Reisen zum Rande der Welt

 

Ein Kapitel aus dem Buch (hier mit Ergänzungen):

»Spinnenfuß & Krötenbauch. Genese und Symbolik von Kompositwesen«
Schriften zur Symbolforschung, hg. von Paul Michel, Band 16, 472 Seiten mit 291 schwarz-weißen Abbildungen
PANO Verlag, Zürich 2013
ISBN 978-3-290-22021-1

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An den Rändern der Welt

Ex Africa semper aliquid novi – Aus dem Schwarzen Kontinent kommt immer wieder Unerhörtes, so tönt es seit der Spätantike (Plinius, nat. hist. VIII, xvii, 42). Dabei pendelt das Exotische immer zwischen den Polen des Sehenswürdigen und des Barbarisch-Rohen.

Je weiter man in ferne Länder reist, desto seltsamere Wesen trifft man dort. Die heimische Welt kennt keine widernatürliche Wesen. (Wenn dennoch solche vorkommen, so müssen sie als Ausnahmeerscheinungen energisch weg-interpretiert werden.) Odysseus begegnet nur an den entfernteren Ufern des Mittelmeers seltsamen Wesen: dem Kyklopen, den Laistrygonen, den Sirenen – in Troja wie im heimatlichen Ithaka ist alles normal. Man kommt schnell auf die Vermutung: Werden allenfalls unsere Albträume und Gruselphantasien auf die fernen Popoulationen projiziert?

Hier ist der Begriff der Projektion zu erwähnen, der von Sigmund Freud mit Beziehung auf einfache Kulturen so gefasst wurde: »Die Geister und Dämonen sind … nichts als die Projektionen seiner Gefühlsregungen; er [der Primitive] macht seine Affektbesetzungen zu Personen, bevölkert mit ihnen die Welt, und findet nun seine inneren seelischen Vorgänge außer seiner wieder.« S. Freud, »Totem und Tabu« (1913) Kapitel III,4.

Der Mechanismus gilt ebenso für komplexere Kulturen (wozu wir uns doch rechenen wollen). Personen, Ethnien, Bereichen, die nicht zu unserer Welt gehören oder gehören sollen, werden ausgegrenzt oder mindestens an die Ränder, Grenzen hingeschoben, marginalisiert. Wir möchten zeigen, dass diese Wesen jenseits der Ordnung, genauer: jenseits unserer gewohnten Ordnung hausen. Hier das zivilisierte Europa – dort eine barbarische ferne Welt. An den Rändern der Welt hausen die seltsamen Gestalten. Man glaube nicht, das sei einr Eurozentrismus: Andere Kulturen verfahren genau gleich. So gibt es in der chinesischen Enzyklopädie »San Ca Tuhui« (Anfang unseres 17. Jahrhunderts) am Schluss des Artikel ›Biographien‹ einen Abschnitt über Menschen, die nicht aus dem Reich der Mitte (eben!) stammen. Auch hier findet man neben glaubwürdigen Berichten eher phanstaisevolle. Es finden sich gefiederte Menschen; solche mit Schwänzen, die erst ein Loch in die Erde graben müssen, um sich bequem zu setzen; solche mit Pferdehufen. Hier ist abgebildet ein Angehöriger der Wusun:

 

Die ›Wunder des Ostens‹ haben seit der Spätantike über Jahrhunderte die Vorstellungen der Europäer über die weit abgelegenen Weltteile beherrscht; die Beschreibungen wurden von Autor zu Autor weiter kolportiert, und auch in Zeiten, als die Geographen und Ethnographen bessere Kenntnisse brachten, wurden die seltsamen Gestalten munter weiter beschrieben und gezeichnet. Bereits 1942 hat der überaus gelehrte Rudolf Wittkower (1901–1971) ihre Geschichte detailliert erforscht und dokumentiert.

Die Schedelsche Weltchronik (Nürnberg 1493)

Digitalisat bei Wikisource:  fol. XII verso und XII verso / XIII recto

hat verschiedene Berichte zusammengeklittert und bietet einen guten Überblick über das, was da an den Rändern der Welt kreucht und fleucht. (Wir kürzen den Text und kommentieren ihn etwas.)

Vil geslecht mancherlay wunderperlichgestalter menschen sind nach der zungen zerteilung durch got [1] beschehen an manchen enden erschinnen. dann als der almechtig got wißet mit was gleichnus vnd manigformigkait er die schön der werlt beschuff do wolt er auch wundergestalte menschen in die werlt einfüeren.[2] vnder den etliche also geformt sind wie hernach folgt. Item etliche haben enmitten in der styrn allein ein awg. […] Item ettliche andere haben fast groß füeß vnd payn on püege vnd sind doch wunderperlicher schnelligkait. vnd bedecken sich zu sumerzeit mit dem schatten irer füeß amm rugken ligende.[3] Item ettliche andere sind on nack habende ire awgen an der schultern. Item ettlich haben huntzköpff. [4] […] So werden auch sunst vil gestaltnus der menschen von den gewönlichen lawff der natur außschwaiffende, vnd allermaist weyt vom meer wonende in den historien gefunden. vnd vil menschen wundersam vnd vnglewplich geachtet. […] vil ding werden vnmüglich geachtet vor vnnd ee sie gesehen. [5] Item in scithia der gegent gein mitternacht an eim ort Gesglithron genant. sind lewt als an den nachfolgenden blat verzaichnet ist mit eim awgen enmitten an der stirn.[6] stettiglich mit dem greyffen streittende. […] Auff dem perg milo sind menschen mit hindersichgekerten fersen an yeglichem fueß acht zehen habende. […]  als dann vil kriechischer geschichtbeschreiber von den hieuorgeschriben wunderperlichen vnd seltzamen gestaltnussen schreiben vnd meldung thun [7] […]. [8] Von mancherlay gestaltnus der menschen schreiben Plinius: Augustinus vnd ysidorus die hernachgemelten ding. In dem land india sind menschen myt hundsköpffen [4] vnd reden pellende. neren sich mit fogelgefeng vnd klaiden sich mit thierhewtten. Item ettlich haben allain ein aug an der stirnn ob der nasen vnnd essen allain thierfleisch. […] Ettlich sind bederlay geslechts. die recht prust ist in manlich vnd die lingk weibisch vnd vermischen sich vndereinander vnd gepern. […] Item in dem land Sicilia haben ettlich so große oren das sie den gantzen leib damit bedecken. […] Item ettlich haben hörner. lang nasen vnd gayßfüess das findest du in sand Anthonius gantzer legend. [9] […] Item in den geschichten des grossen Alexanders liset man das in india menschen seyen mit sechs henden. […] Item in ethiopia gegendem nidergang haben ettlich vier awgen. So sind in Eripia schön lewt mit kranchßhelsen vnnd snebeln. [10]


