Dhikr

Andreas Isler

Wiederholung: Zur islamischen dhikr-Rezitation

 

Vortrag, gehalten am 29. September 2012 anlässlich des Kolloquiums «Wiederholung, zweiter Teil» der Schweizerischen Gesellschaft für Symbolforschung

Mit dem Wort dhikr (arabisch), bzw. zekr oder zikr (persisch/türkisch) wird eine Praxis des Gottgedenkens bezeichnet, ein nach Möglichkeit fortwährendes Rezitieren einer kurzen Formel, die Gott in Erinnerung ruft. Diese Art des Gebetes unterscheidet sich vom islamischen Ritualgebet. Beide im Islam gepflegten Gebetsarten, das Pflichtgebet und das Gottgedenken, haben vieles gemeinsam, und nicht zuletzt spielt die Wiederholung bei beiden eine zentrale Rolle, aber auf je unterschiedliche Weise.

Ein einmaliges Ereignis führte, gemäss Legende, zum Ritualgebet in der im Islam vorgeschriebenen Häufigkeit des täglich fünfmaligen Betens: Der Prophet Mohammed wird eines Nachts vom Erzengel Gabriel abgeholt, um auf einer wundersamen Stute nach Jerusalem zu fliegen und vom Felsendom aus, wo er das Gebet leitete, durch die Himmelssphären aufzusteigen. In den aufeinander geschichteten Abteilungen des Himmels, die Mohammed nacheinander besucht, trifft er auf seine Vorgängerpropheten.

Abb. 1. Die Himmelsreise Mohammeds ist oft dargestellt worden, ausserordentlich schön und ausführlich in einem timuridischen Miniaturenwerk aus dem 15. Jahrhundert, das in uigurischer Schrift die Bildtafeln kommentiert. (Bibliothèque Nationale Paris, Ms. suppl. Turc 190, fol. 36v, http://gallica.bnf.fr/ark:/12148/btv1b8427195m/f78.item, Ausschnitt); vgl. Marie-Rose Séguy, Mirâj nâmeh, Paris 1977, Tafel 34.

Im sechsten Himmel residiert Moses. Schliesslich kommt Mohammed, nachdem er über den siebten Himmel hinausgeht, Allah sehr nahe. Dieser trägt ihm auf, seine Anhänger fünfzigmal täglich beten zu lassen. Mohammed kehrt durch die Sphären zurück und erzählt Moses von diesem Auftrag. Dieser, als erfahrener Religionsgründer, überzeugt Mohammed jedoch, dass die Menschen dies nicht erfüllen können; er solle nochmals zu Allah zurückkehren und um eine Reduktion der Gebetspflicht bitten. Gott erlässt daraufhin zehn Gebete, Moses findet die Anzahl von vierzig aber immer noch nicht machbar. Der Vorgang des Aushandelns wiederholt sich darum noch etliche Male, bis Allah sich bereit erklärt, mit fünf Gebeten zufrieden zu sein. Moses will Mohammed nochmals nach oben schicken, aber dazu lässt dieser sich nicht mehr bringen. So ist es bei der Pflicht zu den fünf täglichen Gebeten geblieben.

Anschauliche Schilderungen des Gesprächs zwischen Mohammed und Moses sind in verschiedenen Ḥadīṯ zu finden, beispielsweise bei Buḫārī (Book 1, Vol. 8, Nr. 345, Book 4, Vol. 54, Nr. 429 oder Book 5, Vol. 58, Nr. 227); vgl. Tobias Nünlist, Himmelfahrt und Heiligkeit im Islam. Eine Studie unter besonderer Berücksichtigung von Ibn Sīnās Miʿrāǧ-nāmeh, Lang, Bern 2002, S. 121.

