Orte der Versicherung \ Versickerung

Auswählen – sichern – erschliessen – publik machen


Thema der Tagung am 8. September 2018 (im Archiv für Zeitgeschichte der ETH Zürich) war die Reflexion der Bedingungen, unter denen Entscheidungen über Aufbewahrung und Nicht-Aufbewahrung getroffen werden.

Was nützt das Bewahren, und was das Verwerfen? Ein Kolloquium zur Flüchtigkeit des in Museen, Archiven und Bibliotheken aufbewahrten Kulturerbes.

"Erben" lässt sich definieren als kommunikative Beziehung: Was jemand zu einem bestimmten Zeitpunkt ver-erbt, er-erbt zu einem späteren Zeitpunkt jemand anderes. Über den Gebrauch (und: die Wertschätzung) des weitergegebenen "Guts" hat der Erblasser keine Kontrolle: Aus den Händen heisst "aus dem Sinn". Ausser es handelt sich bei dem zu Vererbenden um ein allgemeines Gut von öffentlichem Interesse, das allen gehört; dann ist die Allgemeinheit auch betroffen von zentralen Fragen des (Auf-)Bewahrens und Zugänglichmachens und hat ein Recht der Mitsprache.

Die traditionellen Stätten der Bewahrung von mobilen Kulturgütern sind Museen, Archive und Bibliotheken. Wie sie mit dem einmal anvertrauten Kulturerbe weiter umgehen im Lauf der Zeit, und in Zeiten neuer Medien, aber auch zunehmend beschränkter Ressourcen; das war Thema des Kolloquiums.

Die gemeinsame Reflexion der Bedingungen, unter denen Entscheidungen über Aufbewahrung und Nicht-Aufbewahrung getroffen werden. stand im Zeichen der folgenden drei Fragen:

Archivieren als Discardieren: WAS wird WARUM (nicht) aufbewahrt?

  • Welche Inhalte werden aufbewahrt? (z.B. auch Tagesschau, Unterhaltungsprogramme?)
  • Welche Arten von Medien werden aufbewahrt? (z.B. Flachware, Objekte, immaterielles Kulturerbe)
  • Nach welchen Kriterien erfolgt die Auswahl für die Aufbewahrung? Mit welchen Gründen wird aufbewahrt bzw. weggeworfen?
  • Wie erfolgt die Anwendung der Kriterien auf die einzelnen Medien?
  • Welche Wertsysteme und (verdeckte) Ideologien liegen den Auswahlkriterien und deren Anwendung zugrunde?
  • Wer legt die Kriterien und deren Anwendung fest?
  • Wie und durch wen werden die Kriterien und deren Anwendung revidiert?

Speichern: WIE wird aufbewahrt?

  • Welche Speichertechniken bzw. -medien kommen wo und wofür zum Einsatz?
  • Wie wird mit dem Verfallsdatum von Speichermedien umgegangen? (z.B. Langzeitarchivierung bei Digitalisaten)
  • Welche Speichermedien sind für welche Funktionen geeignet? (z.B. Langzeitspeicherung, Zugänglichmachen für Publikum)
  • Inwiefern werden Originale durch Substitute abgewertet?
  • Wie kann immaterielles Kulturerbe gespeichert werden?

Findmittel: WIE wird Archiviertes erschlossen und öffentlich zugänglich gemacht?

  • Nach welchen Aspekten wird Archiviertes erschlossen? (Wandel der Kategorien und Schlagworte)
  • Wie kann das Publikum auf Archiviertes aufmerksam gemacht werden, das nicht in seinem Horizont liegt?
  • Welche Vorbedingungen für die Nutzung gibt es hinsichtlich Kompetenzen? (z.B. Lateinkenntnisse, Fraktur lesen können)
  • Welche Vorbedingungen für die Nutzung gibt es hinsichtlich Interessen? (z.B. Interesse schaffen, Museen als Spielstätten)
  • Welche Vorbedingungen für die Nutzung gibt es hinsichtlich Austausch? (z.B. Foren analog zu Lesezirkeln)

Die Tagung richtete sich ebenso an Forschende geistes- und kulturwissenschaftlicher Disziplinen auf allen akademischen Stufen wie auch an eine breite Öffentlichkeit, die an Fragen der Kanonisierung, (Auf-)Bewahrung und Nutz-barmachung von Quellen interessiert ist.

Die Tagung wurde organisiert von der Schweizerischen Gesellschaft für Symbolforschung in Kooperation mit der Schweizerischen Gesellschaft für Kulturwissenschaften SGKW (www.culturalstudies.ch) — Zuständig sind: Ursula Ganz-Blättler — Beate Schappach — Vivianne Berg

Die Tagung stand im Rahmen einer von der SAGW organisierten Reihe zum Europäischen Kulturerbejahr 2018. Mehr dazu auch hier. Sowie auf dem Flyer der SAGW.