[1] Interessant ist, an welcher Stelle in der Geschichte der Welt Schedel die Erdkarte mit den Randzonen-Siedlern plaziert: nach der Geschichte von der Arche Noahs. Da schreibt er: "Monstrosorum quoque multa hominum genera post linguarum varietatem a deo factam variis in locis perducta fuisse comemorantur". Entsprechend in der deutschen Fassung (Blatt XIverso) wie zitiert. – "Nach der zungen zerteilung" erinnert an die babylonische Sprachverwirrung (Gesesis 11,7–9), gemeint ist aber die Besiedelung der drei Erdteile durch Noahs Söhne: Sem in Asien – Cham in Afrika – Japhet in Europa (vgl. Genesis 9,21–27), die Isidor von Sevilla schildert (Etymologiae VII,vi,16).

[2] Das Motiv für die Entstehung der seltsamen Wesen: Gott möchte eine vielgestaltige Welt schaffen, stammt nicht aus der Bibel, sondern aus Plinius (nat hist VII,ii,32): Haec atque talia ex hominum genere ludibria sibi, nobis miracula ingeniosa fecit natura (Dies und Ähnliches erschuf aus dem Menschengeschlecht die erfinderische Natur, sich zum Spiel, uns zum Wunder).

[3] Skiapoden, ›Schattenfüßler‹

[4] Kynokephalen

[5] Glaubwürdigkeits-Management: Auch wenn wir diese Wesen noch nie gesehen haben, heisst das nicht, dass es sie nicht gibt.

[6] Verweis auf einen der beigegebenen Holzschnitte.

[7] Quellenangabe zur Stützung der Glaubwürdigkeit; bei den griechischen Geschichtsschreibern handelt es sich um Ktesias von Knidos (4. Jh. v.u.Z., Megasthenes (um 303 v.u.Z.), Strabon (1.Jh. v.u.Z.), Diodorus Siculus (1 Jh. v.u.Z.); die Schedel aber in späteren lateinischen Übersetzungen (Plinius, Solinus, Augustinus, Isidor) kannte.

[8] Hier beginnt mit der neuen Seite (XII recto) ein neues Exzerpt; zum Teil wiederholen sich die Beschreibungen.

[9] Seltsamerweise wird hier auf einen Text völlig anderer Gattung Bezug genommen: die Legende der Dämonen-Erscheinung des hl.Antonius.

[10] Die Kranichschnäbler, vgl. Herzog Ernst.

 

Reiseberichte

Reiseberichte sind eine seltsame Mischung aus Beobachtung und Phantasie. Reisende – insbesondere belesene – fuhren in ferne Länder mit einer Vorstellung davon, was sie dort finden würden; und unpräzise zugetragene Berichte von Eingeborenen oder Berichte aus zweiter Hand ließen sie dies dann wirklich ›sehen‹. Diese Mischprodukte von enzyklopädischem Halbwissen, Romanlektüren und empirischen Berichten gingen in die Beschreibung ein und bestätigten dann die aus den Büchern stammenden Vorstellungen. Denken wir nur daran, welche Vorstellungen vom Einhorn ein Gebildeter im Kopf hatte, und wie er dann die Erzählung  von einem Nashorn auffasste und aufschrieb – und wie ein Illustrator dies aufgrund seiner Bilderinnerungen dann wiedergab. – Selbst Berichte von Reisenden, von denen wir mit Bestimmtheit wissen, dass Sie wirklich in fernen Gegenden unterwegs waren, enthalten immer wieder die klassischen Wunderwesen.

Pharusmanes

De rebus in Oriente mirabilibus  (Lettre de Farasmanes), éd. synopt. accomp. d'une introd. et de notes par Claude Lecouteux, Meisenheim am Glan: Hain, 1979 (Beiträge zur klassischen Philologie 103)

Alexanderroman
Der mit einer Überdosis Entschlusskraft ausgestattete König Alexander der Große (356–323  v.u.Z.) versuchte nach der Ausschaltung des Perserreichs, 326 (das heutige) Indien zu unterwerfen, das er mit gewaltigen Heeren heimsuchte; er gelangte bis zum Indus. Der Hof-Historiograph Kallisthenes berichtete von diesen Feldzügen; ferner hatte Alexander in seinem Tross eine Logistik-Abteilung mit Männern, die  naturwissenschaftlich und kulturell Interessantes festhielten. Freilich sind diese Texte nicht überliefert, sondern spätere Neufassungen, die die Ereignisse ausschmückten und allmählich ins Romanhafte gerieten. – Aus den unzähligen Varianten sei nur genannt die »Historia de preliis Alexadri Magn« des Archipresbyter Leo (entstanden ziwschen 951 und 969). Weit im Osten begegnet Alexander seltsamen Wesen (Greifen, Basilisken, pferdeköpfige Menschen u.a.m.) Es gibt davon Übersetzungen und Bearbeitungen ins ältere Französische und Deutsche. – Ein Müsterchen:

¶ 188: "Darauf zog das Heer weiter und kam in eine wüste Gegend, die lag zwischen dem Roten Meer und Arabien; dort wuchs Pfeffer die Menge. Und wunderbar große Schlangen waren dort mit Hörnern am Kopf wie bei ausgewachsenen Widdern, damit fielen sie die Soldaten Alexanders an. Aber dennoch erschlugen die Makedonier den größten Teil von ihnen."