Das Ritualgebet rhythmisiert in seiner Wiederholung den Tagesablauf. Es erinnert in seinem populären Ursprungsmythos daran, die Welt versinken zu lassen, um, wie es der Prophet vormachte, Gott näher zu kommen. In seiner Reduktion auf fünf tägliche Gebete und deren strikter zeitlichen Eintaktung bringt es aber auch eine Begrenzung der religiösen Pflicht mit sich.

Die dhikr-Praxis hingegen ist unbegrenzt, soll auch ganz unbegrenzt sein: Je mehr Gottgedenken möglich ist, desto besser. Im Koran wird das Gottgedenken sehr häufig erwähnt und gefordert, beispielsweise in der Sure 33 «Die Verbündeten», Vers 41: «Oh ihr Gläubigen, gedenket Allahs in häufigem Gedenken.»( Nach der Übersetzung von Max Henning, Der Koran, Reclam, Stuttgart 1991.) (Die oft vorgebrachte poetische Qualität des Korans liegt unter anderem in solchen in der arabischen Sprache als äusserst schön empfundenen Wortwiederholungen.) Der Basler Orientalist Fritz Meier (1912–1998), ein grosser Sufismuskenner, definiert den dhikr folgendermassen als «das in unabgebrochener Folge wiederholte Hersagen und Überdenken einer kurzen Formel, deren Inhalt Gott ist».

Die Fawā’ih al-Ǧamāl wa-Fawātih al-Ǧalāl des Naǧm ad-Dīn al-Kubrā. Eine Darstellung mystischer Erfahrungen im Islam aus der Zeit im 1200 n. Chr., hrsg. und erläutert von Fritz Meier, Wiesbaden 1957, S. 200.

Es gibt verschiedene Arten, den dhikr auszuüben: laut ausgesprochen oder leise vor sich hingesagt; in Gemeinschaft, alleine für sich oder in strenger Klausur durchgeführt; eine Zeit lang oder unaufhörlich praktiziert. Jede Sufibruderschaft oder mystische Traditionslinie pflegt je eigene Gewichtungen in der Art des dhikr-Rezitierens. Der Gebrauch einer Gebetskette findet sich häufig im Zusammenhang mit dem Gottgedenken.

Die kurze zur Anwendung kommende Formel kann der Gottesname Allah selber sein oder einer seiner 99 schönsten Namen (die eigentlich Beschreibungen seiner Eigenschaften sind), kann aber auch ganz verkürzt das Hu des letzten Buchstabens seines Namens Allah sein, das gleichzeitig «Er» heisst und auf ihn als den Einzigen hinweist. Eine sehr gängige dhikr-Formel ist der erste Teil des islamischen Glaubensbekenntnisses: «Lā illāha illa ’llāh» / «Es gibt keinen Gott ausser Gott». Das beständige und intensiv betriebene Wiederholen der sich abwechselnden Vorstellung «nullus deus» / «kein Gott» mit «nisi deus» / «ausser Gott» («nur Gott») lässt den Übenden in ein Wechselbad der Verneinung und Bejahung tauchen, das ihn schliesslich der Befangenheit in der Welt der Gegensätze enthebt. Was zeitlich als eine periodische Abfolge von Schwinden und Anwachsen begriffen werden kann, entspricht räumlich einer Kontraktion und einer Expansion, wie wir sie auch in einigen der typisch islamischen Raumornamente kombiniert vorfinden.

Vgl. Laleh Bakhtiar, Sufi. Expressions of the Mystic Quest, Thames and Hudson, London 1976, S. 16.

Abb. 2. Sternornament: Ausdehnung, Kontraktion und Kombination davon in der Fläche.

In der Praxis der dhikr-Rezitation werden drei einander folgende Stadien unterschieden.

Ich fasse hier Informationen aus verschiedenen Sekundärquellen zusammen: Fritz Meiers al-Kubrā-Ausgabe, Henry Corbins Werk L’Homme de Lumière dans le Soufisme Iranien, Sisteron 1971, Louis Gardets Artikel «Un problème de mystique comparée: la mention du Nom divin (dhikr) dans la mystique musulmane» in: Revue Thomiste LX, T. LII, N° 3 (1952), S. 642–79, LXI, T. LIII, N° 1 (1953), S. 197–216, und sein Eintrag in der 2. Ausgabe der Encyclopaedia of Islam zum Stichwort Dhikr.

