Reisen zum Rande der WeltZur Beachtung: Bei dieser Seite handelt es sich um eine Skizze, die noch mit Fehlern behaftet ist. Die gültige (und einzig zitierbare) Version befindet sich im Buch »Spinnenfuß & Krötenbauch. Genese und Symbolik von Kompositwesen« An den Rändern der WeltEx Africa semper aliquid novi – Aus dem Schwarzen Kontinent kommt immer wieder Unerhörtes, so tönt es seit der Spätantike (Plinius, nat. hist. VIII, xvii, 42). Dabei pendelt das Exotische immer zwischen den Polen des Sehenswürdigen und des Barbarisch-Rohen. Je weiter man in ferne Länder reist, desto seltsamere Wesen trifft man dort. Die heimische Welt kennt keine widernatürliche Wesen. (Wenn dennoch solche vorkommen, so müssen sie als Ausnahmeerscheinungen energisch weg-interpretiert werden.) Odysseus begegnet nur an den entfernteren Ufern des Mittelmeers seltsamen Wesen: dem Kyklopen, den Laistrygonen, den Sirenen – in Troja wie im heimatlichen Ithaka ist alles normal. Man kommt schnell auf die Vermutung: Werden allenfalls unsere Albträume und Gruselphantasien auf die fernen Popoulationen projiziert? Hier ist der Begriff der Projektion zu erwähnen, der von Sigmund Freud mit Beziehung auf einfache Kulturen so gefasst wurde: »Die Geister und Dämonen sind … nichts als die Projektionen seiner Gefühlsregungen; er [der Primitive] macht seine Affektbesetzungen zu Personen, bevölkert mit ihnen die Welt, und findet nun seine inneren seelischen Vorgänge außer seiner wieder.« S. Freud, »Totem und Tabu« (1913) Kapitel III,4. Der Mechanismus gilt ebenso für komplexere Kulturen (wozu wir uns doch rechenen wollen). Personen, Ethnien, Bereichen, die nicht zu unserer Welt gehören oder gehören sollen, werden ausgegrenzt oder mindestens an die Ränder, Grenzen hingeschoben, marginalisiert. Wir möchten zeigen, dass diese Wesen jenseits der Ordnung, genauer: jenseits unserer gewohnten Ordnung hausen. Hier das zivilisierte Europa – dort eine barbarische ferne Welt. An den Rändern der Welt hausen die seltsamen Gestalten. Man glaube nicht, das sei einr Eurozentrismus: Andere Kulturen verfahren genau gleich. So gibt es in der chinesischen Enzyklopädie »San Ca Tuhui« (Anfang unseres 17. Jahrhunderts) am Schluss des Artikel ›Biographien‹ einen Abschnitt über Menschen, die nicht aus dem Reich der Mitte (eben!) stammen. Auch hier findet man neben glaubwürdigen Berichten eher phanstaisevolle. Es finden sich gefiederte Menschen; solche mit Schwänzen, die erst ein Loch in die Erde graben müssen, um sich bequem zu setzen; solche mit Pferdehufen. Hier ist abgebildet ein Angehöriger der Wusun: Die ›Wunder des Ostens‹ haben seit der Spätantike über Jahrhunderte die Vorstellungen der Europäer über die weit abgelegenen Weltteile beherrscht; die Beschreibungen wurden von Autor zu Autor weiter kolportiert, und auch in Zeiten, als die Geographen und Ethnographen bessere Kenntnisse brachten, wurden die seltsamen Gestalten munter weiter beschrieben und gezeichnet. Bereits 1942 hat der überaus gelehrte Rudolf Wittkower (1901–1971) ihre Geschichte detailliert erforscht und dokumentiert. Die Schedelsche Weltchronik (Nürnberg 1493) Digitalisat bei Wikisource: fol. XII verso und XII verso / XIII recto hat verschiedene Berichte zusammengeklittert und bietet einen guten Überblick über das, was da an den Rändern der Welt kreucht und fleucht. (Wir kürzen den Text und kommentieren ihn etwas.)