Historie von Alexander dem Grossen, hg. von Wolfgang Kirsch, Leipzig: Reclam, 2. Aufl. 1978 (Reclams Universal-Bibliothek 625) [= Übersetzung der »Historia de preliisi«]

Bildmaterial bei: Angelica Rieger, L’Ystoire du bon roi Alexandre. Der Berliner Alexanderroman. Handschrift 78 C 1 des Kupferstichkabinetts Preußischer Kulturbesitz Berlin, Faksimile, Wiesbaden 2006.

Herzog Ernst

Die mittelhochdeutsche Versdichtung von Herzog Ernst (Fassung B vom Anfang des 12.Jhs.; ca. 6000 Verse lang) hat eine (in unserem Zusammenhang nicht interessierende) Rahmengeschichte, die besagt, der Protagonist wegen einer Verleumdung und einer daraus entstehenden Fehde der Reichsacht verfällt. Herzog Ernst flüchtet mit Getreuen auf eine Pilgerreise Richtung Jerusalem; aber sie kommen vom Kurs ab und bei dieser Irrfahrt begegnen ihm seltsame Abenteuer. Wie er endlich am Ziel anlangt, erfährt dies der Kaiser und nimmt ihn wieder huldvoll auf. (Einige der wunderbaren Wesen, die Ernst aus dem Orient mitbringt, kommen in den Zoo des Kaisers.) Es handelt sich um die Verquickung eines Stoffs mit historischem Kern aus dem Ende des 10.Jhs.und Stoffgeschiebe aus den fabulösen Orientreisen. Ein Abenteuer ist das mit den Kranichschnäblern:

In Grippia begegnen Herzog Ernst und sein Begleiter Wetzel menschlichen Wesen mit Kranichköpfen. Der überaus reiche und prunkvoll Hof haltende König dieser Kompositwesen möchte gerade eine in Indien geraubte Königstochter heiraten. Ernst und Wetzel versuchen, die schöne Jungfrau, der die Tränen auf die Brüste rollen, während des Festmahls zu befreien; ihr Plan misslingt indessen, und die Unglückliche wird von den Schnäbeln der Erzürnten zerhackt. Nach blutigen Kämpfen gelingt ihnen die Flucht auf ihr Schiff. Hier einige Zitate (in Übersetzung):

Sie waren, junge wie alte, schön und wohlgestalt an Händen und Füßen, in jeder Hinsicht waren es schöne und stattliche Menschen; nur ihr Hals und Haupt hatte die Gestalt von Kranichen. (Verse 2852ff.) – Die prachtvollen Gewänder der Kranichschäbler werden geschildert (2995ff.). – Man kann die Reden und Gebärden der Kranichhäuptigen nicht verstehen, sie schreien wie Kraniche (3151ff.). – Herzog und Wenzel überlegen sich zwei Pläne (3284ff.). – Nach dem Essen wurde getanzt und gesungen, musiziert und im Reigen gesprungen; man höre dort lautes Rufen und Schreien wie bei Kranichen und Weihen (3369ff. nach Sowinski). – Nach der Tötung der Braut werden die beiden umzingelt, und sie müssen sich ein Gasse zum Schiff freikämpfen: Ihre Schwerter verfehlten die langen und dünnen Hälse nicht; es wurden unmäßig viele zerschnitten" (3628ff.) 

Nicht nur die Leiber der Leute aus Grippia sind komposit; auch ihr Verhalten: einerseits haben sie eine perfekte europäisches Hofhaltung, anderseits krächzen sie tierisch.

Die Kranichschnäbler werden eine lange Tradition ausserhalb der Geschichte von Herzog Ernst haben (vgl. den reichhaltigen Aufsatz von H.Brunner). Der frühe Journalist Eberhard W. Happel ist sich wie häufig nicht über ihren Realitätsgehalt sicher. In seinen »Relationes Curiosae« (Band II, 1685, S. 79) schreibt er:

Man hat uns in dem letzten Türckischen Kriege viel erzehlens gemacht von einem sehr tapffern Tartar/ welcher einen überaus langen Schwanen-Halß gehabt; Aber gleich wie solches vor eine Erfindung eines müssigen Gemüths geachtet wird/ ist also hergegen/ wie die Orientalischen Vojagen bezeugen/ anno 1658 auff der Africanischen grossen Insul Madagascar eine solches menschliches Ungeheuer gefunden/ und von den Frantzosen nach Nantes in Franckreich übergebracht worden.

Und nun zitiert er seine Quelle, Petrus Nyland und Jan van Hextor, »Schauplatz Irdischer Geschöpffe« (deutsche Übersetzung aus dem Holländischen, Osnabrück 1678): Dieß Monstrum war in eußerlicher Gestalt von den Schultern an biß zu den Füssen von anderen menschlichen Leichnamen [= Leibern] nicht verschieden […]. Von der Schultern auffwerts entstund ein langer außgereckter Hals: Das Haupt wahr sehr entstalt [entstellt]/ zu beiden Seiten besetzet mit 2. langen Esels-Ohren/ an Stat des Mundes hatte es einen langen gekrümmeten Schnabel. Die Frantzosen bezeugen daß dies ebentheuerliche Geschöpffe eine sanfftmüthige Natur gehabt/ und im Umgang noch störrig oder unfreundliche sich bezeigt. Die Sprache/ oder vielmehr sein Gelaut/ habe wenig Gleichnis mit einiger bekandten Sprache gehabt; Sey dennoch sehr lehrsam gewesen/ daß sie ihm in weniger zeit das Zeichen des Creutzes haben machen gelehret. Darumb hat man in Franckreich mit verschiedenen Theologen und Artzten rahts gepflogen/ ob man diesem Monstro die Tauffe geben solle?