1. Der sogenannte dhikr der Zunge. Mit körperlich durchgeführten Übungen wird die «dhikr-Maschine» angeworfen. Das Gottgedenken soll hier, gemäss Naǧmad-Dīn al-Kubrā, einem islamischen Mystiker aus Chorasan (1145–1220), «sehr kräftig» sein. Die Zunge des Praktizierenden wird mit einem Pickel verglichen, der das versteinerte Herz bearbeitet. Mit untergeschlagenen Beinen setzt sich der Übende, in Richtung Mekka schauend, hin, legt seine Hände auf die Schenkel, schliesst die Augen und beginnt mit dem «Lā» des «Lā illāha», das links unter seinem Herz in der Nabelgegend gesprochen wird, eine Art Kreislauf, die niederen Triebe in der unteren Körpergegend in die Schranken weisend. Das «Illāha» wird mit aufgeworfenem Kopf über die rechte Schulter nach hinten geschleudert. Darauf geht die Bewegung von der rechten Schulter aus mit dem «Illa» zurück zum Herz, dem das «Allāh» gleichsam eingehämmert wird. Neben solchem zweitaktigen dhikr, der mit zwei Schlägen arbeitet (der arabische Fachbegriff für dieses Hämmern ist ḍarb, was Schlag, Prägung, aber auch Multiplikation bedeutet), gibt es auch solche mit drei oder mit vier Schlägen. Nach einer Weile läuft das Ganze ohne den anfangs nötigen Effort weiter. Körperliche Schmerzen und erschreckende auditive Wahrnehmungen können dieses erste Stadium begleiten.

2. Der sogenannte dhikr des Herzens verknüpft die Praxis der fortlaufend geäusserten Formel mit von selbst ablaufenden Körperprozessen, beispielsweise der Atmung oder dem vom Herzschlag angetriebenen Kreisen des Blutes in den Adern. Ein Versinken der eigenen körperlichen Natur und der äusseren Naturereignisse ins Gottgedenken findet statt. Die lauten Begleitgeräusche des ersten Stadiums weichen einem gleichmässigen Summen wie von Bienen.

3. Als dhikr des Geheimnisses wird das dritte Stadium bezeichnet. Das als ein von oben kommendes Feuer erlebte kontinuierliche Gottgedenken mischt sich mit einem von unten, vom geläuterten Herz aus aufsteigenden Feuer oder Licht. Das vorhin noch als Objekt empfundene Rezitieren hat sich komplett verselbständigt und ist mit dem Übenden wesensgleich geworden. Das Feuer des dhikr erhält sich von selbst. Die nun sich vollziehende Aufhebung des bewusst vorgenommenen Gedenkens hin zu Gott wird zu einem Entwerden in Gott. Das eigene Wesen, ja selbst der zuvor als wesenhaft aufgefasste dhikr, schwindet und geht ganz in der Einheit mit Gott auf.

Das dhikr-Rezitieren ist eine körperliche und spirituelle Technik, die von aussen betrachtet als eine Trance-Praktik gesehen werden kann. Was wird mit dem Wort Trance bezeichnet? Der Begriff Trance deckt ein sehr breites Spektrum ab, von leichter Benommenheit und Tagträumerei über einen veränderten Bewusstseinszustand bis hin zu einer Situation körperlichen Weggetretenseins und der Ekstase. Was in anderen Kulturen zur überkommenen und wenn auch aussergewöhnlichen, so doch – meist in religiösem Rahmen – regelmässig geübten Praxis gehört, ist in unseren Breitengraden wenig bekannt und wirkt, wenn beobachtet, oft erschreckend.

