Demontage und Dementi – Entzauberung der WunderwesenDie gültige (und einzig zitierbare) Version befindet sich im Buch »Spinnenfuß & Krötenbauch. Genese und Symbolik von Kompositwesen« Max: Die alten Fabelwesen sind nicht mehr,
Kompositwesen haben oft eine obsessive Gewalt. Da mag man nicht, man will sie irgendiwe wegschaffen. Auch aus anderen Motiven heraus ist der Realitätsgehalt von Mischwesen immer wieder in Zweifel gezogen worden, und so sind sie ›entsorgt‹ oder in andere Bereiche abgedrängt worden. Man hat sich das indessen nicht als einen geschichtlichen ›Gänsemarsch‹ vorzustellen, als Abfolge einer Epoche der mythischen Einheit – dann einer Epoche der aufklärerischen Kritik (»Entzauberung« mit dem Wort von Max Weber) – und zuletzt einer Epoche, in der reale Wesen und ›Fabelwesen‹ säuberlich getrennt neben einander im Bewusstsein wären. (Eine solches Auseinander-Hervorgehen von Bewusstseinsformen hatte Ernst Cassirer in seinen »Philosophie der Symbolischen Formen« vorgeschlagen.) Wir fokussieren hier auf die Anlässe und Techniken (Argumentationsmuster) der Demontage. Zuerst werden wir chronologisch eine Reihe von Fällen vorführen und dann die Motive und Argumente zusammenstellen. Was essen Kentauren?In den »Unglaublichen Geschichten« versucht Palaiphatos (4. Jahrhundert vor u.Z.) die mythologischen Erzählungen als unsinnig zu entlarven, indem er sie teilweise als entstellte historische Begebenheiten hinstellt (sog. Euhemerismus), teilweise aufzeigt, dass sie real unmöglich sind. Über die Kentauren sagt man, dass sie ... insgesamt die Erscheinung eines Pferdes hatten, bis auf den Kopf, diesen hatten sie von einem Mann. Das ist unmöglich. Weder nämlich sind die Natur von Pferd und Mensch miteinander vereinbar, noch ist die Nahrung die gleiche, noch ist es möglich, dass durch einen menschlichen Mund die Nahrung für ein Pferd aufgenommen wird. Palaiphatos sagt dann, wie es sich wirklich verhalten habe. Es handelt sich um die Erfinder der Reitkunst, bei denen für Leute, die sie aus der Ferne sahen, nur der Pferderücken und der Oberkörper der Reiter sichtbar waren. Text: Kai Brodersen, Die Wahrheit über die griechischen Mythen: Palaiphatos, Unglaubliche Geschichten, griechisch/deutsch, Stuttgart 2002 (Reclams Universal-Bibliothek, Band 18200); Kapitel 1.
Schwangerschaften von Tier und MenschAristoteles (384–322) hat einen Traktat über die Zeugung der Tiere (lat. »de generatione animalium«) geschrieben, in dem er auch auf Kompositwesen zu sprechen kommt. Er hält Mischungen aus verschiedenen Arten für unmöglich, weil verschiedene Arten verschiedene Tragzeiten haben. Erzählungen von Kindern mit einem Schafskopf und dergl. hält er für eine façon de parler, die auf einer physiognomischen Ähnlichkeit beruht. Albertus Magnus (um 1200–1280) kennt die Schift des Aristoteles über arabische Vermittlung in einer lateinischen Übersetzung; in seiner Schrift »De animalibus« (Über die Tiere) übernimmt er des Aristoteles’ Meinung. Er formuliert:
Titus Lucretius Carus (ca. 97 – ca. 55) argumentiert in seinem gegen den primitiven Götterglauben gerichteten Lehrgedicht »de rerum natura« (Über das Wesen der Dinge) folgendermaßen: Kentauren hat es nie und nirgend gegeben. Denn niemals können aus Doppelnaturen und doppeltem Körper sich Wesen bilden, zumal wenn sie Gliedern von fremder Gattung entstammen, deren Kräfte doch ungleich sind bei dem zwiefachen Ursprung. Selbst ein stumpfer Verstand kann dies nach dem Folgenden einsehn. Erstlich wird ein rüstiges Pferd nach drei Jahren erwachsen: nicht also das Kind; denn oftmals wird es auch dann noch schlafend die Mutterbrust, die Milch ihm spenden soll, suchen. Sodann, wenn mit nahendem Alter dem Ross die volle Kraft versagt und ihm längst schon die Glieder erschlafft sind, da erst beginnt der Knabe die blühende Jugend des Lebens, und mit wolligem Flaum umkleidet sich männlich die Wange. – Glaube drum nicht, es könnten aus tierischem Samen von Pferden und aus Menschen Kentauren entstehen und weiter so leben.
Auch Konrad von Megenberg († 1374) argumentiert physiologisch und zeigt damit ebenfalls, dass es auch im Mittelalter Zweifel an der Existenz von Kompositwesen gab:
Die Wunder Indiens Der griechische Geschichtsschreiber Strabon (etwa 63 v.Chr. bis nach 23 n.Chr.), der durch Ägypten bis Äthiopien sowie Libyen und Kleinasien gereist war, zweifelt in seiner »Geographie« (II. i, 9) an gewissen Geschichten, ohne dies eigens zu begründen:
OvidOvid (43 vor bis ca. 17 nach Chr.) verfasst an seinem Verbannungsort Tomis am Schwarzen Meer ungefähr in den Jahren 8 bis 12 n. Chr. Klage-Briefe in elegischen Reimpaaren, die »Tristia«. In einem der Briefe fragt er einen Freund in Rom, warum er so lange keinen Brief von ihm bekommen habe; er hoffe, dass jener ihm nicht die Freundschaft aufgekündigt habe, sondern dass nur die Briefe nicht angekommen seien. Ovid sagt, er glaube eher, dass es in Wirklichkeit Monstra gebe, als dass ihm der Freund die Liebe entziehe. (Er variiert also das rhetorische Adynaton, die Umschreibung des Begriffs ›niemals‹ durch eine Natur-Unmöglichkeit wie z.B. ›Eher weiden die Hirsche im Äther, … ehe aus unserem Herzen sein [des Gottkönigs] Antlitz schwindet‹, dies sagt der Flüchtling bei Vergil, Bucolica I,59ff.)