Herzog Ernst. Ein mittelalterliches Abenteuerbuch. In der mittelhochdeutschen Fassung B hg., übers., mit Anmerkungen und einem Nachwort versehen von Bernhard Sowinski, Stuttgart: Reclam 1970 und Neuauflagen (RUB 8352).

Christoph Gerhardt, Die Skiapoden in den Herzog Ernst-Dichtungen, in: Literaturwiss. Jahrbuch der Görresgesellschaft, NF 18, S.13-87.

Horst Brunner, Der König der Kranichschnäbler. Literarische Quellen und Parallelen zu einer Episode des "Herzog Ernst", In: Horst Brunner, Annäherungen. Studien zur deutschen Literatur des Mittelalters und der Frühen Neuzeit, Berlin: Erich Schmidt, 2008 (Philologische Studien und Quellen 210),  S. 21–37.
http://books.google.ch/books?id=Sv1_45nvKpAC&printsec=frontcover&hl=de#v=onepage&q&f=false

Alexandra Stein, Die Wundervölker des Herzog Ernst. Zum Problem körpergebundener Authentizität im Medium der Schrift, in: Fremdes wahrnehmen - fremdes Wahrnehmen. Studien zur Geschichte der Wahrnehmung und zur Begegnung von Kulturen in Mittelalter und früher Neuzeit, hg. vn Wolfgang Harms /  C. Stephen Jaeger, Stuttgart: Hirzel 1997 S.21–48. 

 

Mandeville
Jean de Mandeville wurde laut Prolog und Epilog des Buches in St. Albans in England geboren. Sein Werk verfasste er 1356 wahrscheinlich in Lüttich, wo er wohl 1372 starb. – Sein Buch schrieb er, wie von einem gebildeten englischen Aristokraten damals zu erwarten ist, auf franzöisch. Es gibt sich als eine Reisebeschreibung, ist aber eine Kompilation von Texten echter (z.B. Ododrico da Pordenone) und fiktiver (z.b. Alexanderroman) Reiseberichte und von Auszügen aus Enzyklopädien (z.B. Vinzenz von Beauvais), wobei der Autor alle Hinweise auf Quellen unterdrückt.

Zuerst werden von verschiedenen Ausgangspunkten mehrere Pilgerwege nach Jerusalem geschildert, dabei werden die Heiligen Stätten (Berg Sinai; Bethlehem; Jerusalem; heiliges Grab; auch der Berg, auf dem der Teufel Jesus versuchte) und einige Orten in Ägypten detailliert beschrieben. In Exkursen werden  Wunderberichte eingeschoben. Einige Kapitel sind dem Glauben der Mohammedaner gewidmet. Dann weitet sich der Blick übergangslos nach Osten zu einem Bericht zu einer Entdeckungsreise bis nach China und schließlich in das Reich des Priesters Johannes.

Oft ist der Text eine Mixtur aus einer Zusammenfassung der biblischen Geschichte, geographischen Schnipseln, Reisetips und Legendarischem, ja Märchenhaftem. Die Verknüpfungen sind oft assoziativ. Gelegentlich bekommt man den Eindruck, es gehe ihm darum zu erörtern, welche Realität hinter den in der Bibel genannten Dingen steht: Was war der Turm von Babel genau? Wo steht der Baum, an dem sich Judas erhängte? Aus welchem Holz bestand das Kreuz Jesu? Ausgangspunkt ist das Interesse, ja die Realismussucht der Leser von Pilgerberichten; und diese wird dann in die weiter östlich gelegenen Gebiete hinein weiter verfolgt – und befriedigt. Da berichtet Mandeville dann von den Kynokephalen, von den Greifen, von den Hermaphroditen usw., lauter Dingen, die er aus seiner Lektüre kennt, aber als gesehen ausgibt.

Ein Greif; Holzschnitt aus der deutschen Übersetzung des Otto von Diemeringen, Basel: Bernhard Richel [um 1481]. Das .ii. Capitel im .iiij. buoch, über das Land Backarie [Velser: Balkarya, Balkerya]: jn dem selben land sind ouch vogel  die heissent griffen den ist das vorderteil geschaffen als eim vogel vnd das hinder teil als eim löwe vnd sind gar starcke vnd sind jnen die klawen an den vordren vogel füessen als groß als ochsen hörner vnd macht man trinck geschir daruß vnd ist ein gryff also starck das er ein gantz rind vff in die lüfft zücht vnd es mit jm füert in sin nest vnd sin vedren speltet man nach der lengi vnd vusser ieglichen stucke wirt ein starcker boge da mit man schüsset.

Man hat Mandeville immer wieder vorgeworfen, sein Buch sei e ein ›Machwerk‹, schließlich sei er nie aus Frankreich herausgekommen und habe alles aus Büchern kompiliert. Man könnte es auch anders sehen: Er schreibt eine Enzyklopädie fremder Länder in der Form eines Baedekers; er wählt die Form des Reiseberichts nur als Medium, um all die Lesefrüchte hübsch aufzureihen. – Allerdings  ist dagegenzuhalten, dass der Verfasser zuletzt schreibt "Ich, Hans von Mandavilla, ritter, fuor von minem land úber mer, do man zalt von Cristus geburt tusend drú hundert und zway und zwaintzig jâr, und hab ersuocht menig [manches] land und menig ynsel und menig guot gesellschafttt, […] Und was ensit mers biß man zalt von Cristus geburt tusend drú hundert und súben und fúnfftzig jâr. Do kam ich haim und muost ruowen über min gedenck."  (in der mittelhochdeutschen Übersertzung des M. Velser, letztes Viertel des 14. Jhs.)

Textausgaben:

Reisebeschreibung des Sir John Mandeville, in mhd. Übersetzung von Michel Velser, hg. Eric John Morrall, (Deutsche Texte des Mittelalters LXVI), Berlin 1974.

Jean de Mandeville: Reisen. Reprint der Erstdrucke der deutschen Übersetzungen des Michel Velser und des Otto von Diemeringen. Herausgegeben und mit einer Einleitung versehen von Ernst Bremer und Klaus Ridder, Hildesheim: Olms 1991 (Deutsche Volksbücher in Faksimiledrucken, Reihe A; 21)

Albert Bovenschen, Untersuchungen über Johann von Mandeville und die Quellen seiner Reisebeschreibung, in: Zeitschrift der Gesellschaft für Erdkunde in Berlin, Band 23 (1888), S. 177–306.

