Götter fremder Völker
Aus dem Buch »Spinnenfuß & Krötenbauch. Genese und Symbolik von Kompositwesen« ••• Zunächst ein Relief, das die Orientalisten viel Interpretationsarbeit gekostet hat: Rechts steht ein Mischwesen mit auf dem Rücken gefesselten Händen, das einen flauschigen Rock trägt und von der Taille aufwärts nackt ist. Sein Kopf hat die Form einer zwölfzackigen Sonnenscheibe; darin ein einzelnes Auge, wie der Zyklop. Auf der linken Seite hält ein Kriegergott (?), den Bogen über die Schulter geworfen, das Wesen an einem der ›Sonnenstrahlen‹ fest und stößt ihm ein Messer in den Bauch: Forschungs-Literatur dazu: Andrew George, Nergal and the Babylonian cyclops, in: Bibliotheca Orientalis 69/5–6 (2012), pp.421–425
••• Seit dem Zeitalter der Entdeckungsreisen sind die christlichen Europäer mit fremden Religionen in Kontakt gekommen. (Vorher war die Auseinandersetzung mit der heidnischen Antike, dem Judentum und dem Islam ein Feld zur Herausbildung des rhetorischen Rüstzeugs.) Für Angehörige einer dogmatisch streng ausformulierten Religion war es schwierig, eine gänzlich fremde Religion zu verstehen oder gar gelten zu lassen. Es haben sich verschiedene Interpretationsmuster entwickelt:
Die Einsicht ist nicht ganz neu. Francis Bacon (1561–1626) schreibt im »Novum Organon« (1620): Der menschliche Verstand gleicht einem hinsichtlich der Strahlen der Dinge unebenen Spiegel, der seine Natur mit der Natur der Dinge vermischt, sie entstellt und verdirbt. (Est intellectus humanus instar speculi inaequalis ad radios rerum, qui suam naturam naturae rerum immiscet, eamque distorquet et inficit.; I,41) — Francis BACON, Neues Organon (1620), hg. von Wolfgang Krohn, Hamburg: Meiner 1990 (lat. Text der Ausgabe von James Spedding et al., 1858; dt. Übersetzung Rudolf Hoffmann, Berlin [DDR] 1962) Im berühmten Artikel »Préjugé« schreibt der Chevalier de Jaucourt 1765: l’esprit humain, loin de ressembler à ce crystal fidele, dont la surface égale reçoit les rayons & les transmet sans altération, est bien plutôt und espece de miroir magique, qui défigure les objets, & ne présente que des ombres ou des monstres. — [Diderot / d’Alembert] Encyclopédie, Band 13 (1765), S. 284.
••• Hier eine Fallanalyse anhand einer indischen Gottheit. Ludovico de Varthema (c. 1470–1517) bereiste zwischen ca. 1502 und 1507 den Nahen Osten und Indien. Sein Bericht ist früh übersetzt worden; eine lateinische Ausgabe erschien 1532. Vom König von Kalkutta heisst es, dass er den Teufel anbetet: Zuo wissen das der künig zuo Calicut die bildnuß des teyfels hält in seinem palast in ainem gepew [Gebäude] wie ain Capell die da weyt ist zwen schryt auff alle fyer ortt vnd dreyer schryt hoch mit ainer hültzen tür die alle durch schniten mit erhaben teyfelen. Und in der mitten dieser capell ist ayn sessel darauff sytzt ain teyfel gegossen von glogenspeyß vnd metall/ Hat ain kron auff dem kopff geleych wie ain bäbstliche kron myt dreyen kronen. Hat fyer hörner auff dem kopff/ Vnd fyer groß zen mit ainem vngestalten weyten offen maul/ Die naß vnd augen greylichen an zuo sechen/ Seine hend gemacht geleych wie die haggen/ Vnd die füeß wie aines hanen fuoß/ Alles so forchtsam gestalt das es erschrockenlich ist an zu sechen.