Es darf also diese Wesen gerade nicht geben, sonst müsste Ovid ja an der Liebe seines Freundes zweifeln. Gleichwohl beschleicht einen der Verdacht, dass Ovid mit der Wahl dieser Wesen nicht nur einen witzigen rhetorischen Einfall lanciert (er hätte ja auch sagen können: ›eher fließen die Bäche rückwärts, als dass …‹), sondern mit diesem Panoptikum von Scheusalen evozieren möchte, er fühle sich an seinem Ort im Exil von solchem Gelichter umgeben. Die Karkinocheiren und die TritonomendetenDer große Spötter Lukian von Samosata (um 120 bis nach 180) beschreibt in seinen »Wahren Geschichten« ›voyage imaginaire‹, die sich durch die abstrusen Übertreibungen ständig selbst als Lügengeschichte entlarvt. Der Erzähler reist zum Mond und trifft dort merkwürdige Wesen an; auf die Milch- und Käseinsel, zu den Inseln der Seligen und den Verdammten (wo die größten Lügner der Geschichtsschreibung, Ktesias, Herodot, Strafen zu erdulden haben). Einmal wird er mit seinen Gefährten auf den Schiff von einem riesigen Walfisch verschluckt. Im Bauch des Wals befindet sich eine ganze Landschaft mit Inseln, auf denen weitere Wesen wohnen:
Man sage nicht, diese Verspottungen der wunderbaren Reiseberichte seien Produkte einer Spätzeit; werden gleichzeitig mit diesen verfasst und goutiert. 1603 erscheint eine deutsche Übersetzung von Lukians Text in einem Sammelband von mehreren Lügengeschichten des Gabriel Rollenhagen (1583 – um 1621): »Vier Bücher Wunderbarlicher biß daher unerhörter, und unglaublicher Indianischer reysen, durch Lufft, Wasser, Land &c. «. (Rollenhagen hat übrigens Lukian selbst aus dem Griechischen übersetzt (und gekürzt). In der Dedikation schreibt er, dass sein Vater Georg Rollenhagen – der Verfasser des »Froschmeuseler« – ihm in seiner Jugend zur Übung der Griechischen und Teutschen Sprach diese Wunder-Bücher in unser gewöhnliches Teutsch zu übersetzen befohlen.) Auch hier leben im Walfischbauch die Tritonomenditen/ die mit dem Oberkörper der Menschen ehnlich/ unten aber niederwerts den Katzen gleich seyn; Ochsenköpffigte Bucephali, ein wild Volck mit Hörnern; Frauen, die keine Menschen-Beine/ sondern Esels-Füsse haben.
Wie der heilige Christophorus zu einem Hundekopf kam – Legende einer Legende
Es gibt verschiedene, teils eher merkwürdige Erklärungsversuche dieser Gestalt. Man hat ihn auf den ägyptischen Anubis zurückgeführt (was immer das zu erklären mag) oder vermutet, der wirkliche Heilige habe an Hypertrichose gelitten – damit wird deutlich, dass er keine literarische Erfingung ist, sondern, dass es ihn wirklich gab. Es gibt Gelehrte, die behaupten, die Urfassung komme aus dem Osten (in den koptisch-äthiopischen Bartholomäusakten, 4./5.Jh) und berichte von einem Kynokephalen; sie sehen in der Hundsköpfigkeit des Tiers den Sitz numinoser Kräfte. Andere Wissenschaftler behaupten, die (griechisch sprechenden) Übersetzer der lateinischen Legende in der Ostkirche hätten die Herkunftsbezeichnung cananaeus missverstanden als canineus = ›hundeähnlich‹ und so aus einem kommunen Heiligen einen Hundeköpfigen gemacht. Wir hätten hier den Fall, dass ein Übersetzungs-Missverständnis ein Kompositwesen entstehen lässt. – Missverständnisse beruhen auf zwei Faktoren: (a) das entsprechende Wort wird nicht erkannt, und (b) der Missverstehende hat ein Konzept im Hinterkopf, das sich vordrängt. Die Übersetzer wären dann (a) in der biblischen Geschichte nicht ganz sattelfest gewesen und hätten (b) aus Kenntnis antiker Quellen eine Vorstellung von Kynokephalen gehabt; mindestens die Zeichner, sonst hätte Christopherus ja vielleicht ein Hundefell oder einen Hundeschwanz und ginge auf allen Vieren.