Weltkarten und Enzyklopädien

In mittelalterlichen Weltkarten (die eher als in den geographischen Raum ausgelegte Enzyklopädien zu verstehen sind denn als Atlanten) siedeln die Kompositwesen an den Rändern der Welt. Hingeweisen sei hier nur auf die Ebstorfer Weltkarte (um 1300) und die Karte von Hereford (Ende 13.Jh.).

Die Ebstorfer Weltkarte. Kommentierte Neuausgabe in zwei Bänden, hg. von Hartmut Kugler, Berlin: Akademie Verlag 2007 (2 Bände, 1 Faltkarte): Segment 12/1: Cenocefali – 13/5: Draco, Aspis, Basiliscus – 28/2: Satyrus

http://www.uni-lueneburg.de/hyperimage/EbsKart/start.html

Scott D. Westrem, The Hereford map. Atranscription and translation of the legends with commentary, Turnhout: Brepols 2001: # 296: Fauni – # 298: Satirii – # 301: Spinx – # 971: Bemee – # 972: Sirene

Die Holzdecke der Kirche  St. Martin in Zillis (genau datierbar auf 1109 bis 1114) besteht aus 153 Kassetten (das ist eine Symbolzahl für die Ganzheit), angeordnet in 9 mal 17 Reihen. Die inneren Felder sind fast ganz in bilderbuchartiger Abfolge dem Leben und Leiden Jesu gewidmet; die Felder am Rand zeigen (abgesehen von wenigen Ausnahmen) Wesen im die Erde begrenzenden Ozean: beispielsweise mit Fischschwänzen versehene Löwen, Elefanten, Einhorn, Wider; einen Drachen; eine Sirene; mehrere Nereiden.

Man hat diese liebevoll gemalten Wesen oft als ›Ungeheuer‹ oder ›Fabelwesen als Sinnbilder des Bösen‹ bezeichnet; Christoph Eggenberger hat darauf hingewiesen, dass der Psalm 148 (Verse 7 und 10) sagt: Lobet den Herrn auf Erden, ihr Ungeheuer (Vulgata: dracones et omnes abyssi) und alle Tiefen des Meeres, […], ihr wilden Tiere und alles Vieh, Gewürm und Vögel! (bestiae et omnia iumenta reptilia et aves volantes). Die fremden Wesen zeigen, dass sich Gottes Macht bis ans Ende der Welt erstreckt.

Diether Rudloff u.a., Zillis. Die romanische Bilderdecke der Kirche St. Martin, Basel: Heman 1989.

Das Tympanon der Kirche Sainte-Madeleine zu Vézelay (1122) hat die Aussendung der Apostel zum Thema. Jesus sagt zu ihnen:  Ihr werdet die Kraft des Heiligen Geistes empfangen, der auf euch kommen wird, und werdet meine Zeugen sein in Jerusalem und in ganz Judäa und Samarien und bis an das Ende der Erde. Apg 1.8 (vgl. Luk. 9, 1-6; Mark. 6, 7-13; Matth. 10, 1. 5-15). Das Bild zeigt Jesus, von dessen Händen Lichtstrahlen zu den Häuptern der Apostel ausgehen. Auf dem Türsturz und in Feldern am Rand erscheinen die Völker am Rand der Erde, denen das Evangelium gepredigt werden soll, darunter auch Kynokephalen, die also durchaus christianisiert werden können. (In der Bogenlaibung sind  die Tierkreiszeichen und Monatsarbeiten dargestellt.)

Herbert Schade, Dämonen und Monstren. Gestaltungen des Bösen in der Kunst des frühen Mittelalters, Regensburg: Pustet 1962; Abb. 29

Die seltsamen Wesen werden von Hartmann Schedel dann in separate Randleisten neben der (relativ modernen ptolmäischen) ausgelagert. — 

Die von Sebastian Münster (1488–1552) herausgegebene, deutsch abgefasste und illustrierte »Cosmographia« ist erstmals 1544 in Basel bei Heinrich Petri gedruckt und verlegt worden; zu seinen Lebzeiten erschienen fünf stets erweiterte Auflagen; insgesamt hat das Buch bis 1628 46 Auflagen erlebt. Auch der überaus gelehrte Münster war ein Stubenhocker, und so verwundert es kaum, dass er dort, wo er über die Länder im fernen Osten Material zusammenträgt, auch die bekannten fabulösen Wesen nennt. Münster erwähnt beispielsweise – die Sorge um den Wahrheitsgehalt vorsichtig den Quellen aufbürdend – dass sich die antiken Autoren vorgestellt haben, in Indien lebten viele Monstra.   Es haben die Alten auch gar viel seltzame Monstra erdichtet/ die in diesem Landt sollen erfunden werden/ besunder schreiben darvon Megasthenes vnd Solinus/ daß in den Indianischen Bergen Menschen sind die haben Hundsköpff/ vnd Mäuler wie die Hund/ vnd darum können sie nicht reden/ sonder heulen vnd Bellen wie die Hund.  Der beigegebene Holzschnitt kann natürlich keine Kritik zeigen. Er wird wiederholt beim Eintrag über die Völker im Morenlandt  (Wortlaut der Ausgabe Sebastian Henricpetri, Basel 1588; Seiten Mcccxlix und Mccccxiij).