ReiseberichteReiseberichte sind eine seltsame Mischung aus Beobachtung und Phantasie. Reisende – insbesondere belesene – fuhren in ferne Länder mit einer Vorstellung davon, was sie dort finden würden; und unpräzise zugetragene Berichte von Eingeborenen oder Berichte aus zweiter Hand ließen sie dies dann wirklich ›sehen‹. Diese Mischprodukte von enzyklopädischem Halbwissen, Romanlektüren und empirischen Berichten gingen in die Beschreibung ein und bestätigten dann die aus den Büchern stammenden Vorstellungen. Denken wir nur daran, welche Vorstellungen vom Einhorn ein Gebildeter im Kopf hatte, und wie er dann die Erzählung von einem Nashorn auffasste und aufschrieb – und wie ein Illustrator dies aufgrund seiner Bilderinnerungen dann wiedergab. – Selbst Berichte von Reisenden, von denen wir mit Bestimmtheit wissen, dass Sie wirklich in fernen Gegenden unterwegs waren, enthalten immer wieder die klassischen Wunderwesen. Pharusmanes De rebus in Oriente mirabilibus (Lettre de Farasmanes), éd. synopt. accomp. d'une introd. et de notes par Claude Lecouteux, Meisenheim am Glan: Hain, 1979 (Beiträge zur klassischen Philologie 103) Alexanderroman ¶ 188: "Darauf zog das Heer weiter und kam in eine wüste Gegend, die lag zwischen dem Roten Meer und Arabien; dort wuchs Pfeffer die Menge. Und wunderbar große Schlangen waren dort mit Hörnern am Kopf wie bei ausgewachsenen Widdern, damit fielen sie die Soldaten Alexanders an. Aber dennoch erschlugen die Makedonier den größten Teil von ihnen."
Herzog Ernst Die mittelhochdeutsche Versdichtung von Herzog Ernst (Fassung B vom Anfang des 12.Jhs.; ca. 6000 Verse lang) hat eine (in unserem Zusammenhang nicht interessierende) Rahmengeschichte, die besagt, der Protagonist wegen einer Verleumdung und einer daraus entstehenden Fehde der Reichsacht verfällt. Herzog Ernst flüchtet mit Getreuen auf eine Pilgerreise Richtung Jerusalem; aber sie kommen vom Kurs ab und bei dieser Irrfahrt begegnen ihm seltsame Abenteuer. Wie er endlich am Ziel anlangt, erfährt dies der Kaiser und nimmt ihn wieder huldvoll auf. (Einige der wunderbaren Wesen, die Ernst aus dem Orient mitbringt, kommen in den Zoo des Kaisers.) Es handelt sich um die Verquickung eines Stoffs mit historischem Kern aus dem Ende des 10.Jhs.und Stoffgeschiebe aus den fabulösen Orientreisen. Ein Abenteuer ist das mit den Kranichschnäblern: In Grippia begegnen Herzog Ernst und sein Begleiter Wetzel menschlichen Wesen mit Kranichköpfen. Der überaus reiche und prunkvoll Hof haltende König dieser Kompositwesen möchte gerade eine in Indien geraubte Königstochter heiraten. Ernst und Wetzel versuchen, die schöne Jungfrau, der die Tränen auf die Brüste rollen, während des Festmahls zu befreien; ihr Plan misslingt indessen, und die Unglückliche wird von den Schnäbeln der Erzürnten zerhackt. Nach blutigen Kämpfen gelingt ihnen die Flucht auf ihr Schiff. Hier einige Zitate (in Übersetzung):
Nicht nur die Leiber der Leute aus Grippia sind komposit; auch ihr Verhalten: einerseits haben sie eine perfekte europäisches Hofhaltung, anderseits krächzen sie tierisch. Die Kranichschnäbler werden eine lange Tradition ausserhalb der Geschichte von Herzog Ernst haben (vgl. den reichhaltigen Aufsatz von H.Brunner). Der frühe Journalist Eberhard W. Happel ist sich wie häufig nicht über ihren Realitätsgehalt sicher. In seinen »Relationes Curiosae« (Band II, 1685, S. 79) schreibt er:
