Horaz – Erasmus – Montaigne – Goethe

 

Die gültige (und einzig zitierbare) Version befindet sich im Buch

»Spinnenfuß & Krötenbauch. Genese und Symbolik von Kompositwesen«
Schriften zur Symbolforschung, hg. von Paul Michel, Band 16, 472 Seiten mit 291 schwarz-weißen Abbildungen
PANO Verlag, Zürich 2013
ISBN 978-3-290-22021-1

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Horaz (65 bis 8 v. Chr) beginnt seinen Brief an den jungen Piso (epist. II,3), den er davor warnt, Verse zu fabrizieren, so:

Humano capiti cervicem pictor equinam
iungere si velit, et varias inducere plumas
undique conlatis membris, ut turpiter atrum
desinat in piscem mulier formosa superne:
spectatum admissi risum teneatis, amici?
credite, Pisones, isti tabulae fore librum
persimilem, cuius velut aegri somnia, vanae
fingentur species, ut nec pes nec caput uni
reddatur formae. ›pictoribus atque poetis
quidlibet audendi semper fuit aequa potestas.‹
scimus, et hanc veniam petimusque damusque vicissim;
sed non ut placidis coeant immitia, non ut
serpentes avibus geminentur, tigribus agni.

In Christoph Martin Wielands Übersetzung (1782):

Wofern ein Maler einen Venuskopf
auf einen Pferdehals setzte, schmückte drauf
den Leib mit Gliedern von verschiednen Tieren
und bunten Federn aus, und ließe (um
aus allen Elementen etwas anzubringen)
das schöne Weib von oben – sich zuletzt
in einen grausenhaften Fisch verlieren,
sich schmeichelnd, nun ein wundervolles Werk
euch aufgestellt zu haben: Freunde, würdet ihr
bei diesem Anblick wohl das Lachen halten?
Und gleichwohl werden Werke dieser Art
in einem andern Fach uns oft genug
zur Schau gebracht. Denn, glaubet mir, Pisonen,
ein Dichterwerk, von schlechtverbundenen
Ideen, die, wie Fieberträume, durch-
einander schwärmen, so daß weder Kopf noch Fuß
zusammenpaßt – und eine Malerei
von jenem Schlag, sind trefflich einerlei.
›Wie? Ist den Malern und Poeten nicht
von jeher freigestanden, alles was sie wollen
zu wagen?‹ – Freilich! auch Wir machen Anspruch
an diese Freiheit, und verlangen Keinem
sie abzustreiten – Nur nicht, daß man paare,
was unverträglich ist, nicht Schlang' und Vogel,
nicht Lamm und Tiger in einander menge!


Horaz benennt auch positiv, wie das literarische Werk beschaffen sein soll: simplex et unum (etwa: ungekünstelt und kongruent).

Der Text wurde in einer Freisinger Handschrift des 11. Jahrhunderts (Vatikan, Biblioteca Apostolica, Reg. lat. 1701, fol 60r) am Rande illustriert. R. Dionigi hat ein Bild bei Flickr eingestellt: http://www.flickr.com/photos/renzodionigi/3273980961/

 



Erasmus von Rotterdam (*circa 1469, † 1536) ereifert sich in seinem »Lob der Torheit« (verfasst 1509) unter anderem über die Abgeschmacktheit des zeigenössischen Predigtstils (¶ 54). Die Prediger machen, um die Hörer zu gewinnen, sprachliche Kapriolen, zitieren feinstsinnige Doktoren, werfen mit Syllogismen um sich, und bringen Geschichten aus mittelalterlichen Kompendien bei und legen sie nach dem vierfachen Schriftsinn aus: auf diese Weise vollenden sie ihre Chimaera, an die Horaz nicht heranreichen könnte, als er schrieb: Humano capiti, etc.

Atque ad hunc quidem modum Chimaeram suam absolvunt, qualem nec Horatius umquam adsequi potuit cum scriberet: ›Humano capiti‹ etc.

1515 erscheint bei Johannes Froben in Basel eine Ausgabe des »Lobs der Torheit« mit einem Kommentar des Gerard Listrius (Lyster). Ein Exemplar im Besitz des Oswald Myconius (1488–1552) hat der damals etwa 18jährige Hans Holbein d. J. († 1543) mit Handzeichnungen versehen; einige stammen auch von seinem etwas älteren Bruder Ambrosius († nach 1519). – Charles Patin hat dann 1676 eine Ausgabe publiziert, in der die Zeichnungen als Kupferstiche wiedergegeben wurden.

Bild Nr. 54 (in der Zählung von H. A. Schmid) = Bogensignatur Q 4 verso

Erasmus tönt das Horazzitat im Text nur an: cum scriberet: ›Humano capiti‹ etc. Der junge Maler musste einen Kenner der Antike dabei haben, um die Chimaera zu zeichnen; man darf wohl annehmen, es sei der Besitzer des Buches, Myconius, gewesen.

Erasmi Roterodami Encomium moriae: i.e. stultitiae laus; Lob der Torheit; Basler Ausgabe von 1515; mit den Randzeichnungen von Hans Holbein d.J. in Faksimile, mit einer Einführung, hg. von Heinrich Alfred Schmid, 2 Bände, Basel: Oppermann 1931.



Montaigne (1533–1592) dagegen beansprucht gerade diese – wie er sagt groteske – Form des Schreibens für sich:

Considérant la conduite de la besongne d'un peintre que j’ay, il m’a pris envie de l’ensuivre. Il choisit le plus bel endroit et milieu de chaque paroy, pour y loger un tableau élabouré de toute sa suffisance; et, le vuide tout au tour, il le remplit de crotesques, qui sont peintures fantasques, n'ayant grace qu’en la varieté et estrangeté. Que sont-ce icy aussi, à la verité, que crotesques et corps monstrueux, rappiecez de divers membres, sans certaine figure, n’ayants ordre, suite ny proportion que fortuite?