Tagungsprogramm am 8. September 2018

(Klick auf den Namen führt zum Exposé unten)

ab 9 Uhr
 Eintreffen bei Kaffee und Gipfel
 9:40 Uhr
Daniel Nerlich / Jonas Arnold: Bewerten, Sichern, Erhalten, Vermitteln. Kernprozesse im Archiv für Zeitgeschichte
10:40 Uhr
Jürg Goll: Archäologische Dokumente gesammelt und wiederentdeckt
11:40 Uhr
Simone Gfeller: Inventarisierung, Systematisierung und Erschliessung. Der Nachlass von Oskar Eberle – ein Beispiel aus der Praxis
12:45 Uhr
 Steh-Apéro mit Gesprächen
14:00 Uhr
Jann Jenatsch: Quantität und Qualität des Aufbewahrens (Moderation: Vivianne Berg)
15:00 Uhr
Andreas Kilcher: Umgang mit zerstreuten jüdischen Büchern. Der Fall der ›Breslauer Sammlung‹ der ICZ-Bibliothek
16:00 Uhr Kaffeepause
16:30 Uhr
Heidy Greco-Kaufmann: Verschollene Manuskripte, verborgene Quellen und rätselhafte Dokumente. Archive als Schatzkammern der Theaterhistoriografie
17:30 Uhr
Cécile Vilas: Sicherung und Valorisierung des bedrohten audiovisuellen Kulturgutes (Moderation: Ursula Ganz-Blättler)

 

Abstracts der Referentinnen und Referenten

Heidy Greco-Kaufmann

(Institut für Theaterwissenschaft, Universität Bern / Schweizer Archiv der Darstellenden Künste, SAPA)

»Verschollene Manuskripte, verborgene Quellen und rätselhafte Dokumente: Archive als Schatzkammern der Theaterhistoriographie«

Theater lebt von der Unmittelbarkeit der physischen Präsenz von Agierenden und Zuschauenden. Es liegt in der Natur der Sache, dass Theater – im Gegensatz zu medial vermittelten Künsten, die Artefakte wie Bilder, Skulpturen, Filme etc. generieren, – nur durch fragmentarische und mehr oder weniger zufällige Zeugnisse überliefert ist. Die Dokumentation von Schauereignissen ist umso dürftiger je weiter sie in der Vergangenheit liegen. Mein Beitrag befasst sich mit der speziellen Überlieferungssituation des Theaters der Vormoderne. Am Beispiel Luzern wird aufgezeigt wie Archivbestände für die Theatergeschichtsschreibung des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit genutzt werden können.

Eine bebilderte Kurzfassung des Referats vom 8.September 2018 findet sich hier als PDF

Und der Aufsatz dazu ist erschienen: Heidy Greco-Kaufmannn, Die Theatralsiserung des Heilgen Grabes. Beispiele aus der Schweiz, in: European Medieval Drama 22 (2018), pp. 57–88.

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Simone Gfeller

(Institut für Theaterwissenschaft, Universität Bern / Schweizer Archiv der Darstellenden Künste, SAPA)

»Inventarisierung, Systematisierung und Erschliessung: Der Nachlass von Oskar Eberle – ein Beispiel aus der Praxis«

In 180 Archivschachteln lagert im Schweizerischen Archiv der Darstellenden Künste in Bern der Nachlass des Schweizer Regisseurs, Theaterhistorikers und Dramatikers Oskar Eberle. Eberle, eine der einflussreichsten und prägendsten Schweizer Theaterpersönlichkeiten der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, sammelte einerseits Materialien zu seinem eigenen praktischen Theaterschaffen, andererseits aber auch Quellen, die seinen kulturpolitischen Einfluss und seine Tätigkeit als Mitbegründer der Schweizerischen Gesellschaft für Theaterkultur (SGKT) und Herausgeber ihrer Schriften dokumentieren. Ein kurzer Blick in die umfangreichen Bestände genügt, um die Umtriebigkeit und die Bedeutsamkeit von Eberle zu erahnen. Eine wissenschaftlich fundierte Auseinandersetzung mit dem Leben und Schaffen Oskar Eberles bedingt eine gründliche Aufarbeitung der Quellen im Nachlass. Doch unter welchen wissenschaftlichen Kriterien soll ein Nachlass mit Theaterbezug erschlossen werden? Welche Probleme ergeben sich bei der Systematisierung des Materials und in welcher Form kann der Nachlass wissenschaftlich genutzt werden? Mein Beitrag beschreibt zum einen den Prozess der Erschliessung und Systematisierung des Nachlasses Eberle und fokussiert zum anderen praktische Probleme, die sich im Zuge der wissenschaftlichen Aufarbeitung stellen werden.