Ich möchte hier ein Zeugnis aus dem 17. Jahrhundert vorstellen, das eine Beobachtung und bestimmte Spielart der dhikr-Praxis in Konstantinopel beschreibt. Johann Ulrich von Wallich (1624–1673), ein Jurist in schwedischen Diensten – sein Arbeits- und Wirkungsort ist Stade nahe Hamburg –, begleitet 1657/58 den schwedischen Gesandten nach Konstantinopel und publiziert in der Folge eine Abhandlung über den Islam, den Propheten Mohammed und die beiden Antichristen, nämlich den Papst im Westen und den türkischen Sultan im Osten. In diesem Werk wird an einer Stelle explizit auf Leute hingewiesen, die den dhikr rezitieren:

Abb. 3. Wallich, Religio Turcica, Stade 1659, S. 28 (Ausschnitt), Zentralbibliothek Zürich

Sie haben auch unterschiedliche heylige Leute unter ihnen/ derer etliche genennet werden Zakir, das ist: Erinnerer (welche allezeit eine Form erinnern) diese singen Nachts und Tags ohne unterlaß: la illahe illelah: nach beygesetzter Melodey […]

Johann Ulrich Wallich, Religio Turcica: Mahometis vita et orientalis cum occidentali antichristo comparatio. Das isst Kurtze / warhafftige / gründ- und eigendliche Beschreibung Türckischer Religion. Leben und Todt deß Arabischen falschen Propheten Mahometis. Vnd Vergleichung beyder Orientalischen und Occidentalischen Antichristen, Holvinian, Stade 1659, S. 28.

An einer anderen Stelle des Werkes, welches mit einer Anzahl von ganzseitigen Kupferstichen illustriert ist, die allem Anschein nach auf Zeichnungen des Autors zurückgehen, zeigt und beschreibt Wallich in Bild und Wort ein Ritual einer in späterer Zeit als «Heulende Derwische» bekannt gewordenen Gruppe:

Es seind auch ihrer etliche/ welche aus sonderbahrer Andacht/ etliche Tage und Nachte in den Kirchen sich auffhalten/ Fasten/ und nicht ausgehen/ als wenn sie ihre Notturfft verrichten wollen; Des Nachts essen sie/ und in deme sie sich mit den Händen an die Brust schlagen/ und tieffe Seuffzer ziehen/ fangen sie an mit lauter Stimme zu ruffen/ Huve, Huve, das ist soviel/ alß GOtt/ GOtt: etliche machen mit zusammengeflochtenen Händen einen Circul und tantzen/ singen und wiederholen allezeit das Wort Huve. Dieses Fasten wird genannt Continentia.

Weil die Materie von der Türcken eifferigem vermeinten Gottesdienst und Gebeth mir gleichsamb allhier darzu Anlaß gibt/ habe ich nicht umbgehen wollen eine seltzame Art solcher andächtiger heiliger Leuthe/ und Verrichtung derer zu zweyen mahlen in der Woche bey Nachtzeit gewöhnlichen Gottesdienstes/ welchem ich selbst zu Pera in der Juden-Quartier gegen Constantinopel über am Weynachtabend verwichenes 1657ten Jahres Syli veteris nicht ohne Befrembdung und schrecken mit zugesehen.