Mandeville Zuerst werden von verschiedenen Ausgangspunkten mehrere Pilgerwege nach Jerusalem geschildert, dabei werden die Heiligen Stätten (Berg Sinai; Bethlehem; Jerusalem; heiliges Grab; auch der Berg, auf dem der Teufel Jesus versuchte) und einige Orten in Ägypten detailliert beschrieben. In Exkursen werden Wunderberichte eingeschoben. Einige Kapitel sind dem Glauben der Mohammedaner gewidmet. Dann weitet sich der Blick übergangslos nach Osten zu einem Bericht zu einer Entdeckungsreise bis nach China und schließlich in das Reich des Priesters Johannes. Oft ist der Text eine Mixtur aus einer Zusammenfassung der biblischen Geschichte, geographischen Schnipseln, Reisetips und Legendarischem, ja Märchenhaftem. Die Verknüpfungen sind oft assoziativ. Gelegentlich bekommt man den Eindruck, es gehe ihm darum zu erörtern, welche Realität hinter den in der Bibel genannten Dingen steht: Was war der Turm von Babel genau? Wo steht der Baum, an dem sich Judas erhängte? Aus welchem Holz bestand das Kreuz Jesu? Ausgangspunkt ist das Interesse, ja die Realismussucht der Leser von Pilgerberichten; und diese wird dann in die weiter östlich gelegenen Gebiete hinein weiter verfolgt – und befriedigt. Da berichtet Mandeville dann von den Kynokephalen, von den Greifen, von den Hermaphroditen usw., lauter Dingen, die er aus seiner Lektüre kennt, aber als gesehen ausgibt. Ein Greif; Holzschnitt aus der deutschen Übersetzung des Otto von Diemeringen, Basel: Bernhard Richel [um 1481]. Das .ii. Capitel im .iiij. buoch, über das Land Backarie [Velser: Balkarya, Balkerya]: jn dem selben land sind ouch vogel die heissent griffen den ist das vorderteil geschaffen als eim vogel vnd das hinder teil als eim löwe vnd sind gar starcke vnd sind jnen die klawen an den vordren vogel füessen als groß als ochsen hörner vnd macht man trinck geschir daruß vnd ist ein gryff also starck das er ein gantz rind vff in die lüfft zücht vnd es mit jm füert in sin nest vnd sin vedren speltet man nach der lengi vnd vusser ieglichen stucke wirt ein starcker boge da mit man schüsset. Man hat Mandeville immer wieder vorgeworfen, sein Buch sei e ein ›Machwerk‹, schließlich sei er nie aus Frankreich herausgekommen und habe alles aus Büchern kompiliert. Man könnte es auch anders sehen: Er schreibt eine Enzyklopädie fremder Länder in der Form eines Baedekers; er wählt die Form des Reiseberichts nur als Medium, um all die Lesefrüchte hübsch aufzureihen. – Allerdings ist dagegenzuhalten, dass der Verfasser zuletzt schreibt "Ich, Hans von Mandavilla, ritter, fuor von minem land úber mer, do man zalt von Cristus geburt tusend drú hundert und zway und zwaintzig jâr, und hab ersuocht menig [manches] land und menig ynsel und menig guot gesellschafttt, […] Und was ensit mers biß man zalt von Cristus geburt tusend drú hundert und súben und fúnfftzig jâr. Do kam ich haim und muost ruowen über min gedenck." (in der mittelhochdeutschen Übersertzung des M. Velser, letztes Viertel des 14. Jhs.)
Weltkarten und EnzyklopädienIn mittelalterlichen Weltkarten (die eher als in den geographischen Raum ausgelegte Enzyklopädien zu verstehen sind denn als Atlanten) siedeln die Kompositwesen an den Rändern der Welt. Hingeweisen sei hier nur auf die Ebstorfer Weltkarte (um 1300) und die Karte von Hereford (Ende 13.Jh.).