Die Chimarea als Pardebeispiel für etwas, das es nicht gibtDie griechische Mythologie kennt die Chimaira als bedrohliches Ungeheuer aus dieser Geschichte: Bellerophon lebt als Flüchtling bei König Proitos. Dessen Gemahlin verliebt sich in ihn; weil Bellerophon sich verweigert, schwärzt sie ihn bei ihrem Mann an. Proitus glaubt ihr, möchte indessen die Pflichten des Gastgebers nicht verletzen. Und so schickt er Bellerophon zu seinem Schwiegervater Iobates und gibt ihm einen Brief mit, in dem steht, dieser möge den Übersender umbringen. Auch Iobates will das Gastrecht nicht verletzen und heisst ihn die Chimaira zu töten: Vorn ein Löwe, hinten eine Schlange, in der Mitte Ziege (Homer, Ilias, VI, 179). Honorius Augustodunensis († etwa 1151) entwickelt in seiner »Scala Coeli major« eine Theorie der Erkenntnis über Stufen, die zurück zum paradiesischen Wissenstand führt. Er unterscheidet drei Abteilungen: ordo corporalis, spiritualis, intellectualis. Die zweite umfasst 12 Stufen (gradus): auf der ersten erinnert man sich an etwas seinerzeit als körperlich Erfahrenes; […] die dritte beinhaltet die Idee von etwas, das wir zwar nicht kennen, von dessen Existenz wir aber überzeugt sind, zum Beispiel Einhörner oder Greifen (!); die vierte Stufe besteht darin, dass wir uns nach Belieben Wesen vorstellen, die es nicht gibt, zum Beispiel die Chimäre (quartus, cum es quae non sunt, vel esse nesciuntur, pro arbitrio imagimamur, ut chimeram bestiam). Usw. ›Chimäre‹ scheint der gängige Begriff für das, was es nicht gibt, geworden zu sein – wobei die Vorstellung des antiken mythischen Wesen noch mitschwingt. Im »Vocabularius ex quo«, einem um 1410 entstandenen Wörterbuch, heisst es unter dem Stichwort Chimera: dicitur ficcio alicuius, quod tamen in rei veritate nihil est; sie wird so beschrieben: Parte leo prima, media capra, angwis in ima; in einer anderen Handschrift heisst es: est compositum, quod incomponibile est componi, iedeo nihil est, nihil potest esse. John Locke (1632–1704) sinniert in seinem »Essay Concerning Humane Understanding« (1690) über die Realität des Wissens. In Buch IV, Kapitel iv begegnet er dem Einwand gegen seine Auffassung, das Wissen bestehe in der Wahrnehmung der Übereinstimmung unserer Ideen. Wer wisse denn, was Ideen eigentlich sind? "Is there anything so extravagant as the imaginations of men’s brains? Where is the head that has no chimeras in it?" (§ 1) Die Chimäre feiert heutzutage fröhliche Urständ, ganz realistisch als Kombination von genetischem Material verschiedener Arten – vorläufig noch im Experiment. Sicherheitshalber formuliert das Bundesgesetz über die medizinisch unterstützte Fortpflanzung (der Schweizerischen Eidgenossenschaft) vom 18. Dezember 1998, Art. 36, Absatz 1:
Die Sirenen des Odysseus als Leidenschaften gedeutetHerrad von [Landsberg, Äbtissin von] Hohenburg, († ca. 1196) schreibt in ihrer Enzyklopädie »Hortus deliciarum« über die Szene, wo Odysseus bei den Sirenen vorbeischifft (HOMER, Odyssee, XII, 39ff., 158ff.; OVID, Metamorphosen V, 551ff.)
Literaturhinweise: Hugo Rahner, Griechische Mythen in christlicher Deutung, Zürich 1945, 3.Aufl. 1966. — Siegfried de Rachewiltz, De sirenibus. An inquiry into sirens from Homer to Shakespeare, New York: Garland, 1987 (Harvard dissertations in comparative literature) — Sabine Wedner, Tradition und Wandel im allegorischen Verständnis des Sirenenmythos. Ein Beitrag zur Rezeptionsgeschichte Homers, Frankfurt am Main / Bern: Lang 1994 (Studien zur klassischen Philologie 86) — Bernd Roling, Drachen und Sirenen. Die Rationalisierung und Abwicklung der Mythologie an den europäischen Universitäten, Leiden: Brill 2010 (Mittellateinische Studien und Texte 42), S. 17–288. Die BernickelgansVon der Bernickelgans einer in Grönland brütenden Gänseart, einem Zugvogel, der in Grönland brütet und sich im Winter in Nordeuropa aufhält, wurde angenommen, dass sie aus Früchten entstehe, die von Bäumen abfallen. – Es liegt ein Verwechselung mit einem Krebs (Pollicipes pollicipes) vor, der eine Ei-förmige Form hat und oft auf Treibholz gefunden wird. Nach der Meinung des Giraldus Cambrensis (1146–1223) ist an dieser wunderbaren Fortpflanzung nicht zu zweifeln: Wenn Gott den Menschen aus Lehm gemacht habe und die Bienen aus der Honigwaben entstünden, warum sollen dann nicht Gänse auf Bäumen wachsen? (Topographia Hibernica, Distinctio I, Cap.xv) Konrad von Megenberg († 1374) sagt in seinem »Buch der Natur«: IIIB, 11:
