A. Haas, Mystische Denkbilder

 

Alois Maria Haas, Mystische Denkbilder, Johannes Verlag Einsiedeln, Freiburg/Br. 2014 (ISBN 978 3 89411 423 7)

Für die »Schweizerische Gesellschaft für Symbolforschung« angezeigt von Paul Michel, 15.August 2015.

Alois Haas (* 1934) hat neuerdings einen kaleidoskopischen, panoramatischen Sammelband von 800 Textseiten Umfang vorgelegt. (Viele der Aufsätze sind bisher unveröffentlicht; und die wiederabgedruckten stammen fast alle aus den letzten anderthalb Dezennien.)

Die Beiträge kreisen um ein Thema: die Ergründung der Denkfiguren, mit denen die Welt des Infiniten – Absoluten – Transzendenten mit der Welt der dem Menschen zugänglichen sinnlichen Erscheinungen vermittelt wird.  Grenzüberschreitungen dieser Differenz äußern sich nicht nur in theologischen Thesen wie etwa dass eine ›apophatische‹ Rede notwendig sei, sondern immer auch in nicht hintergehbaren Metaphern (»Transzendenz-Bildern« S. 575) wie beispielsweise: Sprung, Blitz, Spiegel, Spur, Schatten, Ereignis und anderen Symbolen, in denen einerseits Theophanien, anderseits die Begegnung des Menschen mit dem Göttlichen zu fassen versucht wurde.

Das Buch ist in diesen Aspekten für die Symbolforschung von eminenter Bedeutung. Der Verfasser stellt einleitend dezidiert fest, dass eine rationalistische »Bankrotterklärung der Bilder« sich ebenso verbietet wie ihre Auffassung als reines Spiel der Signifikanten. Bilder stellen dar, was sie nicht selber sind – daher der Begriff »Denkbilder« im Buchtitel.
Zentral ist die Vorstellung der Ebenbildlichkeit des Seienden mit seinem Prinzip; ein Gedanke, der sich in eigenartiger Koinzidenz sowohl bei Plato (Timaios 29A) findet als auch in der Genesis (1Mos. 1, 26f.: faciamus hominem ad imaginem et similitudinem nostram). Dieser Gedanke ist Grundlage nicht nur für die Ethik einer Würde des Menschen sowie die Hinwendung zu einer Innerlichkeit und psychologischen Betrachtung des ›Selbst‹, sondern auch – insofern als die imago Dei in der Seele einen Anknüpfungspunkt für die Gotteserkenntnis abgibt – für die Mystik. Mit Gregor von Nyssa (zitiert S. 150): »Wenn der Mensch zu dem Zwecke ins Dasein trat, damit er an den Gütern Gottes Anteil habe, so musste er notwendig eine solche Ausstattung empfangen, die ihn zur Teilnahme an jenen Gütern befähigt. Wie nämlich das Auge durch den von Natur in ihm vorhandenen Strahl das Licht aufnimmt, indem es durch seine angeborne Kraft das Verwandte an sich zieht, so musste auch der menschlichen Natur etwas mit Gott Verwandtes verliehen werden, auf daß sie auf Grund der damit hergestellten Wechselbeziehung eine Neigung zu dem ihm Verwandten habe.« Der Aufsatz über den Seelenfunken bringt hier viele weitere Belege.


Der Autor verortet sich selbst in der Ideengeschichte (S. 113; S. 578) und der historischen Semantik (S. 668). Dabei kommt in ihrer ganzen Breite die Geschichte von der heidnisch-antiken und biblischen Frühzeit über das Judentum (Philo), die griechischen und lateinischen Kirchenväter, die mittelalterliche Philosophie / Theologie / Mystik, über den Renaissance-Humanismus, die sog. Aufklärung, Dichtungen der Romantik (Hölderlin) in den Blick bis hin zur Moderne (Heidegger) und Postmoderne und vor allem darüber hinaus!

Beispiel: Das Wort Gefühl wird in seiner wahrnehmungsphilosophiegeschichtlich bedingten semantischen Entwicklung verfolgt, in der Fausts Satz »Gefühl ist alles …« einen prominenten Moment darstellt. Dabei werden die Geschichte des Wortes contemplatio ebenso angesprochen wie die Mystik-Kritik und Aspekte von Kants Erkenntnistheorie. (S. 89–127) – Beispiel: Wenn wir heute das Wort Selbstverwirklichung gebrauchen, sind wir uns nicht im klaren, welchen historischen Tiefgang diese Vokabel hat (S. 250–284). – Beispiel: Ereignis. Bei allen Metaphern des Aufstiegs in der Mystik darf man nicht überlesen (vgl. bes. S. 617f.) die christlichem Geist entspringende Einschränkung, wonach die Offenbarung nicht erfolgt, wenn sich der Mensch sich von seinem Selbst befreiend, ›entwerdend‹  auf den Weg macht, sondern dass sich diese Begegnung immer schon ereignet hat, in der Offenbarung im Wort und im Abstieg Gottes (kenosis Philipperbrief 2,7).

Einem solchen Buch kann man in einer ›Rezension‹ nicht gerecht werden; und die Fülle der dicht formulierten und dabei weit ausgreifenden Texte zusammenzufassen wäre ein Unding. Den Lesern sei empfohlen, sich dem Lese-Fluss anzuvertrauen und den mäandrierenden Strömen zu folgen, die immer wieder zu erquickenden Nebenflüssen sich öffnen, die sowohl zu den Quellen zurückweisen als auch zum weitverzweigten Delta führen, wo der Text im Meer enzyklopädischen Wissens sich verströmt. Gelegentlich wird man über einen Katarakt von Shakespeare – Parmenides – Shankara – Agrippa von Nettesheim – Pico della Mirandola – Plotin vorangerissen; Altwasser oder begradigte Kanäle wird man nicht finden.

Wie immer bei A. Haas führen die Fußnoten in eine reichhaltige Bibliothek. Die zitierte Literatur reicht bis in die allerjüngste Zeit. Umgekehrt besteht auch ein Fundament in älteren grundlegenden Studien, etwa Hans-Urs von Balthasar oder Jean Lelercq. Die Fußnoten sind Startpunkte, von denen aus ein riesiges Netz von Bezügen aufgerufen wird,  mit stets überraschenden Durchblicken zur Philosophie und Theologie, zur Kommunikations- und Medienwissenschaft. Man ermisst, was ein begeisterter Forscher zu leisten vermag, ohne in ein ›Excellenz-Cluster‹ eingebunden zu sein.

Gelegentlich werden – sehr erfrischend – Meinungen einander kontrovers gegenüber gestellt, etwa Lacan und Sloterdijk (zum Thema ›Spiegel‹ S. 462). Das Buch enthält nicht nur doxographische Passagen, sondern auch kulturkritische, so etwa wenn (im Kapitel über das Bücherlesen, S. 156) die »Dromomanie« (ein Begriff von Paul Virilio: die Wettlauf-Wut) heraufbeschworen wird, die es als sinnlos erscheinen lässt, Worte aufzuschreiben. Dagegen setzt Alois Haas die Faszination des im Buch Materie gewordenen Geists. Tolle lege!


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