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Jürg Goll

(Bauhütte Kloster Müstair)

»Archäologische Dokumente gesammelt und wiederentdeckt«

Archäologische Funde und Dokumentationen sind wertvolle Quellen für die Erforschung früherer Lebensumstände. Weil die Archäologie ohnehin nur mit einem Bruchteil der damaligen Hinterlassenschaft zurechtkommen muss, ist alles wichtig und wird aufbewahrt. Damit verbindet sich die Hoffnung, dass das Material dereinst ausgewertet wird. Dieser Glaube in die Zukunft bedingt eine wohlüberlegte, systematische Archivierung. 
Wer wie im Kloster Müstair seit 50 Jahren sammelt, kann schon mal den Überblick verlieren, auch wenn Sammlung säuberlich in Listen erfasst ist. Denn diese Listen haben ebenfalls ihre Epochen durchlaufen. Nach wenigen Jahren reichte die Nennung im Tagebuch nicht mehr. Es mussten maschinengetippte Inventare angelegt werden. Mit dem anbrechenden Computerzeitalter wurde die Erfassung in Datenbanken ein Muss. Leider reichte der Speicherplatz noch nicht für Bilder. Mit neuen Möglichkeiten wuchs der Appetit nach leitstungsfähigeren Findmitteln. So blieb man über Jahre mit dem Füttern und Nachbessern beschäftigt. Die Datenbanken sind jedoch unentbehrlich und erleichtern die Auswertungsarbeit erheblich. Sowohl für neue, als auch für alt eingesessene Bearbeiter wächst mit zunehmender Materialmenge das Entdeckungs- und Überraschungspotential.

Eine bebilderte Kurzfassung des Referats vom 8.September 2018 findet sich hier als PDF.

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Daniel Nerlich / Jonas Arnold

(Archiv für Zeitgeschichte ETH Zürich)

»Bewerten, Sichern, Erhalten, Vermitteln – Kernprozesse im Archiv für Zeitgeschichte«

Das Auftaktreferat des Kolloquiums beantwortet die zur Diskussion gestellten Hauptfragen nach den Möglichkeiten und Bedingungen einer Aufbewahrung / Nicht-Aufbewahrung von Kulturgütern in Archiven, Bibliotheken und Museen als Gedächtnisinstitutionen anhand von konkreten Beispielen aus der Sammlungspraxis des Archivs für Zeitgeschichte der ETH Zürich. Neben konzeptuellen Aspekten wie der Sammlungsprofilierung werden Lösungswege für praktische Fragen etwa bei der Archivierung digitaler Daten aufgezeigt. Ziel des Referats ist es, eine Vergleichsbasis als Diskussionsgrundlage für die weiteren Beiträge des Kolloquiums zu schaffen, inklusive Klärung der grundlegenden Fachbegriffe.

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Andreas Kilcher

(Literatur- und Kulturwissenschaft an der ETH Zürich)

»Umgang mit zerstreuten jüdischen Büchern: Der Fall der ›Breslauer Sammlung‹ der ICZ-Bibliothek«

Die sogenannte ›Breslauer Sammlung‹ der Bibliothek der Israelitischen Cultusgemeinde Zürich (ICZ) war in den letzten Jahren Gegenstand öffentlicher Aufmerksamkeit, weil sie zur Disposition stand und erfolgreich erhalten werden konnte. Dabei spielt die historische Bedeutung dieser Sammlung eine entscheidende Rolle: Sie ist Relikt der ehemaligen grossen Bibliothek der ersten und wichtigsten modernen jüdischen Lehranstalt, des jüdisch-theologischen Seminars in Breslau, die 1938 von den Nationalsozialisten teils zerstört, teils geraubt wurde. Das ehemalige Raubgut gelangte nach dem Krieg, vermittelt durch Hanna Arendt, in Teilen in die Schweiz, u.a. an die den Besitz der ICZ. Nicht nur die Geschichte dieser fragmentarischen ›Sammlung‹ sowie die technischen Fragen ihrer Archivierung sind bemerkenswert, sondern auch der von ihr ausgehende, auch neuerliche Diskurs über kulturelle, politische und ökonomische Grundfragen der Archivierung eines historisch so komplexen Bestandes, der auch ein wesentlicher Anlass dafür war, dass die ICZ Bibliothek 2009 den Titel »Kulturgut von nationaler Bedeutung« erhielt. Der Beitrag geht von der Geschichte dieses Bestandes aus, um sodann den Umgang mit ihm angesichts dieser Geschichte zu untersuchen.