• Schon früh wurde aber an dieser seltsamen Fortpflanzungsart gezweifelt. Albertus Magnus († 1280) schreibt in seinem Tierbuch, es sei gelogen, wenn Leute behaupteten, dass dieser (in der Volkssprache boumgans) genennte Vogel auf Bäumen entstehe oder aus faulem im Meer treibenden Holz. Das sei unvernünftig, denn er und Ordensgenossen von ihm hätten diese sich paaren, Eier legen und Junge hecken gesehen: Et hoc omnino absurdum est quia ego et multi mecum des sociis, vidimus eas et coire et ovare et pullos nutrire (De animalibus XXIII,31, § 19, ed. H. Stadler, 1921, Bd. 2, S.1446). Conrad Gessner (1516–1565) entfaltet auch hierzu seine belesenheit in »de Auium natura« (1555); deutsche Übersetzung von Ruodolff Heüßlin: »Vogelbuoch Darinn die art/ natur vnd eigenschafft aller vœglen/ sampt jrer waren Contrafactur/ angezeigt wirt …« (1557). Gessner zitiert ausführlich, was William Turner (gest. 1568) in seinem Werk »Avium praecipuarum, quarum apud Plinium et Aristotelem mentio est, brevis et succincta historia« (Köln 1544) über den Vogel Barnacle berichtet; Turner glaubt die Entstehung aus den Baum. Sodann erwähnt Gessner die Berichte von Oluas Magnus, Sebastian Münster, Enea Silvio (wo?) und Bartholomeus Anglicus. Dann aber: Albertus [Magnus] sagt/ diß sey nit war: dann er vnd andrere mit jm habind offt dise vögel gesehen auff einanderen sitzen/ eyer legen/ die außbrüten vnd die jungen erziehen. Gessner entscheidet sich (mindestens in der deutschen Fassung) nicht. > http://www.e-rara.ch/zuz/content/pageview/1302512 • Aber die Vorstellung vom seltsamen Wandel von einer Pflanze zum Tier hält sich hartnäckig: Sebastian Münster, »Cosmographey« hier nach der Ausgabe Basel 1588: 2. Buch, Cap. xiiij. (pag. LV):
In seinem Tagebuch schreibt Thomas Platter d.J. (1574–1628) zum 25. September 1599:
Eberhard Werner Happel (1647–1690) listet 1685 die Reihe der Tradenten säuberlich auf (er zitiert 15, die für Glaubwürdigkeit plädieren und drei Zweifler). Er kann sich nicht entscheiden, für beide Ansichten gibt es Argumente: Der curieuse Leser hat nun die Wahl/ welcher Meynung er Beyfall geben will. (»Grösseste Denkcwürdigkeiten der Welt …« Anderer Theil, Hamburg 1685, S. 8–10). Phantasievolle IllustratorenCondrad Gessner (1516–1565) ist in seinern Büchern über die Tiere darauf bedacht, empirische abgestützte Befunde zu beschreiben. Im Fischbuch (Historia Animalium IIII, qui est de Piscium & Aquatilium animantium natura, Zürich 1558) bringt er auch einige Monstra, an denen er aber Kritik übt. Ein Beispiel: De monstro leonino (S.558):
Gessner bezieht sich auf den in Rom praktizierenden Arzt Gisbertus Horstius (1492–1556), den er als sehr vertrauenswürdig einschätzt und der ihm versichert habe, ein solches Tier gesehen zu haben, das im Mittelmeer gefangen wurde; die Beschreibung passt auf einen (verirrten?) Seehund. Ouy-dire erzähltDas postum 1564 erschienene 5.Buch »Le cinquiesme et dernier livre des faicts et dicts héroïques du bon Pantagruel« wohl eines Nachahmers von François Rabelais (* ca. 1494 – 1553) enthält Kap. 30–31 folgende Szene: ein altes kleines buckliges Männlein ganz misgeschaffen und ungestalt, mit Namen Hörensagen (Ouy-dire): sein Maul war ihm bis an die Ohren gespalten: im Maule sieben Zungen, jede wieder in sieben Stücken zerschlitzt; demohnerachtet führt’ er aber zugleich mit allen sieben in verschiedenen Sprachen vielerley verschiedne Reden; auch im Kopf und sonst am Leib umher hätt er so viele Ohren als Argus weiland Augen; übrigens war er stockblind und an den Beinen vom Schlag gelähmt. Ihn umstand eine unzählige Meng Männer und Weiber aufmerksam zuhorchend, ... Da sah ich den Herodotum, wie mir bedünkt', und ... Solinum, Plinium, Strabonem, Philostratum, und hundert alte Graubärt mehr ... und ich weiß nicht noch was alles für neue Historienschreiber; die staken da hinter einer Tapet und schrieben rare Geschichten nach, ganz ducklings, alles von Hörensagen. Schon die Bezeichnung des Landes Pays de Satin lässt durchblicken, das die seltsamen Wesen Artefakte auf Stoffen sind, die Szene mit Ouy-dire ist eine direkte Kritik an der Glaubwürdigkeit der Berichterstattung.
Die Hörner des MosesIm zweiten Buch Moses wird geschildert, wie Gott dem Volk Israel die Sünden vergibt und auf dem Berg Sinai den Bund mit Moses erneuert. Die Bundesurkunde schreibt Moses auf Tafeln und steigt nach 40 Tagen wieder vom Berg herunter. In der heutigen Lutherbibel steht der Wortlaut Als nun Mose vom Berge Sinai herabstieg, hatte er die zwei Tafeln des Gesetzes in seiner Hand und wusste nicht, dass die Haut seines Angesichts glänzte, weil er mit Gott geredet hatte (Exodus 34,29). Der Apostel Paulus erinnert sich an dies Erzählung (2. Korintherbrief 3,7): die Israeliten konnten das Angesicht des Mose nicht ansehen wegen des Glanzes / der Herrlichkeit (girechisch doxa) auf seinem Angesicht. (Paulus kannte die Stelle vielleicht aus der griechischen Übersetzung der Bibel, der Septuaginta, die ähnliche Wörter verwendet.) Die um 400 entstandene lateinische Vulgata übersetzt die Stelle so: cumque descenderet Moses de monte Sinai tenebat duas tabulas testimonii et ignorabat quod cornuta esset facies sua ex consortio sermonis Dei – er wusste nicht dass sein Gesicht gehörnt war. Deshalb zeigen viele Bibel-Illustrationen bis ins 15. Jahrhundert und noch Michelangelo das Haupt des Moses mit Hörnern, wie ein Kompositwesen.