Die Holzdecke der Kirche St. Martin in Zillis (genau datierbar auf 1109 bis 1114) besteht aus 153 Kassetten (das ist eine Symbolzahl für die Ganzheit), angeordnet in 9 mal 17 Reihen. Die inneren Felder sind fast ganz in bilderbuchartiger Abfolge dem Leben und Leiden Jesu gewidmet; die Felder am Rand zeigen (abgesehen von wenigen Ausnahmen) Wesen im die Erde begrenzenden Ozean: beispielsweise mit Fischschwänzen versehene Löwen, Elefanten, Einhorn, Wider; einen Drachen; eine Sirene; mehrere Nereiden. Man hat diese liebevoll gemalten Wesen oft als ›Ungeheuer‹ oder ›Fabelwesen als Sinnbilder des Bösen‹ bezeichnet; Christoph Eggenberger hat darauf hingewiesen, dass der Psalm 148 (Verse 7 und 10) sagt: Lobet den Herrn auf Erden, ihr Ungeheuer (Vulgata: dracones et omnes abyssi) und alle Tiefen des Meeres, […], ihr wilden Tiere und alles Vieh, Gewürm und Vögel! (bestiae et omnia iumenta reptilia et aves volantes). Die fremden Wesen zeigen, dass sich Gottes Macht bis ans Ende der Welt erstreckt.
Das Tympanon der Kirche Sainte-Madeleine zu Vézelay (1122) hat die Aussendung der Apostel zum Thema. Jesus sagt zu ihnen: Ihr werdet die Kraft des Heiligen Geistes empfangen, der auf euch kommen wird, und werdet meine Zeugen sein in Jerusalem und in ganz Judäa und Samarien und bis an das Ende der Erde. Apg 1.8 (vgl. Luk. 9, 1-6; Mark. 6, 7-13; Matth. 10, 1. 5-15). Das Bild zeigt Jesus, von dessen Händen Lichtstrahlen zu den Häuptern der Apostel ausgehen. Auf dem Türsturz und in Feldern am Rand erscheinen die Völker am Rand der Erde, denen das Evangelium gepredigt werden soll, darunter auch Kynokephalen, die also durchaus christianisiert werden können. (In der Bogenlaibung sind die Tierkreiszeichen und Monatsarbeiten dargestellt.)
Die seltsamen Wesen werden von Hartmann Schedel dann in separate Randleisten neben der (relativ modernen ptolmäischen) ausgelagert. — Die von Sebastian Münster (1488–1552) herausgegebene, deutsch abgefasste und illustrierte »Cosmographia« ist erstmals 1544 in Basel bei Heinrich Petri gedruckt und verlegt worden; zu seinen Lebzeiten erschienen fünf stets erweiterte Auflagen; insgesamt hat das Buch bis 1628 46 Auflagen erlebt. Auch der überaus gelehrte Münster war ein Stubenhocker, und so verwundert es kaum, dass er dort, wo er über die Länder im fernen Osten Material zusammenträgt, auch die bekannten fabulösen Wesen nennt. Münster erwähnt beispielsweise – die Sorge um den Wahrheitsgehalt vorsichtig den Quellen aufbürdend – dass sich die antiken Autoren vorgestellt haben, in Indien lebten viele Monstra. Es haben die Alten auch gar viel seltzame Monstra erdichtet/ die in diesem Landt sollen erfunden werden/ besunder schreiben darvon Megasthenes vnd Solinus/ daß in den Indianischen Bergen Menschen sind die haben Hundsköpff/ vnd Mäuler wie die Hund/ vnd darum können sie nicht reden/ sonder heulen vnd Bellen wie die Hund. Der beigegebene Holzschnitt kann natürlich keine Kritik zeigen. Er wird wiederholt beim Eintrag über die Völker im Morenlandt (Wortlaut der Ausgabe Sebastian Henricpetri, Basel 1588; Seiten Mcccxlix und Mccccxiij). Eine Visualisierung dieser Wesen findet sich in Münsters lateinischer Ausgabe von 1550. (Es ist nicht leicht abzuklären, wann ein Bild in den 46 Auflagen das erste Mal erscheint.) Die