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Cécile Vilas

(Direktorin Memoriav)

»Sicherung und Valorisierung des bedrohten audiovisuellen Kulturgutes –
Memoriav – das Schweizer Netzwerk zur Erhaltung des audiovisuellen Kulturerbes«

Video, Tonkassette oder Film – im »Kulturerbejahr 2018« gilt es, ganz besonders auf die drohende Gefahr der ›Versickerung‹ des audiovisuellen Kulturerbes hinzuweisen.

Seit den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts wächst die Anzahl der Zeitzeugnisse auf audiovisuellen Trägern exponentiell an. Das audiovisuelle Medium steht originär nicht nur für sich, sondern es spielt auch eine wichtige Rolle für die Bewahrung und Vermittlung des immateriellen Kulturerbes oder der performativen Künste.

Bedingt durch seine Materialität ist das  audiovisuelle Kulturgut – im Gegensatz zu den Trägermaterialien Pergament oder Papier – flüchtig und seine Nutzung zeitlich begrenzt.

Es braucht deshalb zur langfristigen Konservierung von audiovisuellen Trägern, nebst entsprechenden Mitteln, auch viel technisches Wissen und fachliche Begleitung.

Das Audiovisuelle ist zudem so präsent und alltäglich, dass es nicht immer unmittelbar mit dem Begriff ›Kulturerbe‹ verbunden wird.

Das Netzwerk Memoriav setzt sich deshalb seit über 20 Jahren für die langfristige Erhaltung und Valorisierung des audiovisuellen Kulturgutes ein und leistet durch die Vermittlung von Kompetenz und Fördermitteln einen wichtigen Beitrag zur Sicherung dieses modernen Kulturgutes der Schweiz.

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Jann Jenatsch

(Leiter des operativen Geschäfts der fusionierten KEYSTONE-SDA)

Quantität und Qualität des Aufbewahrens

1997 wurden bei KEYSTONE 40'000 Bilder digital abgespeichert, davon 10'000 Bilder aus der Schweiz. Bereits drei Jahre später, im Jahr 2000, waren es doppelt so viele – heute sind es 20'000 Bilder in einem Monat. Das digitale Bildangebot von KEYSTONE zählt derzeit rund 16 Millionen Bilder. Hinzu kommen etwas über 11 Millionen Bilder in Form von Glasplatten, Prints, Negativen und Diapositiven. Damit verfügt KEYSTONE über eines der bedeutendsten historischen Fotoarchive der Schweiz. Es ist ein fast unendlicher Fundus zur sozialen Geschichte unseres Landes und weit darüber hinaus. Doch – nicht einmal fünf Prozent davon sind digitalisiert.

Das älteste Bild ist ein Print von ca. 1870, es ist ein Portrait von Richard Wagner. Das jüngste Bild entsteht in diesen Minuten. Wird es in 150 Jahren noch greifbar sein? Der Fotograf schickt seine digitalen Daten via Internet zur Qualitätskontrolle an die Redaktion oder, je nach Anlass, direkt an die Medien. Im analogen Zeitalter dauerte die Übermittlung eines Bildes rund sieben Minuten, heute ist ein Bild wenige Minuten nach dem entscheidenden Moment auf dem Netz, sozusagen ›live‹.

Neben den aktuell zugänglich gemachten Bildern werden alle Originaldaten auf separaten Datenträgern abgespeichert und im Archiv gelagert. Es sind die gleichen Prozesse wie im analogen Zeitalter, vor dem Jahr 2000. Da wurde ein Film entwickelt, eine Auswahl getroffen, eine Vergrösserung hergestellt und via analoger Telefonleitung, später via Satellit, an die Medien verschickt. Die nicht verwendeten Negative wurden archiviert, weggeworfen wurde nichts.

Die Beurteilung von Bildern verändert sich über die Jahre. Häufig verändert sich die Auswahl des Bildmaterials aufgrund einer neuen Beurteilung oder ästhetischen Sichtweise. Der archivarische Ansatz aus dem Jetzt ist fast nicht einlösbar. Alles wird behalten. Die Verdichtung erfolgt über die Jahre. Nach einem Jahr sind es vielleicht ein Zehntel des gesamten Materials, der relevant bleibt. Nach zehn Jahren noch einmal ein Zehntel davon. Erst aus grössere Distanz kehrt sich dieses Verhältnis wieder um. Vor einem Jahr, bei der Überarbeitung der 68er-Bewegung, wurden aus den analogen Archiven rund 1000 Bilder allein aus der Schweiz aufbereitet und zugänglich gemacht.