Die Vorstellung geht auf eine alte Fehlübersetzung zurück. Der hebräische Bibeltext lautet: כִּי קָרַן עוֹר פָּנָיו
Bekanntlich kann man hebräisch schreiben, indem man nur die Konsonanten schreibt und die Vokale unbezeichnet lässt, d.h. dem Leser die oft sinnstiftende Vokalisierung überlässt. Wenn man das hebräische Verb qāran anders vokalisiert, nämlich als: qärän, so ergibt sich ›Horn‹. (Das Verb ›sein‹ muss man im Satz wie oft ergänzen, also: … dass Horn <ist/war> die Haut des Antlitzes.) Die gelehrten Bibelkommentatoren der Renaissancezeit haben diesen Fehler entdeckt. Genannt sei nur die aus dem hebräischen neu übersetzte Bibel des Immanuel Tremellius (Giovanni Emmanuele Tremellio 1510–1580), ein Sohn jüdischer Eltern, der konvertierte und an der Universität Cambridge Hebräisch lehrte. Es fragt sich, wie sich die seltsame Vorstellung des gehörnten Moses halten konnte. Hörner waren bei antiken Halbgöttern und Herrschern ein Symbol der Macht. Der ägyptische Juppiter-Ammon wird mit Widderhörnern dargestellt, und ebenso Alexander der Große. Ihre Bilder waren auf Münzen weit verbreitet. Botticelli kennt auf dem Bild der Bestrafung der Rotte Korach (Sixtinische Kapelle) einen strahlenden Moses; möglicherweise steht hier die Stelle aus dem 2. Korintherbrief 3,7 Pate: Gefälschte DrachenDer Bologneser Universalgelehrte Ulisse Aldrovandi (1522–1605) hat nicht nur eine mehrbändige »Historia animalium« verfasst, er hat auch eine »Monstrorum historia« geschrieben. Aldrovandi plädiert auführlich dafür, dass es Drachen gibt; es war ihm aber durchaus klar, dass es Fakes gibt, zum Beispiel aus getrockneten Rochen präparierte geflügelte Drachen. (Die Kritik hat er inhaltlich übernommen aus K. Gessner, IIII = piscium S. 545):
Melusine ist bloß eine teuflische IllusionMelusine ist die Gattin des Grafen Raymond; bei der Hochzeit hat sie ihm den Schwur abverlangt, dass er sie nie sehen wolle, wenn sie am Samstag badet. Das Paar lebt glücklich und wird mit 10 Kindern gesegnet. Es kommt, wie zu erwarten ist: Raymond bricht seinen Eid, und sieht, dass Melusine unterhalb des Gürtels ein ungeheurer großer Wurm ist, das heisst dort Schlangengestalt hat. Sie muss die menschliche Gemeinschaft verlassen. Das ist der Kern der Erzählung. Insofern als die Geschichte der Melusine – sowohl in den französischen Fassungen um 1400 als auch in der Berner Fassung des Thüring von Ringoltingen (1415–1483) – die Begründung eines Geschlechts erklären und legitimieren soll, muss es sich bei der Gestalt um ein echtes Wesen handeln. Dass Melusine eine etwas seltsame Gestalt hat, wird durch einen Fluch in der Vorgeschichte erklärt und hat gewisse Konsequenzen in ihrer Nachkommenschaft.) Der kaum bekannte Heinrich Kornmann (»Mons Veneris« 1614) möchte gemäß Widmungsschreiben den "Trug" von teuflischen "Wunderwercken" aufdecken, die sich neben den echten Wundern der "verfinsterten Vernunft" des Menschen oft darbieten: "Wie offt werden wir verwarnet vnd angemahnet/ durch den verfluchten schnöden Gottes Affen/ den lüstigen leydigen Teufel/ in seinen viel vnd nicht geringen Verblendungen/ vnd angerichten Larven/ Erscheinungen/ Geistern." Er erzählt in Kapitel XXX die Geschichte von der Melusina. Er sagt von ihr, sie sei mit dem bösen Geist besessen gewesen, "dann dermassen ist der Beelzebub/ daß er die Ding verwandelt in ein andere form/ wie er das auch den Hexen thut in Katzen/ Meerwolff/ Hunden/ etc. verwandlet/ also ist auch jhr beschehen/ … darauß dann gefolget ein Superstition [Wahnglaube, Einbildung]/ daß sie hat müssen am Sambstag ein wurm seyn." Aber aus der Erzählung sei es "offenbar/ daß Melusina ist gewesen ein Tochter König Helmas auß Albanien …" Die Kompositgestalt aus Menschenfrau und Schlangenschwanz ist also eine vom Teufel herbeigeführte Illusion, auf die Melusine selbst und die anderen hereinfallen. Die histori oder geschicht von der edlen vnnd schönen Melusina. Augsburg: Heinrich Steiner 1540 (Exemplar des Deutschen Seminars der UZH) Thüring von Ringoltingen, »Melusine«, in der Fassung von 1587 hg. Hans-Gert Roloff, (Reclams Universal-Bibliothek 1484), Stuttgart 1969. Heinrich Kornmann, Mons Veneris, Fraw Veneris Berg, das ist, Wunderbare vnd eigentliche Beschreibung der alten Haydnischen vnd newen Scribenten Meynung von der Göttin Venere … Gedruckt zu Franckfurt am Mayn Durch Matthias Beckers seligen Wittib; In Verlegung Jacob Fischers 1614. Reprint Leipzig: Zentralantiquariat der Deutschen Demokratischen Republik 1978. Catherine Drittenbass, ›unde fabulatur a quadam Melusina incuba‹ – ein Blick durch die dämonologische Brille auf Begegnung und Bund zwischen Reymond und Melusine. In: 550 Jahre deutsche Melusine - Coudrette und Thüring von Ringoltingen. Beiträge der wissenschaftlichen Tagung der Universitäten Bern und Lausanne vom August 2006, hg. von Jean-Claude Mühlethaler und André Schnyder, Bern: P.Lang 2008, (TAUSCH 16), S. 83–109. Das Kraut BorometzDas Kraut Borometz oder Barometz ist ein Kompositwesen aus Pflanze und Tier, ein Zoophyt, das seit der Antike immer wieder und bei bedeutenden Autoren erwähnt wird.