Holzschnitte wurden damals von Buch zu Buch rezykliert, namentlich wenn die Bücher beim selben Verleger oder in der selben Region erschienen. Derselbe Hozschnitt wurde dann verwendet in der 1554 ebenfalls in Basel erschienen »Heydenweldt« des Johann Herold (1514-1567), und zwar in dessen Übersetzung des Diodorus Siculus (1. Jh. v.u.Z.), der über die Tiere Africas berichtet (4. Buch, 4. Kapitel): er nennt die Meerkatzen und unmittelbar darauf "Die thier so man Cynocephalos oder hundsköpff nennet/ die sind sont den menschen am leyb nit fast vngleich/ auch nimpt es sichmenschlicher stimm an/ ein wild/ vnzämig thier daz kein vernunfft hat/ kein augpraen/ ist erschrockenlich grausam anzuosehen." Derselbe Holzschnitt ist bereits verwendet worden in der »Margarita Phylosophica« genannten Enzyklopädie des Gregor Reisch († 1525), die seit 1503 immer wieder aufgelegt wurde, und zwar im Kapitel, wo von den Ursachen der Monstruositäten und Wunder die Rede ist (Liber VIII, Cap xix, bereits in der Ausgabe Straßburg 1504; vgl. die Ausgabe Basel: Michael Furter 1517; Seiten 345 und wiederholt auf S. 405 bei Geldsetzer.) Bild aus Herold, Heydenwelt
›Wirkliche‹ Reiseberichte aus dem Hochmittelalter Von einigen Männern können wir mit ziemlicher Sicherheit annehmen, dass sie wirklich weit gereist sind. Auch sie haben Wesen angetroffen, die wir von heute aus als irreal einstufen. Der Franziskaner Piano Carpine (auch Johannes de Plano Carpini; † 1252) unternahm 1245/1247 eine Reise zu den Mongolen/Tartaren und lieferte nachher Papst Innocenz IV. einen sehr modern wirkenden ethnographischen Bericht ab. Kapitel V, ¶ 31 erzählt er von Leuten, die Monster angetroffen haben, die wohl einen Menschenkopf hatten, deren Beine aber in Ochsenfüßen ausliefen. Sie hatten wohl einen menschlichen Kopf, aber ein Hundegesicht Zwei Worte sprachen sie wie ein Mensch, beim dritten aber bellten sie wie ein Hund.
Wilhelm von Rubruk ( † um 1270) unternimmt 1253 buis 1255 eine Reise über Konstantinopel bis Karakorum, der Hauptstadt der Mongolei. Er beschreibt seine Erlebnisse und die Sitten der angetroffenen Ethnien, aber keine seltsamen Wesen.
Marco Polo († 1324). Messer Marco Polo, ein gebildeter edler Bürger aus Venedig, erzählt hier, was er mit eigenen Augen gesehen hat. Es gibt allerdings einzelnes, das er nicht gesehen, jedoch von vertrauenswürdigen Leuten vernommen hat. [...] Jeder Leser und jeder Zuhörer darf Vertrauen haben: das Buch handelt nur von wahren Begebenheiten. (¶ I) Es ist die reine Wahrheit. Dort kommen die fabelhaftesten Dinge vor. Wer davon hört, wird sich vor Verwunderung nicht fassen können. Der Reihe nach werde ich aufschreiben, was Messer Marco wirklichkeitsgemäß erzählt hat. (¶ CLVIII) So das Vorwort zum »Milione«; er hat sich immerhin 27 Jahre lang am Hof des Groß-Khans der Tataren aufgehalten. Aber die moderne Forschung stellt doch fest: »Es gibt Fälle, in denen Marco Polos Beobachtung anscheinend durch Bilderinnerungen getrübt wurde.« (Rudolf Wittkower), und der Illustrator des Codex 2810 der Bibliothèque Nationale holt seine Bilder aus der Tradition der Alexanderromans und anderer Quellen. Zu bedenken ist auch, dass seine Berichte von Rustichello da Pisa aufgezeichnet wurden, einem belesenen Verfasser von Ritterromanen.