Zur Geschichte von KEYSTONE: »Die Bildagentur im Wandel der Zeit« (PDF zum Download)

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Bilanzierende Gedanken (U. G.-Bl.)

❖ Dialektik des Konservierens und Discardierens

In seinem Vortrag zur Bauhütte Kloster Müstair ging Jürg Goll unter anderem darauf ein, dass man sich angesichts verschiedener Schichten von Wandmalereien dafür entschieden hat, die älteste Schicht zu konservieren und der Öffentlichkeit zugänglich zumachen und dafür die jüngeren Schichten abzutragen und damit zu zerstören. ⇨ Zugänglichmachen und Zerstören können in einem dialektischen Verhältnis stehen.

❖ Gleichzeitigkeit von Bewahren und Discardieren

Andreas Kilcher führte zwei Beispiele für Bewahren unter negativen Vorzeichen aus: Die Aufbewahrung zerlesener Bücher aus Bibliotheken von Synagogen in Speichern und die systematische Sammlung jüdischer Literatur durch die Nationalsozialisten zeigen, dass Discardieren und Aufbewahren auch zusammenfallen können.

❖ Dialektik von Forschungsfreiheit und Datenschutz

In ihrem Einführungsvortrag haben Daniel Nerlich und Jonas Arnold darauf hingewiesen, dass Archive die Interessen der Aktenproduzierenden sowie der Aktennutzenden wahren müssen. Dabei kommt es nicht selten zum Konflikt zwischen Persönlichkeitsrechten und Urheberrecht auf der eine Seite und Öffentlichkeitsprinzip und Forschungsfreiheit auf der anderen Seite. ⇨ Zugänglichmachen und Bewahren können in einem dialektischen Verhältnis stehen.

❖ Diskrepanz zwischen Primär- und Sekundärwert

Die Beispiele des ersten Fotos eines Passanten in der Presse in Jann Jenatschs Vortrag über Keystone sowie der Mörtelsammlung von Jürg Goll zeigen, dass zwischen dem Wert eines Artefakts im Kontext seiner Produktion und seinem Wert für die Nachwelt eine grosse Differenz besteht. Beide Werte sind im Verlauf der Zeit grossen Schwankungen unterworfen. So ist der Primärwert in beiden Beispielen zunächst hoch, nimmt im Verlauf der Zeit aber deutlich ab. Der Sekundärwert wird zunächst als gering eingeschätzt, nimmt jedoch zu, je älter das Artefakt ist.

❖ Doppelperspektivität des Archivierens zwischen Vergangenheit und Zukunft

Simone Gfellers Vortrag zur Erfassung des Nachlasses von Oskar Eberle machte deutlich, dass die Auswahl und Katalogisierung von Artefakten im Spannungsverhältnis zwischen der Vergangenheit der Artefakte, der die Inventarisierung gerecht werden sollte, und der Eröffnung von zukünftigen Forschungsperspektiven erfolgt. Wissenswertes und Wissensmögliches Die Inventarisierung von Artefakten erfolgt nach Massgabe des Wissenswerten und des Wissensmöglichen (Jürg Goll). Diese beiden Kategorien sind historischem Wandel unterworfen. Daher haben nicht nur historische Artefakte einen Sekundärwert, sondern auch historische Inventare.

❖ Komplementarität von Bewahrungs- und Deutungskompetenz

Heidy Greco-Kaufmanns Fallstudien zum „Convivii Process“ und dem Donaueschinger Bühnenplan zeigen, dass die Expertise der Aufbewahrung und den Erhalt historischer Dokumente und die Expertise bei deren Kontextualisierung und Deutung zusammenwirken müssen, um den historischen Wert eines Dokumentes kompetent einzuschätzen.

 


Zusammen mit:

und


Schnipsel (P.M.)

 

In Anbetracht dessen, dass die Bewahrung historischer Kultur-Bestände immer mehr unter Rechtfertigungsnotstand gerät oder durch das Pseudo-Argument "das ist ja jetzt alles digitalisiert" weggewischt wird, scheint es geraten, künftigen in Bibliotheksberufen Tätigen ein Argumentatorium an die Hand zu geben.