Adam Olearius (1599–1671) befindet sich 1634 in der Gegend von Moskau und berichtet in seiner »Außführlichen Beschreibung Der Kundbaren Reyse Nach Muscow und Persien/ So durch gelegenheit einer Holsteinischen Gesandschafft von Gottorff auß an Michael Fedorowitz den grossen Zaar in Muscow/ und Schach Sefi König in Persien geschehen« 1656 (zitiert wird nach der Ausgabe 1663; Drittes Buch, Das ander Capitel):
Olearius zweifelt sichtlich an der Realität, äussert dies aber nicht explizit, sondern nur durch indirekte Redewiedergabe (wie sie sagen), den Gebrauch des Modalverbs (sollen) und Vergleichspartikel (gleichsam). In der »Encyclopédie« wird das seltame Kraut unter dem Stichwort Agnus scythicus abgehandelt; der Artikel mündet in eine Reflexion über die Glaubwürdigkeit von wissenschaftlichen Autoritäten: Cet article nous fournira des réflexions plus utiles contre la superstition & le préjugé. (Tome I [1751] p.180)
Greifen stammen von Hieroglyphen abSir Thomas Browne (1605–1682) hat eine Enzyklopädie von Irrtümern zusammengestellt, die er alle in der common infirmity of human nature begründet sieht: Pseudodoxia Epidemica or Enquries into very many received tenets and commonly presumed truths (zuerst 1646, dann in sechs erweiterten Neuausgaben). Kommentierte Ausgabe (der 1672er-Edition): ed. Robin Robbins, Oxford: Clarendon Press 1981 (2 vols.) — Deutsche Übersetzung von Chr. Knorr von Rosenroth (1636–1689): Des vortrefflichen Engelländers Thomae Brown ... Psevdodoxia Epidemica. Das ist Untersuchung derer Irrthümer, so bey dem gemeinen Mann und sonst hin und wieder im Schwange gehen, 1680. Greifen sieht er als missverstandene ägyptische Hieroglyphen:
Browne nennt das Werk von Athanasius Kircher: Oedipus Aegyptiacus, hoc est universalis hieroglyphicae veterum doctrinae temporum iniuria abolitae instauratio, 1652/53, wo sich ein Bild eines an Greifen erinnernden Osiris findet:
Die Schlange Amphisbena, die statt in einen Schwanz auszulaufen, zwei Köpfe hat, kann es nicht geben:
Die Gesetzmäßgkeit der drei Dimensionen geht zurück auf Aristoteles, De incessu animalium = »Über die Fortbewegung der Lebewesen«. Bereits Albert der Große hatte zur Anfysbena gesagt: Nullum animal naturaliter duo habet capita. (De animalibus, lib, XXV, § 2 = Stadler Band 2, 1558)
Schade, dass es dieses Wesen nicht geben soll, es war in Moralpredigten so dienlich:
Aegidius Albertinus, S.J. (um 1560 – 1620), Der Welt Tummel= und Schaw-Platz. Sampt der bitter=süssen Warheit. Darinn mit einführung viler schöner und fürtrefflicher Discurscen, nit allein die Natürliche, sondern auch Moralische und sittliche Eigenschafften und Geheimnussen der fürnemsten Creatuen und Geschöpf sehr lustig, Geist= und Politischer Weiß erklärt, und auf die Weltläuf gezogen werden, München, bey Nicolao Henrico MDCXII; Seite 339. Sulzer und die DrachenbaupläneJohann Jacob Scheuchzer (1672–1733) war bezüglich der Existenz von Drachen skeptisch, aber letzten Endes glaubte er daran.