Eine Visualisierung dieser Wesen findet sich in Münsters lateinischer Ausgabe von 1550. (Es ist nicht leicht abzuklären, wann ein Bild in den 46 Auflagen das erste Mal erscheint.) Die Holzschnitte wurden damals von Buch zu Buch rezykliert, namentlich wenn die Bücher beim selben Verleger oder in der selben Region erschienen. Derselbe Hozschnitt wurde dann verwendet in der 1554 ebenfalls in Basel erschienen »Heydenweldt« des Johann Herold (1514-1567), und zwar in dessen Übersetzung des Diodorus Siculus (1. Jh. v.u.Z.), der über die Tiere Africas berichtet (4. Buch, 4. Kapitel): er nennt die Meerkatzen und unmittelbar darauf "Die thier so man Cynocephalos oder hundsköpff nennet/ die sind sont den menschen am leyb nit fast vngleich/ auch nimpt es sichmenschlicher stimm an/ ein wild/ vnzämig thier daz kein vernunfft hat/ kein augpraen/ ist erschrockenlich grausam anzuosehen."

Derselbe Holzschnitt ist bereits verwendet worden in der »Margarita Phylosophica« genannten Enzyklopädie des Gregor Reisch († 1525), die seit 1503 immer wieder aufgelegt wurde, und zwar im Kapitel, wo von den Ursachen der Monstruositäten und Wunder die Rede ist (Liber VIII, Cap xix, bereits in der Ausgabe Straßburg 1504; vgl. die Ausgabe Basel: Michael Furter 1517; Seiten 345 und wiederholt auf S. 405 bei Geldsetzer.)

Bild aus Herold, Heydenwelt

Gregor Reisch, Margarita philosophica. Mit einem Vorwort, einer Einleitung. und einem neuen Inhalts-Verzeichnis von Lutz Geldsetzer, Photomechanischer Nachdruck der 4. Auflage Basel 1517. Düsseldorf: Stern-Verlag Janssen 1973.

Cosmographey. Oder beschreibung Aller Länder, herrschafftenn und fürnemesten Stetten des gantzen Erdbodens/ sampt jhren Gelegenheiten, Eygenschafften ... / Erstlich durch Herrn Sebastian Munster in sechs Büchern verfasset: Demnach ... durch ihne selbst gebessert: Jetzt aber mit allerley Gedechtnuswürdigen Sachen biß in das M. D. LXXXVIII. gemehret ; mit newen Landtaflen, vieler Stetten vnd fürnemmen Männern ... vnd Wappen ... gezieret, Getruckt zu Basel [Sebastian Henricpetri] 1588.

Johannes Herold, Diodori des Siciliers / vnd berümptesten Geschicht schreybers/ vonn angfang der Weldt biß zuo jrer bewonung/ vnd rhuomreichen herrschunge fürgefallener geschichten, in: Heydenweldt vnd irer Götter anfängklicher vrsprung […], Basel: H.Petri 1554.


›Wirkliche‹ Reiseberichte aus dem Hochmittelalter

Von einigen Männern können wir mit ziemlicher Sicherheit annehmen, dass sie wirklich weit gereist sind. Auch sie haben Wesen angetroffen, die wir von heute aus als irreal einstufen.

Der Franziskaner Piano Carpine (auch Johannes de Plano Carpini; † 1252) unternahm 1245/1247 eine Reise zu den Mongolen/Tartaren und lieferte nachher Papst Innocenz IV. einen sehr modern wirkenden ethnographischen Bericht ab.

Kapitel V, ¶ 31 erzählt er von Leuten, die Monster angetroffen haben, die wohl einen Menschenkopf hatten, deren Beine aber in Ochsenfüßen ausliefen. Sie hatten wohl einen menschlichen Kopf, aber ein Hundegesicht Zwei Worte sprachen sie wie ein Mensch, beim dritten aber bellten sie wie ein Hund.

Johannes Giessauf, Die Mongolengeschichte des Johannes von Piano Carpine : Einführung, Text, Übersetzung, Kommentar, Graz 1995 (Schriftenreihe des Instituts für Geschichte, Band 6)

Wilhelm von Rubruk ( † um 1270) unternimmt 1253 buis 1255 eine Reise über Konstantinopel bis Karakorum, der Hauptstadt der Mongolei. Er beschreibt seine Erlebnisse und die Sitten der angetroffenen Ethnien, aber keine seltsamen Wesen.

Guillaume de Rubrouck, Voyage dans l’empire Mongol, traduction et commentaire de Claude et René Kappler, Paris: Payot 1985.

Marco Polo († 1324). Messer Marco Polo, ein gebildeter edler Bürger aus Venedig, erzählt hier, was er mit eigenen Augen gesehen hat. Es gibt allerdings einzelnes, das er nicht gesehen, jedoch von vertrauenswürdigen Leuten vernommen hat. [...] Jeder Leser und jeder Zuhörer darf Vertrauen haben: das Buch handelt nur von wahren Begebenheiten. (¶ I) Es ist die reine Wahrheit. Dort kommen die fabelhaftesten Dinge vor. Wer davon hört, wird sich vor Verwunderung nicht fassen können. Der Reihe nach werde ich aufschreiben, was Messer Marco wirklichkeitsgemäß erzählt hat. (¶ CLVIII) So das Vorwort zum »Milione«; er hat sich immerhin 27 Jahre lang am Hof des Groß-Khans der Tataren aufgehalten. Aber die moderne Forschung stellt doch fest: »Es gibt Fälle, in denen Marco Polos Beobachtung anscheinend durch Bilderinnerungen getrübt wurde.« (Rudolf Wittkower), und der Illustrator des Codex 2810 der Bibliothèque Nationale holt seine Bilder aus der Tradition der Alexanderromans und anderer Quellen. Zu bedenken ist auch, dass seine Berichte von Rustichello da Pisa aufgezeichnet wurden, einem belesenen Verfasser von Ritterromanen.

Marco Polo, Il Milione – Die Wunder der Welt. Übersetzung aus altfranzösischen und lateinischen Quellen und Nachwort von Elise Guignard, Zürich: Manesse 1983.

