EinhornEs kursieren seit Jahrhunderten viele Geschichten über das Einhorn, und es gibt allein schon in unserem Kulturkreis hunderte von Bildern. Auch gibt es eine Unmenge an Literatur dazu. Der griechische Arzt Ktesias aus Knidos, der 401 v.u.Z. an den Hof Artaxerxes’ II. von Persien gekommen war, erzählte in seinem das damalige Wissen über Indien zusammenfassenden Buch »Indica« von einem seltsamen Tier: Es gebe dort wilde Esel, die so groß wie Pferde und größer seien. Ihre Körper seien weiss, ihre Köpfe dunkelrot und ihre Augen dunkelblau. Sie hätten ein mehrfarbiges Horn auf der Stirn. Aus diesem Horn hergestelltes Pulver schütze gegen tödliche Drogen. Wichtig ist sodann der immer wieder kopierte Bericht von Plinius dem Älteren (ca. 23–79 u.Z.), der in seiner Naturkunde (VIII, xxxi, 76) schreibt:
Die Bibel erwähnt das Einhorn an mehreren Stellen (z.B. 4.Buch Mos 23,22 – Job 39,10 – Psalm 21 [Vg.], 22 – Jesaias 34,7 [moderne dt. Übers.: Wildochsen]), so dass die Ausleger immer wieder mit der Frage beschäftigt waren, um was für ein Tier es sich in Wirklichkeit handle. Für das Christentum wurde sodann das Kapitel im »Physiologus« wichtig, diesem aus dem 2. / 4. Jahrhundert stammenden kleinen Werk über die Eigenschaften und allgeorischen Auslegungen von Tieren, Pflanzen und Steinen, das ebenfalls unendlich weitergereicht wurde: Der Physiologus sagte vom Einhorn, dass es folgende Eigenheit habe: Ein kleines Lebewesen ist es, wie ein Böckchen, aber ganz außerordentlich leidenschaftlich. Nicht kann ein Jäger ihm nahekommen, weil es sehr stark ist. Ein einziges Horn hat es mitten auf seinem Kopf. Wie nun wird es gefangen? Eine reine Jungfrau, fein herausgeputzt, werfen sie vor es hin, und es springt in ihren Schoß; und die Jungfrau säugt das Lebewesen und bringt es in den Palast zum König. Der Physiologus, Übertragen und erläutert von Otto Seel, Zürich: Artemis 1960; Kap. 22. Hier die althochdeutsche Übersetzung (Wiener Prosafassung), um zu zeigen, wie der Text in der Mitte des 12. Jahrhunderts in einer Volkssprache gelautet hat:
Ein wichtiger Multiplikator der Geschichte ist sodann Isidor von Sevilla in seinen »Etymologien« XII, ii, 12–13 Die Deutung bezieht sich über eine wacklige Assonanz von ›Einhorn« (unicornus) auf den ›Eingeborenen‹ (unigenitus, das ist Christus), der von der Jungfrau eingefangen wurde. Aufgrund dieser Vorstellung wurde das Einhorn zu einem Mariensymbol. Das Einhorn bedeutet Christus, der einst gegenüber der Welt zürnte; das Horn seine Stärke; die Hunde, die das Einhorn treiben, sind Barmherzigkeit, Liebe, Gerechtigkeit und Wahrheit; die Jäger (die biblischen Propheten) können seiner mit keiner List habhaft werden; einzig der Jungfrau Maria legt es seinen Kopf in den Schoß; da verliert das Einhorn die unbeugsame Gerechtigkeit.