Sein postumer Herausgeber Johann Georg Sulzer (1720–1779) freilich hat gravierende Argumente gegen ihre Existenz. In einer Fußnote (Natur-Geschichte, II, S. 221, Anm. (g)) schreibt er:
Ehe ich den in der Natur-Historie unerfahrenen Leser zu den folgenden Erzehlungen lasse / muß ich zu seiner Warnung eine Anmerckung hieher setzen. Man kan durch fleißige Beobachtung der Wercken der Natur einige allgemeine Gesetzte entdecken / nach welcher sie gehet / und sie niemal übertritt. Wenn nun eine Erzehlung etwas in sich hält / das den allgemeinen Gesetzen der Natur zuwider ist / so hat man das beste Recht / diese Erzehlung entweder gantz oder doch zum Theil vor falsch zu halten. Nach solchen Regeln nun müssen die folgenden Erzehlungen von den Drachen beurtheilt werden. Es ist z. E. eine beständige Regel der Natur / daß kein Thier ist / welches aus Theilen von verschiedenen Classen der Thieren zusammen gesezt ist. Z. E. ein Thier das den Kopf von den vierfüßigen Erd-Thieren / Flügel oder Füsse von den Vögeln / einen Schwanz von Fischen hat / streitet wider das bemeldte Gesetz. Also muß niemand glauben / daß ein solches Thier in der Welt ist / wenn gleich ein Reisender uns überreden wolte / ein solches gesehen zu haben. Diesemnach dörfen wir kecklich sagen / daß in den folgenden Erzehlungen die Umstände gewiß falsch sind / wo von Flügeln der Drachen geredt wird / weil Flügel haben den Vögeln / und nicht den Schlangen zusteht. Hat man aber nicht vierfüßige Thiere und Fische die Flügel haben? Ich antworte / daß freylich bekannt und wahr ist / daß es einige vierfüßige Thiere und Fische gibt / welche fliegen / aber sie haben solche Glieder zum Fliegen / die mit den Flügeln der Vögel und der vermeynten Drachen keine Aehnlichkeit haben. Bey den Fleder-Mäusen z. E. sind die Flügel nicht anders / als eine Haut / welche von einem Fuß zu dem andern gehet; es sind Füsse / die etwas anders gestaltet sind / als die Füsse andrer Mäusen. Bey den Fischen sind es Floßfedern / welche wie die Floßfedern / aber grösser sind. Also beweist dieses nichts wider den angebrachten Satz. Was die ungeflügelten Schlangen mit vier Füssen betrifft / so sind es entweder eine Art von Crocodillen / oder / wie ich lieber glaube / ein Gedicht. Denn daß eine Schlange würckliche Füsse haben soll / streitet wider die Einrichtung der Gebeinen / welche die Natur den Schlangen gegeben hat. Es kan aber wol seyn / daß in der Schweiz einige Schlangen sind gesehen worden / deßwegen aber sind sie nicht den erdichteten Drachen zuzuzehlen. […]
Das Einhorn wird als Narwal entlarvtDie Existenz des Einhorns war lange Zeit unbezweifelt. Olaus Magnus (1490–1557) schreibt in seiner »Historia de gentibus septentrionalibus«, Rom 1555 (Liber XXI, Cap. xiiii: De piscibus monstrosis) über monströse Fische, dass das Monoceros an der Stirn ein großes Horn trage, mit dem es Boote durchbohren und zerstören könne: Monoceros est monstrum marinum, habens in fronte cornu maximum, quo naves obvias penetrare possit, ac desturere. Olaus galt als glaubwürdiger Autor, dessen Berichte auf Erfahrung abgestützt sind. Caspar Bartholin (1585–1629) verfasste ein Werk über das Einhorn: Casp. Bartholini, De vnicornu, eiusque affinibus & succedaneis opusculum, Hafniæ, excudebat Georgius Hantzschiu, 1628 nicht eingesehen – Das Buch seines Vaters hat der Sohn Thomas Bartholin (1616–1680) erweitert: Padua 1645 und apud J. Henr. Wetstenium, 1678 (Scan bei Google Books)
Olaus Wormius, Museum Wormianum seu historia rerum rariorum, tam naturalium, quam artificialium, tam domesticarum, quam exoticarum, quae Hafniae Danorum in aedibus authoris servantur, adornata ab Olao Worm, Med. Doct. et, in professore publico ; variis & accuratis iconibus illustrata, Lugduni Batavorum apud Iohannem Elsevirivm 1655. (Digitalisiert vom Service Commun de la Documentation de l'Université de Strasbourg: http://imgbase-scd-ulp.u-strasbg.fr/displayimage.php?album=1010&pos=3 ) Darin findet sich auch ein Kapitel über Wale. Er kennt das Unicornu marinum (Das Meereseinhorn) nicht nur aus Berichten, sondern er hat auch einen Schdel dieses Wals namens Narhual (isländ. hvalur ›Wal‹) vor Augen. Der ausgebildete Anatom Worm beschreibt den Schädel mit dem hervorragenden Zahn ganz genau und bildet ihn in einem Holzschnitt ab.
InversionslagenZwei kanadische Forscher erklärten die alten Berichte von Seeleuten, die Meermänner und Seejungfrauen beschrieben hatte, als ein ungewöhnliches optisches Phänomen: bei meteorlogischen Inversionslagen können Verzerrungen des Kopfes von Meeressäugern (z.B. Dugong) wahrgenommen werden. Eine ungewöhnliche Schichtung der Atmosphäre, bei welcher einige Meter über dem Wasser die Temperatur sprungartig höher ist, wirkt wie eine Zylinderlinse, durch die Objekte in einiger Entfernung in der senkrechten Achse stark verlängert und verzerrt erscheinen. Durch atmosphärische Turbulenzen kann das Bild so verwaschen werden, dass der Eindruck von Haar entsteht. Der Betrachter darf dabei nur wenig über der Wasseroberfläche stehen, was bei mittelalterlichen Schiffen der Fall war.
Die NOAA (National Oceanic and Atmospheric Administration) gibt es billiger. Sie postete auf ihrer Website (5. Juli 2012) einen Artikel unter dem Titel »No evidence of aquatic humanoids has ever been found.«
»Nix mit der Nixe!« titelte Spiegel online dazu am 7.7.2012. Einen Beweis für die Nicht-Existenz solcher half-human creatures liefert die amerikanische Behörde indessen nicht; die Beweislast wird den Humanities zugeschoben. Ein unkommentierter Link führt zu einer ›Lunchbox Lesson‹ über Manatees (Trichechidae), das soll wohl heissen: die Mermaids sind ja in Wirklichkeit nur Rundschwanzseekühe.
