Die Sirenen und Odysseus
••• Kirke weissagt dem Odysseus (Homer, »Odyssee« XII,39ff.):
Welcher mit törichtem Herzen hinanfährt und der Sirenen
Stimme lauscht, dem wird zu Hause nimmer die Gattin
Und unmündige Kinder mit freudigem Gruße begegnen;
Denn es bezaubert ihn der helle Gesang der Sirenen,
Die auf der Wiese sitzen, von aufgehäuftem Gebeine
Modernder Menschen umringt und ausgetrockneten Häuten.
Aber du steure vorbei und verklebe die Ohren der Freunde
Mit dem geschmolzenen Wachse der Honigscheiben, daß niemand
Von den andern sie höre. Doch willst du selber sie hören,
Siehe, dann binde man dich an Händen und Füßen im Schiffe,
Aufrecht stehend am Maste, mit festumschlungenen Seilen,
Daß du den holden Gesang der zwo Sirenen vernehmest.
Dann hört Odysseus sie singen (158ff.):
»Komm, vielgepriesener Odysseus, du großer Ruhm der Achaier!
Lenke dein Schiff ans Land und horche unserer Stimme.
Denn hier steuerte noch keiner im schwarzen Schiffe vorüber,
Eh er dem süßen Gesang aus unserem Munde gelauschet.
Und dann ging er von hinnen, vergnügt und weiser wie vormals.«
Usw.; alles nachzulesen hier
> http://www.zeno.org/Literatur/M/Homer/Epen/Odyssee/12.+Gesang
••• Die Geschichte wird kurz erwähnt von Ovid (Metamorphosen V, Verse 551–563); die Ilustratoren haben das Motiv gerne aufgegriffen. Hier Antonio Tempesta (ca. 1555 – 1630):
Metamorphoseon sive transformationum Ovidianarum libri quindecim, aeneis formis ab Antonio Tempesta florentini incisi et in pictorum antiquistatisque studiosorum gratiam nunc primum exquisitissimis sumptibus a Petro de Iode Antverpiano in lucem editi Aº 1606.
••• Die Geschichte war auch im Mittelalter bekannt. Hier die Fassung in der Enzyklopädie der Herrad von Landsberg († ca. 1196):
Herrad von [Landsberg, Äbtissin von] Hohenburg, »Hortus deliciarum«, ed. Rosalie Green, M. Evans, C. Bischoff, M. Curschmann, (Studies of the Warburg Institute 36), 2 vols., London / Leiden 1979. — fol 221r/v (= Planche 125/6/7); Text # 756.
Hier der Text mit der deutschen Übersetzung von Peter Stotz (1942–2020):
Seculi sapientes scribunt tres syrenas in insula maris fuisse et suavissimam cantilenam diversis modis cecinisse. Una quippe voce, altera tybia, tercia lira canebat. He habebant facies mulierum, alas et ungues volucrum. Omnes naves pretereuntes suavitate cantus sistebant, nautas sompno oppressos lacerabant, naves salo inmergebant. |
Die Weltweisen schreiben, drei Sirenen hätten sich auf einer Insel des Meeres befunden und auf unterschiedliche Art eine höchst reizvolle Melodie hören lassen, nämlich die eine mit ihrer Stimme, die andere auf der Flöte und die dritte auf der Leier. Sie hatten Gesichter von Frauen, aber Flügel und Krallen von Vögeln. Alle vorbeifahrenden Schiffe brachten sie durch ihren süssen Gesang dazu stillzuhalten, die Matrosen, die sie in Schlaf sinken liessen, zerfleischten sie, die Schiffe versenkten sie im Meer |
Cumque quidam dux, Ulixes nomine, necesse haberet ibi preternavigare, jussit se ad malum mastbovm navis ligare, socios autem cera aures obdurare bestopfen, et sic periculum illesus evasit et eas fluctibus submersit. |
Als aber ein Gewisser Heerführer, Ulixes [Odysseus], notwendig dort vorbeifahren musste, liess er sich an den Mastbaum des Schiffes binden, seinen Gefährten aber mit Wachs die Ohren verstopfen [obturare], und so entging er der Gefahr unversehrt und ertränkte sie [die Sirenen] in den Meeresfluten. |
Hec sunt, carissimi, mystica quamvis per inimicos Christi scripta. |
Das ist, meine Lieben, eine Erzählung mit verborgener Bedeutung, wiewohl Feinde Christi sie aufgezeichnet haben. |
Per mare istud seculum intelligitur, quod continuis tribulationibus, procellis, volvitur. Insula est mundi gaudium, quod crebris doloribus intercipitur, sicut litus crebris undis impetitur. Tres syrene que suavi cantu navigantes demulcendo in sompnum vertunt tres sunt delectationes que corda hominum ad vicia molliunt et in sompnum mortis ducunt. |