Honorius Augustodunensis († etwa 1151) schreibt in einer Musterpredigt zu Weihnachten:
Konrad von Megenberg (1309–1374) hat eine naturkundliche Enzyklopädie verfasst, in der das Einhorn natürlich auch seinen Platz findet:
Marco Polo († 1324) berichtet in seinem »Divisament dou monde« (Die Vielfalt der Welt), dass er solche Tiere im fernen Osten gesehen habe:
Und das ist keine dichterische Ausgeburt, denn: Messer Marco Polo, ein gebildeter edler Bürger aus Venedig, erzählt hier, was er mit eigenen Augen gesehen hat. Es gibt allerdings einzelnes, das er nicht gesehen, jedoch von vertrauenswürdigen Leuten vernommen hat. [...] Jeder Leser und jeder Zuhörer darf Vertrauen haben: das Buch handelt nur von wahren Begebenheiten. (¶ I) Es ist die reine Wahrheit. Dort kommen die fabelhaftesten Dinge vor. Wer davon hört, wird sich vor Verwunderung nicht fassen können. Der Reihe nach werde ich aufschreiben, was Messer Marco wirklichkeitsgemäß erzählt hat. (¶ CLVIII) (Marco Polo, Milione. Die Wunder der Welt, Übersetzung aus altfranzösischen und lateinischen Quellen und Nachwort von Elise Guignard. Zürich: Manesse, 1983) Der Dominikaner Franz von Retz († 1472) verfasste ein Werk (das »Defensorium inviolatae virginitatis Mariae« also: Verteidigungsrede für die unverletzte Jungfräulichkeit Marias), in dem er darlegte, dass alle Paradoxien, die man Maria zuschreibt (z.B. die Jungfrauengeburt) völlig erklärbar sind; für jedes scheinbare Paradox gibt es Parallelfälle aus der Natur und aus der antiken Mythologie.
Der unendlich gelehrte Zürcher Gelehrte Conrad Gessner (1516–1565), kompilierte in seinem Tierbuch alle ihm erreichbaren Texte: Conradi Gesneri medici Tigurini historiae animalium lib. I. de quadrupedibus viviparis, Zürich: Froschauer 1551; fol. 781–768. Die allegorischen Deutungen auf Maria unterdrückte er – als Naturwissenschaftler in der Zwingli-Stadt – freilich weitgehend. Er gibt auch einen Holzschnitt mit einem Bild des Tiers bei, kommentiert diesen aber vorsichtig: Figura hæc talis est, qualis a pictoribus fere hodie pingitur, de qua certi nihil habeo. (übers.: Dieses Bild ist so, wie es heutzutage in der Regel gemalt wird, wovon ich aber nichts Sicheres glaube.) Im Thierbuoch, Auflage 1563 heisst es:
In den lateinischen Ausgaben (Quadrupedibus, 1551 und Icones, 2. Auflage 1560) findet man diese Stelle nicht. Das Argument ist aber echt gessnerisch – ein historisch-philologisches; vielleicht stammt die Bemerkung aus einer Glosse Gessners und wurde dann vom Übersetzer in den Text genommen. Tobias Stimmer (1539–1584) hat 1576 eine Holzschnitt-Serie zur Bibel gestaltet. Beim Verlad der Tiere in Noahs Arche hat sich auch ein Einhorn-Pärchen wartend hingelagert. Zeugt das vom Glauben, dass es diese Tiere gebe (denn Noah hat ja doch keine Fabelwesen auf die Arche mitgenommen)? Irgendwie hat man aber das Gefühl, die beiden schönen Tiere hätten sich doch gemütlich hingelagert, das eine blickt aus der Szene heraus zum Betrachter hin und scheint zu sagen: Wir brauchen keine Arche, wir überleben die Sintflut in der Phantasie der Menschen genau so gut ....
Orpheus sitzt bei Ovid (Metamorphosen X, 143ff.) von Tieren der Wildnis umringt, die seinem Gesang lauschen; warum soll da nicht auch ein Einhorn mithören?