Odorich von Portenau O.F.M.  (ital. Odorico da Pordenone; † 1331) schwört seinem franziskanischen Ordensvorgesetzten, dass alles, was er hat aufschreiben lassen, mit eigenen Augen oder von sicheren Gewährsleuten gehört hat (aut propriis oculis ego vidi aut ab hominibus fide digni audivi). Er berichtet von seiner Reise in den fernen Osten vor allem über das Verhalten der dortigen Völker; Abgötterei, Promiskuität, Kannibalismus, Hofzeremoniell, exotische Leichenbestattungen und Witwenverbrennungen. Im Gebiet des Kaukasus hört Odoricus – er gibt zu, dass es es selber nicht gesehen hat – von dem, was nachher bekannt wird als Kraut ›Borometz‹ und ›Bernickelgans‹: jn dem selbn chvnigreich da waksnt jnn frúcht, die man latein haisset peponez, vnd sind alß vnser eröpphel oder melonez. Si sind aber grösser dann ein grozz kúbis. Vnd wenn sie zeitig sind, daz man sie auff tuet, so vindt man ein tyrlein darinn, wol alß ein chlainez lempel [Lämmlein]. Vnd wie ez vnglawblich dunkcht, ez ist doch wol múglich, wann manign mann wol gewissn ist vnd auch mir, daz in Jbernia, in dem landt bey dem Schottnlantt eczlich pawm sint, da vogel wuff wachsnt, vnd die sind desselbn pawms rechte frucht, vnd wenn sie nider vallent, choment si auch auf dz wasser, so lebent si zehant vnd vliessnt ... (Zeile 852 ff.)

Konrad Steckels deutsche Übertragung der Reise nach China des Odorico de Pordenone, krit. hrsg. v. Gilbert Strasmann, Berlin: E. Schmidt 1968 (Texte des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit 20).

Wilhelm von Boldensele O.P., ursprünglich Otto de Nyenhusen († um 1339)


Das Bild in Breidenbachs Pilgerbericht, auf dem unter anderem ein Einhorn dargestellt ist, ist unterschrieben mit "Hec animalia sunt veraciter depicta sicut vidimus in terra sancta" – in der deutschen Fassung (Speier: Drach 1490) : Dise thier synt warlich abkunterfeyt als wir sie haben gesehen yn dem heiligen land. Das ist schlichtweg nur ein Werbegag.

 

Bernhard von Breydenbach: Peregrinatio in terram sanctam, Mainz: Erhard Reuwich 1486. / Die heyligen reyßen gen Jherusalem zuo dem heiligen grab, Mainz: Erhard Reuwich 1486. (Von dem unten rechts als Kamelführer dargestellte Wesen kennt der Autor keinen Namen: Non constat de nomine.)

Frederike Timm, Der Palästina-Pilgerbericht des Bernhard von Breidenbach und die Holzschnitte Erhard Reuwichs. Die ›Peregrinatio in terram sanctam‹ (1486) als Propagandainstrument im Mantel der gelehrten Pilgerschrift, Stuttgart: Hauswedell 2006.

Ein weiteres Beispiel: Bereits Plinius berichtet, dass im Inneren von Afrika das Volk der Blemmyer lebt: sie haben keine Köpfe, sondern Mund und Augen stehen auf der Brust (nat. hist. V, viii,46). Die Blemmyer gistern durch die Literatur: Isidor, Mandeville, Sebastian Münster, Hartmann Schedel kennen sie.

Der Pirat, Vizeadmiral und Weltreisende Sir Walter Raleigh (ca. 1554 – 1618) führt 1595 eine Expedition nach Südamerika durch, um dort El Dorado zu suchen. Ein Jahr später publiziert er 1596 seinen Reisebericht »The discoverie of the large rich, and bewtiful empyre of Guiana«. Er hat dort Blemmyer angetroffen:

Next unto Arui there are two rivers Atoica and Caura, and on that branch which is called Caura are a nation of people whose heads appear not above their shoulders; which though it may be thought a mere fable, yet for mine own part I am resolved it is true, because every child in the provinces of Aromaia and Canuri affirm the same. They are called Ewaipanoma; they are reported to have their eyes in their shoulders, and their mouths in the middle of their breasts, and that a long train of hair groweth backward between their shoulders.

Walter Ralegh’s Discoverie of Guiana, edited by Joyce Lorimer, Aldershot: Ashgate 2006 (Works issued by the Hakluyt Society. Third series; no. 15), p. 157; cf.. lxxii – lxxiv.

Montaigne

Montaigne (1533–1592) sagt in seinem Essai »Les Cannibales« (I,31 [nach anderer Zählung I,30]), er habe einen Bediensteten gehabt, der zehn oder zwölf Jahre in Brasilien gelebt hat. Der Mensch, welchen ich bei mir hatte, war einfältig und ungeschliffen, was eine günstige Voraussetzung für wahrheitsgetreue Aussagen ist. Denn die feinsinnigen Leute geben zwar sorgfältiger Acht und beobachten mehr Dinge; aber sie fügen gleich Kommentare hinzu, und um ihre Erklärungen glaubwürdig zu machen, sind sie versucht, die Geschichte etwas umzumodeln. Sie stellen die Sache nie unverfälscht vor, sondern drehen und verkleiden diese […]. Gefordert wird ein aufrichtiger oder einfältiger Mensch, der seinen falschen Erfindungen keine Wahrscheinlichkeit zuschreiben kann und unvoreingenommen ist. Meiner war von dieser Art.

Cet homme que j’avoy, estoit homme simple et grossier, qui est une condition propre à rendre veritable tesmoignage: car les fines gens remarquent bien plus curieusement et plus de choses, mais ils les glosent; et, pour faire valoir leur interpretation et la persuader, ils ne se peuvent garder d’alterer un peu l’Histoire: ils ne vous representent jamais les choses pures, ils les inclinent et masquent selon le visage qu’ils leur ont veu; et, pour donner credit à leur jugement et vous y attirer, prestent volontiers de ce costé là à la matiere, l’alongent et l’amplifient. Ou il faut un homme tres-fidelle, ou si simple qu’il n’ait pas dequoy bastir et donner de la vray-semblance, à des inventions fauces; et qui n’ait rien espousé. Le mien estoit tel.