Unter dem Meer ist diese Welt zu verstehen, welche andauernd durch Stürme der Bedrängnisse aufgefühlt wird. Die Insel ist die Weltlust, die mit häufig auftretenden Schmerzen durchsetzt ist, so wie auf das Ufer häufig anbrandende Wellen treffen. Die drei Sirenen, welche durch lieblichen Gesang die Seefahrer betören und zum Schlafen bringen, sind drei Annehmlichkeiten, welche die Herzen der Menschen durch Verweichlichung den Lastern anheimgeben und in den Schlaf des Todes führen. |
Que humana voce cantat est avaricia, […] Que canit tybia est jactantia, […] Que melos exprimit lira est luxuria, […] |
Die, welche mit menschlicher Stimme singt, ist die Gier nach Besitz … Die, welche Flöte spielt, ist die Überheblichkeit … Die, welche ihre Weise auf der Lyra erklingen lässt, ist die Fleischeslust … |
Facies habebant mulierum, quia nil ita mentem hominis a Deo alienat quam amor mulierum. Alas habebant volucrum, quia semper est instabile mundanorum desiderium; nam nunc hoc appetunt, nunc vero illud concupiscunt. Ungues etiam habebant volucrum, quia omnes quos ad peccata pertrahunt doloribus lacerantes ad inferni cruciatus rapiunt. |
Sie hatten Gesichter von Frauen, denn nichts entfremdet den Sinn des Menschen so sehr von Gott wie die Liebe zu den Frauen. Sie hatten Flügel von Vögeln, denn die Begierde der weltlich Gesinnten ist stets unbeständig; bald nämlich erstreben sie das oder das, bald aber begehren sie dieses und jenes. Auch Krallen von Vögeln hatten sie, denn die, welche sie zum Sündigen hinzerren, zerfleischen sie unter Schmerzen, und sie treiben sie den Peinigungen der Hölle zu. |
Ulixes dicitur sapiens, hic illesus preternavigavit quia christianus populus vere sapiens in navi Ecclesie mari huius seculi superenatat. Timore Dei se ad arborem navis, id est ad crucem Christi ligat, sociis cera, id est incarnatione Christi, auditum obsigillat, ut a viciis et concupiscentiis cor avertant et sola celestia appetant. Syrene submerguntur quia concupiscentie ab eis vigore spiritus premuntur. Ipsi evadunt periculum quia post victoriam ad sanctorum perveniunt gaudium. |
Mit Ulixes ist der Weise benannt: Er fährt unversehrt vorüber, denn das Christenvolk, das wahrhaft weise ist, fährt im Schiff der Kirche über das Meer dieser Welt hinweg. Aus Furcht Gottes bindet er sich an den Mastbaum des Schiffes, das heisst: an das Kreuz Christi. Den Gefährten versiegelt er mit Wachs – das ist: mit der Fleischwerdung Christi – das Gehör, damit sie ihr Herz von Lastern und Lüsten abwenden und allein nach dem streben, was im Himmel ist. Die Sirenen werden ersäuft, weil die Begierden von ihnen durch die Kraft des Geistes abgewehrt werden. Sie selber entgehen der Gefahr unversehrt, denn sie gelangen sieghaft zu den höchsten Freuden der Seligen |
• In den »Gesta Romanorum« (vermutlich um 1300 zusammengestellte Sammlung von Geschichten, Legenden, Märchen, Parabeln, Apophthegmata; mit Moralisationen, die auf allegorischer Deutung beruhen. Die älteste bekannte Hs. stammt aus dem Jahr 1342) tönt das so:
Dixit ovidius quod tres fuerunt syrene in quadam insula maris, una cantabat cum cytara. Altera cum lyra. Et tercia cum voce humana, quod omnes in suavem melodiam resonabant ita quod transeuntes juxta insulam abdormire facerent.
Et cum omnes dormire sensissent, ascendebant et eos invadebant et sic interficiebant homines.
Cum vero ulixes transiret et sciret periculum imminem, obturavit aures suas ne sonitum earum audiret et sic evasit.
[Moralisation] Insula maris est iste mundus qui undique circumdatur aquis amaritudinis.
Tres syrene sunt tres qui in mundo sunt ad peccatum incitantia sc[ilicet] caro, mundus et dyabolus.
