schamlos.

(7) Warum gibt es so viele verschiedene Farbenlehren?


(a) Gewiss, weil Farberlebnisse so schön und anregend sind.

(b) Ebenso, weil es viele Berufsästheten (Professoren, Kunstmaler, Lehrer, Gestalter etc.) gibt, die es als Ehrensache ansehen, ein eigenes System als das einzig wahre, erkannt zu haben und darüber zu dozieren. (Goethe als Beispiel).

(c) Der Hauptgrund liegt wohl darin, dass sich unser Bewusstsein nicht in ein allgemein verbindliches logisches Schema pressen lässt und opportunistisch und gedächtnisgesteuert arbeitet.

Unser komplexes Hirn ist daran schuld, dass es keine allgemein anerkannte und verbindliche Farbentheorie gibt.

Farbensehen beruht auf komplexer Systemlogik.

 

D. Neurologische Forschung  

 

(1) Die drei sehr ungleichen Zapfensorten und ihre Zuordnung zu Farbempfindungen


(a) Nur etwa 2% der Zapfen sind blau-empfindlich.

(b) Rot-Erlebnisse sind nicht kongruent mit Empfindlichkeit der Rot-Zapfen. Rotempfindung ist sehr verstärkt. Rot hat auf uns (sofern wir intakte Rotrezeptoren haben), die grösste Farbigkeitswirkung, wie das folgende Bild zeigt.


(c) Grün-Vielfalt: Theorie: Rolle des Rot als Modulator von Grün-Nuancen. Koloristische Dehnung des Grünbereichs – Originalbild des Verfasser.

(2) Die Dynamik des Sehprozesses

Der Sehapparat ist von schneller Dynamik. Farberlebnisse werden zu Unrecht als etwas Statisches, Bleibendes, beschrieben. Doch jeder Farbeindruck wird innerhalb eines Bruchteils einer Sekunde gelöscht und an anderer Netzhautstelle wieder neu erzeugt. Nur so ist es uns möglich, Veränderungen zu erkennen.

Mikrosakkaden mehrmals pro Sekunde, dazu Drift (langsames Abgleiten des Bildes) und Tremor (± 50 Hz) zur Feinkorrektur.

»Augen sind dazu da, Bewegung zu entdecken. Jedes Bild, das auf der Netzhaut vollkommen stabilisiert wird, verschwindet. Unsere Augen können keine stationären Objekte wahrnehmen und müssen deshalb ständig zucken, um sie zu sehen.« (Ings S. 65)

Erst sekundär entstand unsere Fähigkeit, ruhende Bilder wahrzunehmen. Gerhard Roth schreibt über den »grossen Aufwand, den unser Gehirn treiben muss, um eine stabile visuelle Umwelt zu konstruieren«.

(3) Phylogenese des Farbensehens

Darüber liegt ein grosses Gut an Forschungsresultaten mit verschiedensten Wirbeltieren vor. Das 9. Kapitel »Unsichtbare Farben« im Buch von Simon Ings (Seiten 314 – 337) gibt hervorragende Einblicke in Evolutionsprozesse, nicht einfach, aber äusserst lohnend zu lesen. Daraus das folgende Zitat:

»Beuteltiere entwickelten sich zur Besetzung von Tageslicht-Nischen, daher sind sie seit mehr als 240 Millionen Jahren zu verlässlichem Dreifarbensehen in der Lage, während die Evolution die Plazentatiere zur Inbesitznahme nächtlicher Nischen befähigte. Menschen sind die Nachkommen von Nachttieren; unsere ausgezeichnete Nachtsicht ist eine Folge unserer Evolutionsperiode in der Dunkelheit. Eine andere Folge ist unser relativ schwaches und fehlerhaftes Farbensehen.«

Nichts in der Biologie macht Sinn ausser im Licht der Evolution (Dobzhansky).

 

E. Philosophie


Wie objektiv sind unsere Farberlebnisse? Wie adaequat der Naturwirklichkeit? Wie verlässlich? Das Studium unseres Sehapparates lässt uns zweifeln:

Gerhard Roth urteilt, bei unseren visuellen Erlebnissen handle es sich »um Konstrukte, die keine direkte Abbilder der Welt sind«. Alles was wir als Sinneserlebnisse erfahren, sei »Produkt von Berechnungen in neuronalen Netzwerken«. Zwischen dem gemessenen Reiz und unseren Wahrnehmungsinhalten herrsche »keine anschauliche Ähnlichkeit«.

Radikale Konstruktivisten (Solipsisten) gehen noch einen Schritt weiter und meinen, das subjektive Ich mit seinem Bewusstseinsinhalt sei das einzige Seiende.  »Für die idealistischen Philosophen gibt es nämlich gar kein ›aussen‹…» (G. Roth, S. 203/4).

Ich bin kein Philosoph und nehme auf eigene Rechnung und Gefahr an, dass es die Aussenwelt gibt und es sie schon lange vor meiner Geburt gegeben hat, und dass unser Bewusstsein dieser Wirklichkeit nicht allzu fremd sein darf, sonst hätten wir nicht überlebt. Dafür spricht auch,

… dass das Zusammenspiel von ›Welt‹ und ›Geist‹ funktioniert, nicht immer perfekt zwar, aber doch leidlich;

… dass Anpassung stattfindet;

… dass Neues assimiliert wird, mit anderen Worten, dass Veränderungen stattfinden und

… dass Kommunikation stattfindet.

Wenn Konstruktivisten daran zweifeln, so nehme ich das gelassen, haben sie doch die Erfahrung der Biosphäre von Jahrmilliarden gegen sich.

 

Meine wichtigsten Quellen:

  • Harald Küppers, Das Grundgesetz der Farbenlehre, Köln: DuMont 1978; 10., überarbeitete Auflage 2004.
  • Gerhard Roth, Aus der Sicht des Gehirns, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2003; Vollst. überarb. Neuauflage Frankfurt am Main: Suhrkamp 2009.
  • Simon Ings, Das Auge, Meisterstück der Evolution, Hamburg: Hoffmann und Campe 2008. (The eye. A natural history, 2007)
  • Albrecht Schöne, Goethes Farben-Theologie, München: Beck 1987.
  • Die nicht im einzelnen nachgewiesenen Bilder stammen aus dem WWWeb (public domain).