Argumentationsmuster in ÜbersichtBis jetzt sind wir haben wir Dementis von Kompositwesen dem zeitlichen Ablauf entlang beschrieben; nun fragen wir, ob sich einige wiederkehrende Argumentationsmuster erkennen lassen, mit denen den Kompositwesen die Existenz abgesprochen wurde. Sie lassen sich nicht gut systematisch ordnen, und vor allem können sie in allen Epochen vorkommen. (a) Der Glaube an Kompositwesen wird einfach nur durch literarische Übertreibung verspottet, so bei Lukian, bei Ovid und bei Rabelais. (b) Ein Kompositwesen wird als Fake entlarvt: Aldrovandi warnt davor, sich getrocknete Rochen nicht als Drachen unterjubeln zu lassen. (c) Ein Kompositwesen wird auf die Vorstellungsgabe zurückgeführt. Wir können uns alle eine Chimäre ausdenken, obwohl es sie nicht gibt (so Honorius Augustodunensis); Konrad Gessner vermutet beim Meerlöwen, die Graphiker hätten eine überbordende Phantasie. (d) Eine psychologische bzw. dämonologische Begründung kennt Kornmann bezüglich der Melusina, bei der es sich nicht um ein real existierendes Wesen handle, sondern um teuflische Verblendung. (e) Das Kompositwesen wird auf ein Missverständnis zurückgeführt. Entweder auf ein philologisches: Moses hat – wenn man den Text richtig vokalisiert – keine Hörner, sondern sein Antlitz glänzt. Oder auf ein Übersetzungs-Missverständis: die Herkunftsangabe cananaeus wurde bei Christopheros missverstanden als canineus Oder auf ein visuelles Missverständnis: Die Vorstellung des Greifen ist aus Hieroglyphen entwickelt. Auch bei der Weg-Erklärung der Seejungfrauen als Seekühe liegt dieses Argument eines optischen Missverständnisses vor, genau so wie bei der Erklärung der Kentauern als aus Pferd und Reiter zusammengesehenen Gestalten (Palaiphatos). (f) Bessere Kenntnis durch eigene Anschauung oder zuverlässige Gewährsleute kann der Grund für das Dementi sein; so bei Albertus Magnus hinsichtlich der Bernickelgänse. (g) Neu entdeckte empirische Befunde können dem Kompositwesen das Leben sauer machen, wie der Zahn des Narwals. (h) Die physiologische Unmöglichkeit ist der Grund dafür, dass es ein Kompositwesen nicht geben kann: Palaiphatos argumentiert mit der Nahrung der Kentauren, Aristoteles und Lukrez mit den verschiedenen Tragzeiten. (i) Ein naturwissenschaftliches Paradigma ist der Grund für die Ablehnung. Sei es, dass wie bei der Amphisbena argumentiert wird, jedes Lebewesen habe ein Oben und Unten, ein Links und Rechts, und ein Vorne und Hinten (und nicht zwei Vorne), oder sei es, dass argumentiert wird, höhere Wirbeltiere hätten immer nur vier Extremitäten, folglich gebe es keine geflügelten vierfüßigen Drachen (so Sulzer). (j) Mittels allegorischer Auslegung wird ein Kompositwesen auf natürliche geistige Phänomene zurückgeführt. Man sagt zu jedem Körperteil: Du bist ›eigentlich‹ kein Rüssel, kein Flügel, keine Flosse, sondern ›in Wirklichkeit‹ X, Y, Z. So werden die Sirenen von Herrad von Landsberg umgedeutet.
Zu fragen wäre jetzt noch, welche Motive es gibt, um ein Kompositwesen loszuwerden. Abgeschafft werden können natürlich nur solche, die nicht ideologisch gebraucht werden. (Bei den Bernickelgänsen ist das kein Problem, bei den Engeln wäre es schon eines.) Ausserdem sind als poetische Fiktionen durchschaute Gestaltungen (etwa Karikaturen) nicht betroffen. Es muss ein übergeordnetes Interesse geben, dem die Anerkennung eines Kompositwesens im Wege steht. Beim aufklärerischen, allgemein zum Entmythologisieren geneigten Lukrez besteht dieses darin, dass er den Menschen die Angst vor der durch die Priester indoktrinierten Religiosität nehmen will. Bei Herrad von Landsberg besteht es darin, dass sie die antiken mythologischen Geschichten moraltheologisch vereinnahmen möchte. Bei den Naturwissenschaftlern (Aristoteles, Thomas Browne, Johann Georg Sulzer) kann man erkennen, dass eine Theorie auf höherer Ebene (Baupläne von Lebewesen) die Akzeptanz von überkommenen Wissensbeständen zu kritisieren vermag. Vielleicht ist gerade die Durchsetzung des Prinzips, auf hierarchischen Ebenen zu denken, ein Kennzeichen der modernen Naturwissenschaft. Die Kompositwesen sind indessen zählebig. Werden sie in einem Diskursfeld verdrängt, so ziehen sie sich in einer anderes zurück, wie in eine Oeko-Nische. Wenn es das Einhorn in der Natur nicht geben soll, warum dann nicht als religiöses Symbol oder in der Heraldik. Hier leben sie empirie-resistent munter weiter. |