Tria carmina sunt delicie, divicie, honores; cantat enim caro suaviter in lira, mundus curiose cum cithara, dyabolus, honores et excellentias in voce hnmana.
Caro dicit: Juvenis es et adolescens si penitentia te affligeres teipsum interficeres.
Persuadet enim mundus dicens: juvenis es et ideo debes vacare diviciis aggregandis ut provideas tibi contra senectutem.
Dyabolus persuadat et cantat dicens homini, generosus es et non debes subesse aliquo: fortis es et potens et ideo non despicieris ab aliquo.
Sed ab istis persuasionibus debes obturare aurem tuam cogitando illud [Psalm 57,9]: Sicut cera que fluit auferetur ita pereant peccatores a facie dei.
Sed solus ulixes pertransiit et evasit. Sic quilibet homo humilis qui designatur per ulixem poterit evadere illas tres syrenes.
hg. Hermann Oesterley, Berlin 1872, Nummer 237 (app.41)
Von drei Sirenen, die viele Schiffer ertränkten. Man liest, daß drei Sirenen auf einer Insel waren oder auf einem Werder, die sangen die allersüßesten Weisen. Die eine sang mit menschlicher Stimme, die andere bließ auf einem Rohre und die dritte spielte auf einer Leier. Die Sirenen hatten aber ein weibliches Antlitz, Flügel und Krallen aber wie ein Vogel, und alle Schiffer, die vor ihnen vorüberzogen, die versenkten sie, und die, so in den Schiffen schliefen, die ertränkten und zerrissen sie. Nun geschah es, daß ein Herzog aus Noch vor ihnen vorüberfahren mußte, da befahl er, daß man ihn an den Segelbaum binden sollte und seine Ohren ganz und gar verstopfen, und also kam er hin vor die Sirenen mit allen den Seinen, und die Sirenen ertränkte er im Meere.
Gesta Romanorum, das älteste Mährchen- und Legendenbuch des christlichen Mittelalters. übers. Joh. Th. Gräße, Leipzig 1905. — Die Moralisationen sind hier weggelassen.
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http://www.zeno.org/nid/20007812094
Wer die Moralisation in der mittelhochdeutschen Übersetzung hg. Adelbert von Keller Der Rœmer Tat (Bibliothek der ges. dt. Nationallitteratur 23), Quedlinburg/Leipzig 1841, ganz lesen möchte: >>> hier zum Download
- Das Meer bedeutet allegorisch die Welt
- Die drei Sirenen bedeuten die drei wollüste, die mit ihrem Gesang das Herz der Sünder besänftigen, bis diese sterben:
- geitichait (Habgier)
- übermuot
- vnchæusch
••• Bei Franciscus Reinzer S. J. (1661–1708), ist der Politicus oder Welt-Mann angesprochen:
Meteorologia Philosophico-Politica, Das ist: Philosophische und Politische Beschreib- und Erklärung der Meteorischen / oder in der obern Lufft erzeugten Dinge; In zwölff zerschiednen […] mit untermischten schönen Sinn-Bildern gezierten Abtheilungen sonderbahren Fleisses ehedem verfasst durch den Ehrw. P. Franciscum Reinzer, S.J. […]. Anjetzo wegen der darinnen enthaltnen raren und anmuthigen Materien / curiosen Gemüthern zu Gefallen / und zu nutzlicher Ergötzung […] in das Teutsche übersetzt. Augsburg: Jeremias Wolff 1712.
Hören ist so viel als die Thür eröffnen. Die Wollust / wo sie nur den kleinsten Riß findet / weiß sich listig einzuschleichen / weil sie schlüpffrig ist. Versperre die Ohren mit einem festen Riegel / sonst bistu verlohren. Denn wer der Wollust folgt, der leidet erbärmlichen Schiffbruch an der Vernunfft. Wenn man selbige vermeiden will / so muss man ihren Bezauberungen kein Gehör geben / sondern vielmehr die Ohren verstopffen.
Von den mit Saiteninstrumenten im Meer musizierenden Sirenen heißt es in der Umschrift: Ihr singt einem Tauben, ihr singt einem Gefesselten. Ein Gedicht formuliert eine Moral dazu:
Hätt sich Ulysses nicht fest an den Mast gebunden /
Noch auch das Ohren-Paar verstopfft**** / und taub gemacht;
Die süß Sirenen-Stimm’ hätt ihne überwunden /
Und gleich wie andere in Noth und Todt gebracht.
Du sollst der Wollust / wann sie lockt / den Rucken kehren;
Verschließ’ Gemüth und Sinn / und lass dich nicht bethören.
