Wach auf aus dem Sündenschlaf!
Vergrößerbares Digitalisat > http://doi.org/10.3931/e-rara-38305 Undatierte Radierung; 22 x 36,7 cm von Conrad Meÿer (1618–1689); signiert C. Meyer invenit fecit et excu[dit]. Die Texte hat Johann Wilhelm Simler (1605–1672) verfasst. Aufbau ähnlich wie die Neujahrsblätter die Conrad Meyer seit 1645 für die Zürcher Bürgerbibliothek gemacht hat, aber ohne diese Herkunftsbezeichnung. Datierung: nach 1652 (Geissturm) Oben: Wach auff von disem Schall! Daß dich nicht überfall, Im tieffen sünden-schlaaff, die schwäre Gottes straaff. In der Mitte der sündhafte nackte Schläfer, der sich ›den Schlaf aus den Augen reibt‹; das Haar bekränzt mit Weinlaub. Er hat – gerade erwachend – einen sehr zerknirschten Gesichtsausdruck. Um ihn herum sind zu sehen allegorisch zu deutende Gegenstände: ein gebratenes Huhn mit Pokal auf dem Tisch (für das ›vitium gulae‹); Geldbeutel; Spielkarten (zuoberst Schellen Ass); Würfel; Pfeile in einem Köcher (stehen sie für Amor? oder für den Tod, der auch Pfeile abschießt?); eine zerbrochene Sanduhr. Im Hintergrund ganz klein: die Explosion des Geiss-Turms (1652): Zürich mit dem Großmünster (mit den Spitzhelmen), Wellenberg und Grendel. Ein Feuerhagel braust über die Stadt herunter.
Der Schläfer wird von einem Engel mit Fanfare geweckt; an der Fanfare hängt ein Tuch mit einer Darstellung des Jüngsten Gerichts mit den sieben posaunenblasenden Engeln (vgl. Apk. 8). Dazu der Text:
Auf dem Rahmen des Tondo die Texte:
In den Zwickeln rund um das Hauptbild vier (schwer zu deutende) allegorische Randbilder: oben links: Helmzimier mit Schwurhand in Flammenbrand, wohl der Meineid An den Rändern links und rechts die Vier Elemente mit Bildern und Texten: oben links Das feür, zur straaf genäigt, Dier seine ruoten zäigt. (Komet über einer Stadt) unten links Der sünden über-fluß Bringt disen wasser-guß. (Menschen retten sich vor einer Sintflut): oben rechts Vergiffte Lufft und schwert Der sünden raach begehrt. (ausgemerkgelte Menschen zerlegen einen Tierkadaver; im Hintergrund einer der vier apokalypt. Reiter mit Sense) unten rechts Die erde bebet fast, von deiner sünden last. (Bergsturz, Stadt in einem Erdbeben) Unten ein Gedicht in Alexandrinern in drei Spalten mit je sechs Zeilen:
Es fällt auf, dass mit den allegorischen Attributen des Sünders – auf dem zentralen Bild und in den Zwickeln – nicht das Set der klassischen Sieben Todsünden wiedergegeben wird. Auch die Vier Elemente werden nicht in einer gebräuchlichen Weise verwendet. Derselbe Bildaufbau mit den vier Elementen als Warnungs-Zeichen bzw. Sündenfrücht findet sich in den Neujahrsblättern auf die Jahr 1664 und 1665 »Türkischer Jamerspiegel« >>> Digitalisat, vgl. dazu ausführlich M. Sulmoni, S. 441-472. — Mehr zu den vier Elementen hier. Die zentrale Metapher ist der Sündenschlaf, die dann mit aufwecken weiterentwickelt wird (metaphora continuata). Der Schlaf hat neben positiven (vgl. Jakob Genesis 28,10ff.) in der Bibel auch negative Konnotationen:
Aus dem zeitgenössischen Umfeld der Radierung sei erinnert an das evangelische Kirchenlied von Johann Rist (1607–1667):
»Auffwecker« kommt als Buchtitel öfters vor. In einer öffentl. Hier das Titel-Kupfer zu Abraham, a Sancta Clara, Auff, auff Ihr Christen! Das ist: ein bewegliche Anfrischung der Christlichen Waffen Wider Den Türckischen Bluet-Egel; sambt Beygefügten Zusatz vieler herrlichen Victorien und Sieg wider solchen Ottomannischen Erb-Feind […], Wien: Johann von Gehlen 1683. (Das Kupfer nicht in den Digitalisaten der UB Freiburg/Br. und der BSB München, aber in dem der ÖNB > https://books.google.ch/books?id=1_1XAAAAcAAJ&hl=de&source=gbs_navlinks_s – hier aus einer öffentl. Bibliothek in Zürich)
Der Engel bläst aus dem Instrument: Stehe auff; der Schriftzug auf dem Strahl aus dem Kanonenrohr rechts ist gespiegelt: Wache Auff [José Barcia y Zambrana] Christ-eyfriger Seelen-Wecker/ Oder Lehrreiche Predigen über absonderliche Stellen der H. Schrifft. Zu disem Zihl und End eingerichtet, Daß der Sünder in sich selbsten gehe/ den gefährlichen Schlaff der Sünden überwinde, und sich zu wahrer Buß eyfrig und zeitlich aufmuntere. In zwey Bücher abgetheilt, Mit weitläuffiger Anleitung Wie alle und jede Predigen auf die Evangelia der Fasten und des Advents zu gebrauchen […] verfasset von … Josepho de Barzia und Zambrana […]. Aus Spanischer Sprach/ in welcher es zu Madrit zum siebenden mahl in Druck ausgangen/ anjetzo mit vierfachen sehr nutzlichen Registern bestens versehen/ und in das Hoch-Teutsche treulich übersetzt von Einem der Hochlöbl. Societæt Jesu Priestern [Marcus Fridl]. Erster Theil, Augsburg und Dillingen: Bancard 1715.
Zum Vers Psalm 75 [Vg. / 76 MT],4ff. »turbati sunt omnes insipientes corde. Dormierunt somnum suum, et nihil invenerunt omnes viri divitiarum in manibus suis.« »Als du wunderbar herleuchtetest von den ewigen Bergen, da sind erschrocken alle Sinnesbetörten. Sie schliefen ihren Schlaf, und es fanden nichts in ihren Händen die Männer des Reichtums. Von deinem Schelten, Gott Jacobs, entschliefen sie, die da bestiegen haben die Pferde.« [Übers. von J.F.Allioli] zeigt der Stuttgarter Psalter (datiert 820 / 830) Fol. 88 verso ein zu einem Schlafenden herunterschwebendes geflügeltes dämonisches Wesen: Stuttgarter Psalter (Württembergische Landesbibliothek Stuttgart, Bibl. fol. 23) > https://archive.org/stream/StuttgarterPsalter#page/n181/mode/1up Der Sieges-Psalm evoziert den Tod (≈ Schlaf) der Israel feindlichen Völker. Steht das geflügelte Wesen für das todbringende ›Schelten› (increpatio) Gottes?
Literaturhinweise:
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