Selbigen Abends anderthalb Stunden nach der Sonnen Untergang/ wie zu obgedachter Münche Meschzit oder Synagoge kommen/ haben sie in der Anzahl zwölff sampt einem Knaben/ welcher auch schon zu solcher devotion gewiedmet/ erstlich ihren gewöhnlichen Gottesdienst und Nacht-Gebeth verrichtet […]. Als sie nun eine zeitlang solches ihr gewöhnliches Gebeth continuiret/ und der Vorsteher oder Pfaff mit dem Gesicht gegen die andern Confratres, die denn gleich einen runden Creyß geschlossen/ sich kehrete/ redete er viel von GOtt und Mahomet/ that endlich ein Gebeth vor dem Keyser/ und daß es allen Ungläubigen übel gehen möchte. Wie solches verrichtet/ und er noch mit einem andern/ welchen er bey der Hand führete/ Barfuß anfing zu tantzen/ legten auch die andere ihre oberste Kleider ab/ ergriffen einander bey den Händen/ tantzeten also mit geschlossenem Ring eine halbe Stunde lang/ und rieffen immer darbey Gott/ Gott/ darzu ein ander Münch mit einer Trummel pauckete/ nach welches Tact sie denn langsamb oder geschwinde tantzeten. Bißweilen trat einer in den Creyß/ andere gingen ab und zu/ gleich wie auch der Paucker selbst/ bißweilen im Creyß wahr/ bißweilen aussen herumb spatzirte. Nach diesem Tantz stunden sie also im Creyß auff einer Stelle/ bewegten die Häupter/ wiewohl etwas langsahm/ denn neigten sie solche für sich etwas geschwinde/ denn mit dem gantzen leibe gar geschwinde.

Abb. 4. Wallich, Religio Turcica, Stade 1659, Kupferstich neben S. 72, Zentralbibliothek Zürich

Wenn nun diese Neigung geschehen/ pflegen sie gemeiniglich schon toll zu sein/ indeme ihnen der Schaum vor dem Munde lieget/ und keine klare deutliche Stimme mehr von sich geben/ besondern nur gleichsamb ein Gethöne/ so dem brüllen eines vor den Kopff geschlagenen Ochsen nicht ungleich scheinet/ hören lassen; Jn solcher furie und Erhitzung sich befindende/ traten etliche/ wie es scheinete/ die Eltesten ab/ umbfasten ihrer sechs sich mit den leibern in einen klumpen/ brülleten grawsamlich/ und insonderheit solcher zween/ welche als rechte unsinnige Leuthe (so doch/ wenn sie in solche furie gerathen für die Andächtigsten gehalten werden) anfingen schrecklich zu blecken/ und mit außgestrecketen Armen aus allzu grosser Devotion mit Gewalt in die Höhe zu Gott auffahren wollten/ von den andern aber zurücke gehalten wurden: Alß auch sie nun in diesem klumpen eine geraume Zeit umbgesprungen/ trenneten die beyde/ welchen vor anderen grosse Heiligkeit und Andacht zugeflossen/ sich von dem Hauffen ab/ fingen an ein jeder insonderheit etliche huntertmahl in eineinem Creyß und continuirlicher Bewegung sichumbzudrehen/ und solches so lang/ biß der eine viermal als ob ihn die schwere Noth angerühret oder der Tonner niedergeschlagen hätte/ zur Erden fiehl; Wie sie nun auch diesen Tantz über eine gute halbe Stunde getrieben/ und nicht mehr kunten/ würden sie von den andern weggeführet/ und also dieser Heydnischer Baals-Tantz/ so von halbsieben biß umb neun Uhr zu Nacht gewehret/ damit seine Endschaft erreichete […]. Ist eine erschreckliche Sache anzusehen/ denn so sie in der grösten furie seind und keine articulatam vocem mehr von sich geben können/ besondern nur gleichsamb den Ahtem an sich ziehende also schlucken/ halten sie solches für eine grosse Heiligkeit/ und geben für/ Gottes Nahme sey so heilig/ daß er nicht könne ausgesprochen werden […] (Wallich, a. a. O., S. 69ff.)

Die von Wallich erwähnten Körperbewegungen, die Tänze und die ganz kurz nur angesprochene spezielle Atemtechnik sind, will man religiöse Exerzitien zwischen Körper und Geist diskursiv aufspannen, sozusagen die am körperlichen Ende beobachteten und auch so durchgeführten Rituale; ihr spiritueller Charakter sowie ihr geistiges Ziel werden zwar auch erwähnt, stehen aber nicht im Zentrum der Beschreibung. Dem ganzen Geschehen begegnet Wallich eher mit Unverständnis. Und dennoch hat er sich die Mühe gemacht hat, alles nach bestem Können zu beschreiben und auch zeichnerisch festzuhalten; ein einmaliges Zeugnis aus einer fernen Zeit.