***) Das hat er ja eben gerade nicht getan! Auch auf dem Bild falsch dargestellt, wie schon bei A.Tempesta.
••• Der 1917 verfasste Text von Franz Kafka »Das Schweigen der Sirenen« beginnt so: Beweis dessen, daß auch unzulängliche, ja kindische Mittel zur Rettung dienen können: Um sich vor den Sirenen zu bewahren, stopfte sich Odysseus Wachs in die Ohren und ließ sich am Mast festschmieden. […] Odysseus […] vertraute vollständig der Handvoll Wachs und dem Gebinde Ketten, und in unschuldiger Freude über seine Mittelchen fuhr er den Sirenen entgegen. Dann nimmt die Geschichte aber eine seltsame Wendung.
> https://de.wikisource.org/wiki/Das_Schweigen_der_Sirenen
••• Eine konkrete politische Aussage hat die mythische Geschichte dann in dieser Karikatur. Zielscheibe der sozialdemokratischen Satirezeitschrift »Der Wahre Jacob« war die konservative Reichspolitik. vgl.:
https://www.ub.uni-heidelberg.de/helios/fachinfo/...wahre_jakob.html
»Der wahre Jacob« Titelseite der Ausgabe Nr. 353 vom 13. Januar 1900.
Sirenenklänge
Der deutsche Michel wär schon lange
Bethörz von dem Sirenenklange
Der n a s s e n Weltmachtspolitik
Ins bess’re Jenseits abgefahren;
Doch Freunde giebt’s, die ihn bewahren,
Die kräftig halten ihn zurück.
Auf dem REICHSTAGSSCHIFF wird als Odysseus am Mast angebunden der Deutsche Michel von den Sozialdemokraten
- August Bebel (1840–1913),
- Wilhelm Liebknecht (1826–1900)
- Paul Singer (1844–1911);
- Georg von Vollmar (1850–1922) am Ruder,
damit er nicht den Sirenenklängen der konservativen Kräfte folgt mit
- Konteradmiral Alfred Tirpitz (1449–1930), der den Ausbau der deutschen Kriegsflotte vorantreibt,
- Reichskanzler Fürst zu Hohenlohe-Schillingsfürst (1819–1901)
- dem preussischen Finanzminister Johannes von Miquel (1828–1901).
••• Der Karikaturist Erich Schilling (1885–1945) zeichnet (nach seiner Wende vom Sozalisten zum Anhänger des neuen Regimes) 1940 diese Karikatur: Der Schwedische Odysseus und die Sirenen
Quelle: http://monsterbrains.blogspot.com/2015/12/erich-schilling.html
Hintergrund: Der Ausbruch des finnischen Winterkrieges im November 1939 und der deutsche Angriff auf Dänemark und Norwegen im Frühjahr 1940 stellten die schwedische Regierung vor eine harte Probe. Ein Kriegseintritt auf Seiten der Alliierten hätte einen Stop der Lieferung von schwedischem Erz für Deutschland bedingt. Vgl. > https://de.wikipedia.org/wiki/Appeasement-Politik
Karikiert sind: König Gustaf V. als Odysseus auf dem Schiff; die Politiker der Alliierten als Sirenen, die den Schweden einflüstern, sich vom Nazi-Reich ganz abzuwenden. Neville Chamberlain (mit Zylinder); links und rechts daneben evtl. Franklin Roosevelt und evtl. Wjatscheslaw Molotow.
••• Weitere bildliche Darstellungen
Antiker Sirenen-Stamnos
>
https://www.britishmuseum.org/collection/object/G_1843-1103-31
Das Bild von Arnold Böcklin (1875)
>
https://de.wikipedia.org/wiki/Datei:Arnold_B%C3%B6cklin_-_Sirenen_(1875).jpg
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Einige Literaturhinweise:
Hugo Rahner, Griechische Mythen in christlicher Deutung, Zürich 1945, 3.Aufl. 1966.
Siegfried de Rachewiltz, De sirenibus. An inquiry into sirens from Homer to Shakespeare, New York: Garland, 1987 (Harvard dissertations in comparative literature)
Sabine Wedner, Tradition und Wandel im allegorischen Verständnis des Sirenenmythos. Ein Beitrag zur Rezeptionsgeschichte Homers, Frankfurt am Main / Bern: Lang 1994 (Studien zur klassischen Philologie 86)
Bernd Roling, Drachen und Sirenen. Die Rationalisierung und Abwicklung der Mythologie an den europäischen Universitäten, Leiden: Brill 2010 (Mittellateinische Studien und Texte 42), S. 17–288.
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