Die Bilder und ihre Deutung haben eine lange Tradition; sie tradieren sich selbständig von Buch zu Buch, ohne dass sie vor Ort überprüft worden wären. Ein späterer Redaktor von Sebastian Münsters »Cosmographie« hat im 5. Buch, Cap.82 zum Volck von Calikuth den Text aus dem Buch von Ludovico de Varthema 1515 übernommen und das Bild neu schneiden lassen. Pierre Boaistuau übernimmt den Calicuter Götzen in seine »Histoires prodigieuses« (1560) aus Vartomannus. Er schreibt zu diesem Prodige de Sathan u.a.: Le second lieu où Sathan a tenu son throsne, et s’est faict revere avec grand merveille, et magnifier comme Dieu, est encore aujourd’huy en essence, c’est en Calicut, l’une des plus opulentes et fameuses citez des Indes […]. Soubz la plus hideuse et abhominable forme qu’on ayt accostumé de le despeindre il veult estre contemplé, et reveré des tous. L’effigie duquel le Roy tient en sa chappelle comme querlque sanctuaire, et est la figure du faulx Imposteur assise en une chaire de leton, portant sur sa teste unde couronne faicte comme un tyare, avec trois couronnes, mais elle a d’avantage quatre cornes, quatres dens avec une grand bouche ouverte, le nez et les yeulx de mesme, les mains comme un Singe, les piedz comme un Coc […]. Pierre Boaistuau, Histoires prodigieuses, (Édition de 1561), édition critique établi par Stephen Bamforth et annoté par Jean Céard, Genève: Droz, 2010 (Textes littéraires français 605); pp. 357–364 plus Kommentar. – Die Wellcome Library in London besitzt eine Handschrift (Ms 136). Jan Huygen van Linschoten (1563–1611), »Voyage ofte schipvaert van Jan Huyghen van Linschoten naer Oost ofte Portugaels Indien«, 1579-1592 kennt den Götzen ebenfalls (vgl. von Wyss-Giacosa Abb. 106) Der Kupferstecher und Verleger Johann Theodor de Bry (1561–1623) publizierte mit seinen Ost–Indischen Reisen Werke, die von weitgereisten Forschern geschrieben waren. Auch hier finden wir (in »India orientalis« III, 1599) das Götzenbild wieder, und zwar als Idolatria et superstitio Chinesium in Bantam (Kap. XXIV): Hier aus: Icones Sive Expressae Et Artifitiosae Delineationes Quarundam Mapparum, Locorum Maritimorum, Insularum, Urbium, & populorum: quibus & horundem vitae, naturae, morum, habituumque descriptio adiuncta est: Veluti haec omnia, in Indica navigatione versus Orientem sucepta, diligenter observata, adeoque tribus hisce Indiae Orientalis descriptae libris inserta sunt : Ubi Mappis Et Iconibus Singulis brevis quaedam & necessaria explicatio seorsim subdita est / Omnia Scita Et Diligenti Industria In Aes Incisa, Et Ob Oculos Posita a Joan. Theod. & Joan. Israele de Bry fratribus & civibus Francofurtensibus ad Moenum, Francofurti: Bry / Becker 1601. Der holländische Missionar Abraham Rogerius († 1649) lebte zehn Jahre in Indien und beschrieb den Glauben der Bramines nach seiner Rückkunft in seinem Werk »Gentilismus Reseratus«, holländisch: »De Open-Deure tot het verborgen Heydendom ofte Waerachtigh vertoogh van het leven ende zeden, mitsgaders de Religie ende Gotsdienst der Bramines op de Cust Chormandel ende der landen daar ontrent Leyden 1651«. Eine deutsche Übersetzung erscheint 1663. Der Übersetzer Christoph Arnold hat das Buch erweitert, indem er die ihm erreichbare Literatur über fremde Religionen zusammentrug. Hier berichtet er auch über die Götter der Chinesen, indem er Theophil Gottlieb Spitzel (Spizelius, 1639–1691) »De re literaria Sinensium commentarius« 1660 zitiert, der seinerseits sein Wissen aus Büchern der jesuitischen China-Missionare bezog. – Aber der alte Varthema scheint alle empirische Anschauung zu übertönen, wenn es heisst:
Und noch Eberhard W. Happel (1647–1690) beschreibt den Calecutischen Götzen=Dienst 1689 mit demselben abgeschriebenen Text. Dann ändert er: Der Mund ist weit aufgesperret/ woraus zum Theil ein kleines Kind hänget. In der einen Hand hält er ein ander Kind/ welches er gleicher Gestalt zu verschlucken drohet. Sie sagen [so lautet ja der Text bei Varthema 1515; aber die Vorstellung eines Menschopfer ist angetönt] diese Kinder seyen Seelen der Menschen.
Merkwürdig ist die zählebige Tradition der Texte und Bilder. Das kann ja darauf beruhen, dass die europäischen Reisenden tatsächlich Kenntnis derselben fremden Gottheit (in kleineren Variationen) hatten. Aber aufgrund unmittelbarer Anschauung oder vom Hören-Sagen? Sind die Bilder vor Ort gezeichnet oder sind sie nicht eher aus dem Text entwickelt und dann voneinander kopiert? Man wird das Gefühl nicht los, es handle sich um einen Selbstläufer, kolportiertes Wissen, nicht Emprie. Literaturhinweise:Paola von Wyss-Giacosa, Religionsbilder der frühen Aufklärung : Bernard Picarts Tafeln für die "Cérémonies et Coutumes religieuses de tous les Peuples du Monde", Wabern: Benteli 2006. Ludovico de Varthema, Reisen im Orient, eingeleitet, übersetzt und erläutert von Folker Reichert, Sigmaringen: Thorbecke 1996. |