Die hermeneutische Denkfigur ist interessant: der Unverbildete, homme simple et grossier, (ob es den Knecht gab, oder ob es unverbildete Menschen überhaupt geben kann, sei dahingestellt)  beschreibt empirisch exakter als les fines gens, die ihren angelesenen Topoi ausgeliefert sind oder sie zur rhetorischen Erzeugung von Glaubwürdigkeit einsetzen.

Theodor de Bry (1528–1598)

berichtet, er habe 1600 eine wunderliche Creatur selber gesehen: (S.192)

Dann als ich einmal deß Morgens ſehr frühe an dem Vfer nahe bey dem Meer⸗hafen S. Johañis ſtunde / kam ein Meerwunder mit groſſer Geſchwindigkeit dahero geſchwummen: Es war aber ſehr ſchöͤn / ſahe gleich einer Jungfrawen an Angeſicht / Augen / Naſe / Ohren / Kien/ Maund / Halß vnd Stirn / hatte auch Haar / welche blawlecht außſahen / vnnd jhm vber die Schultern heraber hiengen: Vnd wie mich dauchte / ſo waren es rechte Haar / dann ich ſolches Meerwunder mit meinem Diener / ſo noch lebet / lang vnd wol hab angeſehen: Als es aber noch eines langen Spieſſes weit von vns war / erſchracke ich ſo ſehr / daß ich zurück wiche. Welches als es ſolche Creatur ſahe / fuhre es hinunder in das Waſſer / vnd kame bald wider herfuͤr / begabe ſich auch an den Ort / da ich zu Land war ankommen: Da hab ich es von weitem noch ein wenig angeſehen / vnnd hat mich beduncket / es ſehe von oben herab biß auff den Nabel einem Menſchen gleich / aber von dem Nabel an biß vnden auß einem Fiſch: wie es aber auff der andern Seyten oder von hinden vom Halß biß an den Nabel außſehe / hab nicht geſehen.

Eben dieſes Wunderthier iſt kurtz darauff kommen zudem Schiff / darinnen war Wilhelm Hacobridge / zu der Zeit mein Diener / jetzunder Capitan in den Morgenlaͤndiſchen Indien. Vnd als es gar an das Schiff iſt kommen / hat es ſich mit aller Gewalt vnderſtanden in das Schiff hinein zu ſteigen / daruͤber dann die jenige / ſo im Schiff waren / ſehr beſtuͤrtzet worden / vnd haben mit Bengeln auff ſolches Meerwunder zugeſchlagen / daß es wider in das Waſſer hinein ſich hat begeben Es iſt auch dieſes Meerwunder noch zu zweyen andern Schiffen kommen / darüber dann die Schiffleute alſo ſeyn erſchrocken / daß ſie ſich auß dem Schiffe zu Sand begeben haben.

Weil nun viel von den Meerwunder ond Syrenen / vnderſchiedlich wird geſchrieben / hab ich dieſes allhier auch anzeigen und melden woͤllen / als der ich es ſelbſten ſampt vielen andern habe geſehen. Ob aber eben dieſes Wunderthier allhie sin Syren oder etwas anders ſey geweſen / will ich andere darüber diſputieren laſſen.

Newe Welt vnd Americanische Historien. Inhaltende warhafftige und vollkommene Beschreibungen aller West-Indianischen Landschafften, Insulen, Königreichen und Provintzien, Seecusten, fliessenden und stehenden Wassern, Port und Anländungen, Gebürgen, Thälern, Städt, Flecken Wohnplatzen, zusampt der Natur und Eygenschafft dess Erderichs, der Lufft, der Mineren und Metallen, der Brennenden Vulcanen oder Schwefelbergen, der Siedenden und anderer Heilsamen Quellen, wie auch der Thier, Vögel, Fisch und Gewürm in denselben, sampt andern Wunderbaren Creaturen und Miraculn der Natur, in diesem halben Theil dess Erdkreyses. Dessgleichen gründlicher Bericht von der Inwohner Beschaffenheit, Sitten, Qualitäten, Policey und Götzendiesnst, Leben und Wesen, Barbarischer Unwissenheit und unerhörter Grausamkeit dess meisten theils dieser Wilden Leuthe, sampt Unterscheid der Nationen, Sprachen und Gebräuchen. Item, historische und aussführliche Relation 38. Fürnembster Schiffarten underschiedlicher Völcker in West-Indien, von der ersten Entdeckung durch Christophorum Columbum, in 150. Jahren, vollbracht, Franckfurt: Merian 1655 (ed. Johann Ludwig Gottfried)
> https://archive.org/details/neweweltvndameri00gott/page/192/mode/2up

 

Literaturangaben


Rudolf Wittkower, Die Wunder des Ostens. Ein Beitrag zur Geschichte der Ungeheuer, in: R.W., Allegorie und der Wandel der Symbole in Antike und Renaissance, Köln: Du Mont 1983, S.87-150. = Rudolf Wittkower, Marvels of the East. A Study in the History of Monsters. In: Journal of the Warburg and Courtauld Institutes, 5 (1942), S. 159–197.

Roy A. Wisbey, Wunder des Ostens in der Wiener Genesis und in Wolframs Parzival, in: Studien zur Frühmittelhochdeutschen Literatur. Cambridger Colloquium 1971, hg. L.P. Johnson et al., Berlin 1974, S. 180–214.

Uwe Ruberg, Die Tierwelt auf der Ebstorfer Weltkarte im Kontext mittelalterlicher Enzyklopädik, in: Hartmut Kugler (Hg.), Ein Weltbild vor Columbus. Die Ebstorfer Weltkarte. (Interdisziplinäres Kolloquium 1988), Weinheim: VCH 1991, S. 319–346.

Stefan Deeg, Strategien der Fremddarstellung in Reiseberichten, in: Schriften zur Symbolforschung Band 8, Peter Lang, Bern 1992, S.163–191.

Stephen Greenblatt, Wunderbare Besitztümer. Die Erfindung des Fremden. Reisende und Entdecker, Berlin: Wagenbach 1994 (englisch: Marvelous possessions, Oxford 1991).