Das Tier wurde – weil es ja in der Bibel mehrfach genannt und bei den antiken heidnischen Autoren beschreiben wird – für existierend gehalten. Dass es in renommierten Werken wie z.B. dem des Joannes Jonstonus (1603-1675) abgebildet wurde, mag diesen Glauben verstärkt haben:
Lebende Einhörner oder auch Kadaver wurden indessen nie beobachtet; weder Reisende in fernern Ländern haben eines gesehen, noch wurde eines in einer Menagerie gezeigt. Aber dass es dieses Tier gebe, bestätigten immer wieder Funde von seinen Hörnern. Diese wurden geraspelt und als Gegengift gehandelt; ganze Hörner wurden in den Wunderkammern der Fürsten und reichen Bürger ausgestellt. So besaß Herzog Friedrich III. von Schleswig-Holstein-Gottorf in seinem Raritätenkabinett ebenfalls ein Einhorn. Adam Olearius (1599–1671) beschreibt dieses im Katalog der Gottorfischen Kunst-Cammer (Schleswig 1666; Tabula IX). Interessant ist die folgende Bemerkung: Unser langes Horn [ist] keines von den obgedachten Thieren/ sondern von einer sonderlichen Art Wallfischen ein Schnabel/ oder vielmehr ein eraußstehender zahn/ so in der NordSee/ sonderlich bey Grünland sich befinden. Daher die ... Grünländischen Weiber dieses Horn/ als ichs ihnen gezeiget/ alsbad gekennet/ und gesaget/ daß solche bey ihnen aus der See kommen. (Seite 12) In einer deutschen Übersetzung von Gesners Tierbuch aus dem Jahre 1669 (»Gesnerus redivisus auctus & emendatus. Oder: Allgemeines Thier=Buch ...«, Franckfurt: Serlin MDCLXIX) werden die alten Materien wiederholt. Im Kapitel über die Nahrung wid gesagt, das Tier sei fleischfrässig/ welches wol zu glauben ist. Im Kapitel Von der Nutzbarkeit steht: Wie des Indianischen Esels Fleisch bitter/ und zur Speiß nicht dienlich ist/ also glaube ich/ seye auch des Einhorns Fleisch. Im Hinblick auf die Verwendung als Antidot heisst es, die Krafft des Einhorns ist vornen an der Spitze heilsamer dann hinden, und man müsse aufpassen, dass man beim Kauf eines Stücks nicht betrogen werde. Dann heisst es unvermittelt:
Erstaunlich ist das argumentativ nicht vermittelte Nebeneinander von Referat alten Materials und Kritik daran, was sich auch in der Bebilderung zeigt: Auf derselben Seite ein Narwal-Schädel und ein klassisches Einhorn:
Der Glaube an die Existenz von Einhörner geriet durch die aus Grönland und Island stammenden Narwal-Schädel ins Wanken. Und so mussten die Bibel-Ausleger sich etwas einfallen lassen, worum es sich denn bei dem dort genannten Tier handle. Dem orientalistisch höchst versierten Samuel Bochart (1599–1667) fällt dies insofern leicht, als er sich nicht an den Wortlaut der lateinischen Bibel (uni-cornis = Ein-Horn) hält, sondern sich auf das Hebräische rǝem abstützen kann. Und so schreibt er ein ausführliches, auf die neuesten Funde verweisendes Kapitel, in dem bewiesen wird, dass dass reem nicht, wie man meint, ein Einhorn sei, sondern eine Art zweihörnige Ziege, eine Oryx:
Der frühe Journalist Eberhard Werner Happel (1647–1690) zieht sich in seinen»Relationes Curiosæ« (IV, 1689) so aus der Affäre, dass er ›das‹ Einhorn in verschiedene Wesen aufspaltet: Es sei zu erinnern,