Die Wiederholung einer immergleichen Empfindung wirkt sehr stark und führt unweigerlich zu Zuständen, deren inneres Erleben von aussen nur schwer beurteilt werden kann, deren Effekt auf die praktizierende Person jedoch von weitreichender Bedeutung ist. Ob Gott in einer speziellen Atemtechnik des Luftschluckens einverleibt oder der Rhythmus seines Atems mehr philosophisch als überall am Wirken erlebt wird: wichtig scheint die Wiederholung, die – auf körperlicher wie auf geistiger Ebene – in andere Bereiche in eine, je nachdem, Geworfenheit oder Gelassenheit zu entführen vermag.

Ein persischer Dichter aus dem 13. Jahrhundert, Saadi von Schiraz, hat die Derwische seiner Zeit in kurzen Erzählungen beschrieben. Im 17. Jahrhundert hat zuerst André Du Ryer Teile aus Saadis Werk Gulistan, d. h. Rosengarten, in eine europäische Sprache übersetzt, danach hat Adam Olearius, der Gottorfsche Universalgelehrte (1599–1671), der selber nach Persien reiste, eine deutsche Übersetzung vorgelegt, in deren Vorrede Scheich Saadi gleich nach der üblichen (Buch-) Anfangsformel, der Basmala, «Im Nahmen des barmhertzigen Erbarmers!» sagt:

Lob sey dem Großmächtigsten und Allerhöchsten Gott. Jhm gehorsamen ist ein Mittel ihm näher zu kommen: Jhm Lob und Dancksagen vermehret seine Wohlthaten über uns. Ein jeglicher Athem/ den man in sich zeucht/ hilfft zur Verlängerung des Lebens/ und der wieder aus uns gehet/ erfreuet den Geist. Darumb sind im Athemholen des Menschen zweyerley Gnaden/ und für jegliche soll man von Hertzen dancken: Aber in wessen Hand und Zunge stehet solch Vermögen/ daß man schuldiges Lob bringen kann? O ihr Nachkömmlinge des Königes Davids/ erhebet euer Hertz und Mund mit Lob und Dancksagen/ weil sonst wenig von meinen Dienern sind/ die sich umb solch loben und dancken bekümmern.

Adam Olearius, Der persianische Rosen-Thal, Hamburg 1696, «Vorrede Schich Saadi über den Persianischen Gülustan oder Rosenthal», unpaginiert.

Johann Wolfgang von Goethe (1749–1832) liess sich von diesen Zeilen zu einem wunderschönen Gedicht inspirieren, das als letztes in einer Serie von fünf Talismanen, also heilenden und schützenden Segenssprüchen, in seinem West-östlichen Divan auftaucht:

Im Athemholen sind zweyerley Gnaden:
Die Luft einziehn, sich ihrer entladen.
Jenes bedrängt, dieses erfrischt;
So wunderbar ist das Leben gemischt.
Du danke Gott, wenn er dich preßt,
Und dank’ ihm, wenn er dich wieder entläßt.

Die dhikr-Praxis des rhythmischen Verneinens und Bejahens im über den Brustkorb ausgeübten sich Innewerden des ersten Teils des islamischen Glaubensbekenntnisses setzt den göttlichen Atem mit dem eigenen Atmen in Bezug. Genauso fügt Goethe das Luftholen und das Ausatmen über die körperlich sowohl wohltuende als auch bedrängende Empfindung zuerst mit dem, was das Leben zu bieten hat, dann mit der Gott dafür geschuldeten Dankbarkeit zusammen. Ist es die Stimmung, die gelassen im Eigenen, Nahen das alles durchwaltende, verbindende Prinzip erkennt und akzeptiert, oder sind es die locker daherkommenden und doch so stringent in die Gegensätze eingebundenen Knittelverse, die in diesen sechs Zeilen erhebender wirken? Eine Art Entwerden in Gott, ein Aufhören des Haderns, sanft und fast unbemerkt in den Raum gestellt, bietet Goethe mit diesem Segensspruch.