Wir sind alle in unserer Zeit verhaftet, haben ein Vorverständnis, das uns selbst unmittelbar nicht einsichtig ist (sonst wären wir ja handlungs-unfähig). Am Fremden erkennen wir unsere Voreingenommenheiten wie in einem fernen Spiegel. Descartes formulierte das so:

"C'est quasi le même de converser avec ceux des autres siècles que de voyager. Il est bon de savoir quelque chose des moeurs de divers peuples, afin de juger des nôtres plus sainement, et que nous ne pensions pas que tout ce qui est contre nos modes soit ridicule et contre raison, ainsi qu'ont coutume de faire ceux qui n'ont rien vu." ("Discours de la Méthode" I,8)

Dazu kommt anderseits, dass die über grössere Zeiträume hinweg erkannten Gemeinsamkeiten eine kulturelle Identität aufzeigen. Wir haben in unsrem Land über viele Jahre hinweg eine harsche Mythenkritik geübt. Aber jenseits von Morgarten und Wilhelm Tell gibt es auch Konstanten zu erkennen.

Es gab immer wieder Epochen, in denen Überkommenes brutal entsorgt wurde. Wir brauchen dazu nicht das Dritte Reich zu zitieren. In der Säkularisation nach 1800 wurden beispielsweise in Bayern und Schwaben Bücher mit geistlicher Literatur aufgelöster Klöster fuhrwerkweise in Papiermühlen gebracht. Vor solchem Unsinn sind wir hoffentlich geheilt.

Wer Erzeugnisse aus älterer Zeit genauer betrachtet, zum Beispiel ein Buch aus der Inkunabelzeit, wird {mir geht es wenigstens so) von einer gewissen Ehrfurcht ergriffen darüber, wie die Menschen damals – mit viel einfacheren Mitteln als wir heute zur Verfügung haben – Grossartiges geleistet haben. Freilich braucht es dazu eine gewisse Vorbildung: Wie wurden Schrifttypen gegossen? Wie entsteht ein Holzschnitt oder eine Radierung? Die leibhaftige Präsenz eines 500 Jahre alten Buchs ist im Gegensatz von Faksimiles und Digitalisaten schlicht überwältigend.

Emblemas morales de Don Sebastian de Couarrubias Orozco (1539-1613) […] Madrid: Luis Sanchez, 1610. Centuria II, Emblema 15
> https://archive.org/details/emblemasmoralesd00covar

Zum Motto MEMORIA zeigt das Bild des Emblems ein Buch in Wolken, woraus Regen rinnt, wovon nur wenige Tropfen in einer Flasche gelangen, die meisten daneben auf den Boden fallen.

Der größte Teil geht verloren. – Was die bauchige Flasche mit dem engen Hals von all dem Regenwasser, das auf sie niederfällt, in sich aufnimmt, ist wenig, weil das meiste an den Seiten herunterrinnt. […]

Der Kontext ist freilich ein didaktischer. Im Kommentar zitiert der Emblematiker Quintilian, inst. or. I,ii,28: Nam ut vascula oris angusti superfusam umoris copiam respuunt – Die ganze Stelle: Wie Gefäße mit enger Öffnung eine zu große Menge an über sie geschütteter Flüssigkeit vorbeilaufen lassen, doch von nach und nach Einfließendem oder sogar Eingetropftem angefüllt werden, so muss man sehen, wie viel Gedanken die Knaben zu fassen vermögen: denn Dinge, die über die Fassungskraft gehen, werden den gleichsam zur Aufnahme nicht weit genug geöffneten Geistern nicht in die Gedanken kommen.

Bonmots

 

Cicero: Zu Themistokles kam ein Mann von hoher Gelehrsamkeit, der ihn versprach in die Mnemotechnik einzuweihen; diese Technik bewirke, dass alles im Gedächtnis bleibe. "Da habe ihm Themistokles geantwortet, er würde ihm einen größeren Gefallen tun, wenn er ihn lehre zu vergessen, was er wolle, statt es zu behalten." — (dicitur) et Themistoclem respondisse gratius sibi illum esse facturum, si se oblivisci quae vellet quam si memenisse docuisset. (CICERO, de oratore II,299)

Augustinus:

Wenn ich nun vom Vergessen spreche und auch weiss, wovon ich spreche, wie anders kann ich es erkennen, als dass ich mich des Vergessens erinnere? Ich meine nicht den Laut des Wortes, sondern die durch ihn bezeichnete Sache; hätte ich diese vergessen, so würde ich unmöglich die Bedeutung dieses Lautes verstehen.

Wenn ich mich an das Gedächtnis erinnere, so ist das Gedächtnis sich selbst durch sich selbst gegenwärtig; erinnere ich mich aber an das Vergessen, so ist Gedächtnis und Vergessen gegenwärtig, das Gedächtnis, kraft dessen ich mich erinnere, das Vergessen, an das ich mich erinnere. Aber was heisst vergessen anders als des Gedächtnisses ermangeln? Wie kann es also da sein, dass ich mich seiner erinnere, da es doch, wenn es gegenwärtig ist, mir das Erinnern unmöglich macht?