Auf das Wasser=Einhorn geht Happel genau ein und referiert die anatomische Beschreibung mehrerer Gelehrter. Es wollen etliche/ daß dieses herfür ragende Wesen vielmehr ein Zahn als ein Horn sey/ weil es nicht aus der Stirn gehet/ noch oben aus dem Kopff/ wie die Ochsen und Widder-Hörner/ sondern aus dem obern Kinnbacken. Das Horn wurde von den Apothekern für ein Gegenmittel gegen Gift gehalten. Trinkgefäße wurden daraus hergestellt und es wurde als Pulver gehandelt. Happel referiert (S.626f.) , dass die Grünländische Compagnie zu Copenhagen – wohl wissend, dass es sich um Narwalzähne handelte – ein gutes Geschäft damit machte. Einst habe einer ihrer Händler dem Großfürsten von Moscovien eines andrehen wollen, aber dessen Arzt habe den Schwindel entdeckt. Also mußt der Factor mit einer Horn-langen Nase wieder abziehen. […] Glaublich ist/ der Doctor habe das Horn nicht darum verachtet/ daß er es etwann ohne Tugenden hätte befunden: sondern wil es nichts Seltenes […] gewesen. Denn die Seltenheit setzt allen Sachen den Preiß höher/ und die Gemeinheit wohlfeiler. Die Dänen haben sich offenbar den Markt selbst durch das Überangebot verdorben. Die Knochen (vermutlich eines Mammuts), die in der Nähe von Scharzfeld (Landkreis Göttingen) gefunden wurden, hat man mit der Vorstellung eines Einhorns im Hinterkopf zu einem solchen zusammengesetzt. Die Überlieferungsgeschichte dieses sog. ›Quedlinburger Einhorns‹ ist sehr kompliziert, vgl. ausführlich: Fritz Krafft, Gottfried Wilhelm Leibniz oder Otto von Guericke? — Protogaea oder Experimenta nova Magdeburgica? Die Rekonstruktion des vermeintlichen Einhorns von Quedlinburg, in: Sudhoffs Archiv, Bd. 99 / Heft 2 (2015), S. 166–208. > http://www.jstor.org/stable/43694915
In der Emblematik wird das Einhorn selbstverständlich gerne als Bildspender verwendet. Nur ein Beispiel dazu: Joachim Camerarius (1534–1598), Symbola et emblemata, Band II, Frankfurt: J. Ammon 1595 hat drei Einhorn-Embleme, darunter auch das marianische, das er indessen profan auf das keusche und reine Leben hin ausdeutet. Bei den anderen beiden steht die gift-vertreibende Kraft im Zentrum. Die Texte hier nach der deutschen Übersetzung: Vierhundert Wahl-Sprüche und Sinnen-Bilder, durch welche beygebracht und außgelegt werden die angeborne Eigenschafften, wie auch lustige Historien und Hochgelährter Männer weiße Sitten-Sprüch. Und zwar Im 1. Hundert: Von Bäumen und allerhand Pflanzen. Im II. Von Vier-Füssigen Thieren. Im III. Von Vögeln und allerley kleinen so wol fliegenden als nit fliegenden Thierlien. Im IV. Von Fischen und kriechenden Thieren. Vormahls durch den Hochgelährten Hn. Ioachimum Camerarium In Lateinischer Sprach beschrieben: Und nach ihm durch einen Liebhaber seiner Nation / wegen dieses Buchs sonderbarer Nutzbarkeit allen denen die in vorgemelter Sprach unerfahren seyn/ zum besten ins ins Teutsch versetzet, Maintz: Bourgeat 1671.
Auch bei Johannes Sambucus (1531–1584) hat das Horn heilende Wirkung:
Im Neuen großen Tierlexikon für Kinder (Autor: Feryal Kanbay, 2009, S. 40) heisst es: WISSENSWERT! Sicher hast du auch schon einmal von Fabeltieren wie dem Einhorn oder von Drachen gehört. Diese Tiere gibt es aber nicht in echt und sind nur ein Produkt der menschlichen Fantasie. Sonderbar, dass die Existenz derart explizit geleugnet werden muss ... Literaturhinweise:Liselotte Wehrhahn-Stauch, Artikel »Einhorn«, in: Reallexikon zur Deutschen Kunstgeschichte, Band 4 (1958), Spalten 1504–1544. > http://www.rdklabor.de/wiki/Einhorn Jürgen Werinhard Einhorn, Spiritalis Unicornis. Das Einhorn als Bedeutungsträger in Literatur und Kunst des Mittelalters. München 1976 (Münstersche Mittelalter-Schriften 13). Lise Gotfredsen, The Unicorn, New York / London / Paris: Abbeville Press 1999. so weit waren wir 2019, dann erschien: Bernd Roling / Julia Weitbrecht, Das Einhorn. Geschichte einer Faszination, Carl Hanser Verlag, München 2023. Vgl. ferner das Kapitel Demontage von monströsen Wesen Zur Übersicht Tiersymbolik |