Auch hier unterliegt dem Ganzen eine Art Technik der Wiederholung: Die zeitliche Abfolge von im Raum sich abspielenden gegenläufigen Bewegungen löst im Akkord der Wiederholung die Wichtigkeit der Richtung auf, spannt die Tendenzen vielmehr in ein Gesamtmuster ein, das sich selbst genügt.

Wiederholungen zeitigen verschiedene Effekte, je nach Frequenz der Durchführung. Wiederholungen im Grossen, die das Jahr, den Monat, den Tag rhythmieren, bespielsweise Erinnerungsfeste oder die anfangs erwähnten islamischen Gebetszeiten, stellen – nach aussen gerichtet – einen Bezug zu einer kosmischen oder gottgegebenen Ordnung her und strukturieren die Zeit durch periodisches Anhalten derselben. Mikro-Wiederholungen hingegen – wie die Achtsamkeit auf den eigenen Atem oder die bis ins Extreme wiederholte dhikr-Rezitation – lösen, sich nach innen richtend, eine Ordnung eher auf, als dass sie eine schaffen. Sie sind starke Mittel, in andere Sphären zu entführen, sei dies die eher philosophische leichte Trance eines veränderten Bewusstseins oder das Hingerissensein zur Wahrnehmung von Licht auf Licht.

Literatur


Bakhtiar, Laleh, Sufi. Expressions of the Mystic Quest, Thames and Hudson, London 1976.

Corbin, Henry, L’Homme de Lumière dans le Soufisme Iranien, Ed. Présence, Sisteron 1971; —
dt. Die smaragdene Vision. Der Licht-Mensch im persischen Sufismus, Diederichs, München 1989.

Gardet, Louis, Un problème de mystique comparée: la mention du Nom divin (dhikr) dans la mystique musulmane, in: Revue Thomiste LX, T. LII, N° 3 (1952), S. 642–79, LXI, T. LIII, N° 1 (1953), S. 197–216.

Gardet, Louis, Stichwort Dhikr, in: Encyclopaedia of Islam, 2nd edition, vol. 2, Brill, Leiden 1965.

Meier, Fritz (Hrsg.), Die Fawā’ih al-Ǧamāl wa-Fawātih al-Ǧalāl des Naǧmad-Dīn al-Kubrā. Eine Darstellung mystischer Erfahrungen im Islam aus der Zeit im 1200 n. Chr., Steiner, Wiesbaden 1957.

Nünlist, Tobias, Himmelfahrt und Heiligkeit im Islam. Eine Studie unter besonderer Berücksichtigung von Ibn Sīnās Miʿrāǧ-nāmeh, Lang, Bern 2002.

Olearius, Adam, Der persianische Rosen-Thal, Hamburg 1696.

Séguy, Marie-Rose (Hrsg.), Mirâj nâmeh. Le voyage miraculeux du prophète. Paris, Bibliothèque Nationale manuscrit Supplément turc 190, présenté et commenté par Marie-Rose Séguy, Daeger, Paris 1977; — dt. Muhammeds wunderbare Reise durch Himmel und Hölle. Bibliothèque Nationale Paris, Ms. suppl. Turc 190, hrsg. von Marie-Rose Séguy, Prestel, München 1977.

Wallich, Johann Ulrich, Religio Turcica: Mahometis vita et orientalis cum occidentali antichristo comparatio. Das isst Kurtze / warhafftige / gründ- und eigendliche Beschreibung Türckischer Religion. Leben und Todt deß Arabischen falschen Propheten Mahometis. Vnd Vergleichung beyder Orientalischen und Occidentalischen Antichristen, Holvinian, Stade 1659.