Da wir aber nur das, woran wir uns erinnern, im Gedächtnisse festhalten, so würden wir auf keinen Fall, wenn wir das Wort Vergessen hörten, uns aber daran nicht erinnern könnten, die durch dieses bezeichnete Sache verstehen. Also wird das Vergessen Im Gedächtnisse festgehalten. Es ist also da, damit wir nicht vergessen; ist es aber da, so vergessen wir.

Oder ergibt sich daraus, dass das Vergessen nicht an sich selbst im Gedächtnisse ist, wenn wir uns daran erinnern, sondern nur durch die Vorstellung von ihm? Fast scheint es so; denn wäre das Vergessen selbst gegenwärtig, so müsste die Folge sein, nicht dass wir uns erinnerten, sondern dass wir vergässen. Wer wird dieses zuletzt ergründen? Wer begreifen, wie es sich damit verhält?

(Des heiligen Kirchenvaters Aurelius Augustinus Bekenntinsse. Aus dem Lateinischen übersetzt von Dr. Alfred Hofmann. (Bibliothek der Kirchenväter, 1. Reihe, Band 18; Augustinus Band VII) München 1914. Zehntes Buch - Sechzehntes Kapitel)

Johannes von Salisbury: Metalogicon 3,4,46-50: „Dicebat Bernardus Carnotensis nos esse quasi nanos gigantum umeris insidentes, ut possimus plura eis et remotiora videre, non utique proprii visus acumine, aut eminentia corporis, sed quia in altum subvehimur et extollimur magnitudine gigantea“

„Bernhard von Chartres sagte, wir seien gleichsam Zwerge, die auf den Schultern von Riesen sitzen, um mehr und Entfernteres als diese sehen zu können – freilich nicht dank eigener scharfer Sehkraft oder Körpergröße, sondern weil die Größe der Riesen uns emporhebt.“

Schopenhauer: »Dem aber, der studirt, um Einsicht zu erlangen, sind die Bücher und Studien bloß Sprossen der Leiter, auf der er zum Gipfel der Erkenntniß steigt: sobald eine Sprosse ihn um einen Schritt gehoben hat, läßt er sie liegen. Die Vielen hingegen, welche studiren, um ihr Gedächtniß zu füllen, benutzen nicht die Sprossen der Leiter zum Steigen, sondern nehmen sie ab und laden sie sich auf, um sie mitzunehmen, sich freuend an der zunehmenden Schwere der Last. Sie bleiben ewig unten, da sie Das tragen, was sie hätte tragen sollen.« (Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung Zweiter Band, Ergänzungen zum ersten Buch. Zweite Hälfte 7. Vom Verhältniß der anschauenden zur abstrakten Erkenntniß)

John Denham (1615–1669), vgl. https://en.wikiquote.org/wiki/John_Denham

That servile path, thou nobly do'st decline,
Of tracing word by word and Line by Line;
A new and nobler way thou do'st pursue,
To make Translations and Translators too:
They but preserve the Ashes, thou the Flame,
True to his Sense, but truer to his Fame.

"Tradition ist die Weitergabe des Feuers und nicht die Anbetung der Asche." (wird Gustav Mahler [und anderen!] zugeschrieben)

Herbert Lüthy (1918–2002):

Aufgabe der Geschichtswissenschaft ist das ständige Klären, Ordnen und kritische Erhellen der Geschichte, die ständige Neuüberprüfung und Entmythologisierung geglaubter Überlieferung, die ständig neue geistige Durchdringung der Geschichte als dumpfer masse menschlicher Erfahrung vermittels der stets neuen Fragestellungen, die wir als Menschen unserer Zeit an die Geschichte richten […] (Lüthy 1969, S.26)

Geschichtslosigkeit, das heisst Nichtbewusstsein der Geschichte, ist nicht Freiheit von Geschichte, sondern blindes Verfallensein in ihr unbegriffenes Verhängnis […] (Lüthy 1969, S.32)

Wo eine Gesellschaft die freie historische Forschung zulässt, da geht sie eine Wette darauf ein, dass historische Wahrheit ihr am Ende zuträglicher sei als ideologische Selbstbestätigung; und nach diesem Prinzip stecken sich für den Historiker sehr konkret die fluktuierenden Grenzen dessen ab, was wir die freie Welt nenne. (Lüthy 1969, S.35)

Zensur. Aus der Chronik von Gerold Edlibach (1454–1530), nach 1485/86
> http://www.hls-dhs-dss.ch/textes/d/D14734.php


Hinweise

❖ https://de.wikipedia.org/wiki/Querelle_des_Anciens_et_des_Modernes

❖ Der legendäre US-amerikanische Dokumentarfilmer Frederick Wiseman hat im Alter von 88 Jahren einen Dokfilm zur New York Public Library gedreht: EX LIBRIS. Ein mehrstündiges Opus!