Desinit in piscem mulier formosa superne.

Essais, I,28: »De l’Amitié« (1580)

Als ich einem Maler, der für mich tätig ist, bei der Verrichtung seiner Arbeit zuschaute, überkam mich die Lust, es ihm nachzutun. Im mittleren Teil jeder Wand wählt er die jeweils günstigste Stelle, um dort ein mit seiner ganzen Meisterschaft ausgeführtes Gemälde anzubringen; den leeren Raum rundherum jedoch füllt er mit Grotesken aus, das heißt: bizarren Phantasiegebilden, deren einziger Reiz in ihrem Variationsreichtum und ihrer Absonderlichkeit liegt. Was aber sind diese Essais hier in Wahrheit anderes als auch nur Grotesken und monströse, aus unterschiedlichsten Gliedern zusammengestückelte Zerrbilder, ohne klare Gestalt, in Anordnung, Aufeinanderfolge und Größenverhältnis dem reinen Zufall überlassen?

Oben ein schönes Weib, unten in einem Fischschwanz endend. (Horaz)
Michel de Montaigne, Essais, Erste Moderne Gesamtübersetzung von Hans Stilett, Frankfurt/Main: Eichborn-Verlag 1998.

Moralia Horatiana

Der humanistisch gebildete Maler Otto van Veen (Vaenius, 1556–1629) verfasste 1607 ein Emblembuch mit dem Titel »Moralia Horatiana«, das mehrere Auflagen und Übersetzungen in die Volkssprachen erlebte. Emblem II,1 ist dem Thema "Cuique suum studium" (etwa: Jedem die Beschäftigung, die ihn interessiert) gewidmet. Der Bearbeiter Philipp von Zesen (1619–1689) erörtert  das 1656 so: "Wier seind will-kührliche/ und meister unsers eignen glükkes. Unsere zuneugungen seind nicht gezwungen. Sie haben freie macht sich auf dasjenige zu begeben/ das ihnen am besten vor sie zu sein dünket/ ja mit eben der gleichen freien wilkühr erwählen wier uns unser amt und unern beruf." Der Text verweist auf den Maler, den (mit dem Lorbeerkranz gekrönten Poeten, den Arzt, der ein uringlas hochhält und den Hufschmied an der Esse im Hintergrund, die auf dem Bild zu sehen sind. In der Ausgabe 1612 stehen dafür knapp die Verse: 

Le peintre aux couleurs, à la plume
S’entend le poete, à l’vrinal
Le medecin, le mareschal
S’entend au fait de son enclume.
Au contraire, celuy
Fait iustement à reprendre,
Qui s’auance d'entreprendre
Sur le mestier d'autruy.

L’vn se plait à la forge, l’autre à la peinture,
L’autre à ronger ses doigts pour composer des vers;
Le plaisir des humains & l’estude est diuers,
Selon que d’vn chascun diuerse est la nature. 

 

Q. Horati Flacci emblemata. Imaginibus in æs incisis, notisque illustrata, studio Othonis Væni, Batauolugdunensis. Antverpiæ ex officina Hieronymi Verdussen 1607; hier in einem seitenverkehrten Nachstich aus: Moralia Horatiana: Das ist Die Horatzische Sitten-Lehre / Aus der Ernst-sittigen Geselschaft der alten Weise-meister gezogen / und mit 113 in kupfer gestochenen Sinn-bildern / und ebenso viel erklärungen und anden anmärkungen vorgestellt: Itzund aber mit neuen reim-bänden gezieret / und in reiner Hochdeutscher sprache zu lichte gebracht durch Filip von Zesen, Amsterdam: Kornelis de Bruyn 1656. – Seitenverkehrter Nachstich. © Privatbesitz

Interessant ist, was der Maler auf der Staffelei entwirft: das Monstrum aus dem Brief des Horaz. Auf dem originalen Stich (1607) steht unten am Bild der Anfang des Verses "Pictoribus atque poetis quidlibet audendi semper fuit aequa potestas" (Malern und Dichtern ist’s von jeher freigestanden, alles zu wagen, was ihnen gefiel.); das ist der Einwand des im Pisonenbrief Angesprochenen (Vers 9f.), zu dem sich Vaenius gegen den Ratschlag des Horaz bekennt.  Selbstironie, weil das Emblembuch des Vaenius selbst ein Kompoitwesen ist? Ankündigung einer neuen, nichtklassischen Ästhetik?

Margit Thøfner: Making a Chimera: Invention, Collaboration and the Production of Otto Vaenius’s Emblemata Horatiana, in: Emblems of the Low Countries: A Book Historical Perspective, ed. Alison Adams / Marleen Van der Weij, University of Glasgow 2003  (Glasgow Emblem Studies 8), pp. 17–44.

 


Goethe macht sich im Walpurgisnachtstraum (Faust I) lustig über zeitgenössische Dichter, wahrscheinlich über die seiner Meinung nach un-organisch gebildeten Werke der Romantik:

Geist, der sich erst bildet:

Spinnenfuß und Krötenbauch

Und Flügelchen dem Wichtchen!

Zwar ein Thierchen gibt es nicht,

Doch giebt es ein Gedichtchen.

Faust I, »Walpurgisnachttraum oder Oberon’s und Titania’s goldene Hochzeit, Intermezzo«, Verse 4259ff. (als literarische Satire,  um 1797 entstanden und für den Musenalmanach gedacht; später in den Faust eingefügt)