Den Trailer findet man hier: https://www.youtube.com/watch?v=0UsglJmevFM – Da wird auch der Satz gesagt: “A library is not about books, and storage. A library is about people.”

Ein englischsprachiges Interview mit dem Autor findet sich hier: http://prospect.org/article/ex-libris-conversation-frederick-wiseman

❖ Überlegungen von Ursula Ganz-Blättler, die im Zusammenhang mit der letzten Revision des Radio- und Fernsehgesetzes erfolgten(als PDF-Datei hier). Sie beziehen sich konkret auf Artikel 21 des RTVG, die von der SRG als nationalem Anbieter verlangt, ihre Archive der Bevölkerung zur Verfügung zu stellen.

 

Literatur

❖ Erika Wimmer-Webhofer (Hrsg.), Die Konservierung von Archivalien in Literaturarchiven. Empfehlungen zur Lagerung, Benützung und Sicherung von Nachlässen, München: Saur 1989; Reprint 2017.

❖ Hebert Lüthy, Wozu Geschichte? Zürich: Verlag Die Arche 1969.

❖ Hermann Lübbe, Geschichtsbegriff und Geschichtsinteresse: Analytik und Pragmatik der Historie, Basel: Schwabe 1977; 2., um eine neue Einl. erw. Aufl. - Basel: Schwabe 2012.

❖ Bernadette Collenberg-Plotnikov (Hg.), Das Museum als Provokation der Philosophie. Beiträge zu einer aktuellen Debatte, (Edition Museum Bd. 27) transcript Verlag 2018.

❖ Simone Chiquet, Frédéric Sarden (Hg.): Archivrecht – Archivzugang. Traverse 2003/2. Autorenteam: Archiv Geschichte und Politik, Sek. I (7.-9. Schuljahr). Gesellschaften im Wandel. 2017. Lehrmittelverlag LMVZ. https://www.lmvz.ch/schule/gesellschaften-im-wandel/archiv

❖ Judith Schalansky, «Verzeichnis einiger Verluste». Suhrkamp, 2018.

❖ Nachama, Andreas / Neumärker, Uwe (Hg.): Gedenken und Datenschutz. Die öffentliche Nennung der Namen von NS-Opfern in Ausstellungen, Gedenkbüchern und Datenbanken. Bd. 12. Topographie des Terrors. Notizen. Hentrich&Hentrich, 2017.

❖ Groth, Stefan. 2018. „Entstehungskontext, Materialität und Sprachspezifik. Elemente einer empirisch-kulturwissenschaftlichen Quellenkritik von Dokumenten in politischen Prozessen“. Schweizerisches Archiv für Volkskunde 114 (1): 57–75.


Facts zum Thema

Präsidium des Presserats bedauert Löschen von «Blick»-Artikeln

(ots) - Ringier verfälscht historische Wahrheit

Das Präsidium des Schweizer Presserats bedauert die Löschung von über 200 «Blick»-Artikeln aus der Schweizer Mediendatenbank (SMD) durch den Ringier-Medienkonzern. Dieser willkürliche Eingriff in die Archivfreiheit verfälscht das Bild dessen, was Schweizer Medien zum Fall Spiess-Hegglin/Hürlimann publizierten. Damit auch spätere Generationen ein getreues Bild erhalten, muss ein Archiv (möglichst) vollständig sein. Die SMD hat daher die zentrale Aufgabe, die Gesamtheit der zu ihrem Sammelfeld gehörenden Objekte aufzubewahren. Nur so wird ein Archiv zum wahrhaften historischen Gedächtnis.

Institutionell muss daher sichergestellt sein, dass die SMD Dokumente nur im absoluten Ausnahmefall löscht, etwa auf Gerichtsbeschluss. Dass Drittelseigner Ringier (neben Tamedia und SRG) eigenmächtig einen ganzen Themenkomplex entfernen lässt, geht nicht an. Denn die Mediendatenbank ist kein beliebiges Firmen- oder Privatarchiv. Selbst in einem Firmenarchiv wäre ein solches Unterdrücken von Artikeln fragwürdig.

Originaltext: Schweizer Presserat, Münzgraben 6, 3011 Bern — info@presserat.ch — www.presserat.ch