Odorich von Portenau O.F.M. (ital. Odorico da Pordenone; † 1331) schwört seinem franziskanischen Ordensvorgesetzten, dass alles, was er hat aufschreiben lassen, mit eigenen Augen oder von sicheren Gewährsleuten gehört hat (aut propriis oculis ego vidi aut ab hominibus fide digni audivi). Er berichtet von seiner Reise in den fernen Osten vor allem über das Verhalten der dortigen Völker; Abgötterei, Promiskuität, Kannibalismus, Hofzeremoniell, exotische Leichenbestattungen und Witwenverbrennungen. Im Gebiet des Kaukasus hört Odoricus – er gibt zu, dass es es selber nicht gesehen hat – von dem, was nachher bekannt wird als Kraut ›Borometz‹ und ›Bernickelgans‹: jn dem selbn chvnigreich da waksnt jnn frúcht, die man latein haisset peponez, vnd sind alß vnser eröpphel oder melonez. Si sind aber grösser dann ein grozz kúbis. Vnd wenn sie zeitig sind, daz man sie auff tuet, so vindt man ein tyrlein darinn, wol alß ein chlainez lempel [Lämmlein]. Vnd wie ez vnglawblich dunkcht, ez ist doch wol múglich, wann manign mann wol gewissn ist vnd auch mir, daz in Jbernia, in dem landt bey dem Schottnlantt eczlich pawm sint, da vogel wuff wachsnt, vnd die sind desselbn pawms rechte frucht, vnd wenn sie nider vallent, choment si auch auf dz wasser, so lebent si zehant vnd vliessnt ... (Zeile 852 ff.)
Wilhelm von Boldensele O.P., ursprünglich Otto de Nyenhusen († um 1339) Das Bild in Breidenbachs Pilgerbericht, auf dem unter anderem ein Einhorn dargestellt ist, ist unterschrieben mit "Hec animalia sunt veraciter depicta sicut vidimus in terra sancta" – in der deutschen Fassung (Speier: Drach 1490) : Dise thier synt warlich abkunterfeyt als wir sie haben gesehen yn dem heiligen land. Das ist schlichtweg nur ein Werbegag.
Ein weiteres Beispiel: Bereits Plinius berichtet, dass im Inneren von Afrika das Volk der Blemmyer lebt: sie haben keine Köpfe, sondern Mund und Augen stehen auf der Brust (nat. hist. V, viii,46). Die Blemmyer gistern durch die Literatur: Isidor, Mandeville, Sebastian Münster, Hartmann Schedel kennen sie. Der Pirat, Vizeadmiral und Weltreisende Sir Walter Raleigh (ca. 1554 – 1618) führt 1595 eine Expedition nach Südamerika durch, um dort El Dorado zu suchen. Ein Jahr später publiziert er 1596 seinen Reisebericht »The discoverie of the large rich, and bewtiful empyre of Guiana«. Er hat dort Blemmyer angetroffen:
MontaigneMontaigne (1533–1592) sagt in seinem Essai »Les Cannibales« (I,31 [nach anderer Zählung I,30]), er habe einen Bediensteten gehabt, der zehn oder zwölf Jahre in Brasilien gelebt hat. Der Mensch, welchen ich bei mir hatte, war einfältig und ungeschliffen, was eine günstige Voraussetzung für wahrheitsgetreue Aussagen ist. Denn die feinsinnigen Leute geben zwar sorgfältiger Acht und beobachten mehr Dinge; aber sie fügen gleich Kommentare hinzu, und um ihre Erklärungen glaubwürdig zu machen, sind sie versucht, die Geschichte etwas umzumodeln. Sie stellen die Sache nie unverfälscht vor, sondern drehen und verkleiden diese […]. Gefordert wird ein aufrichtiger oder einfältiger Mensch, der seinen falschen Erfindungen keine Wahrscheinlichkeit zuschreiben kann und unvoreingenommen ist. Meiner war von dieser Art.
Die hermeneutische Denkfigur ist interessant: der Unverbildete, homme simple et grossier, (ob es den Knecht gab, oder ob es unverbildete Menschen überhaupt geben kann, sei dahingestellt) beschreibt empirisch exakter als les fines gens, die ihren angelesenen Topoi ausgeliefert sind oder sie zur rhetorischen Erzeugung von Glaubwürdigkeit einsetzen. Literaturangaben
Roy A. Wisbey, Wunder des Ostens in der Wiener Genesis und in Wolframs Parzival, in: Studien zur Frühmittelhochdeutschen Literatur. Cambridger Colloquium 1971, hg. L.P. Johnson et al., Berlin 1974, S. 180–214. Uwe Ruberg, Die Tierwelt auf der Ebstorfer Weltkarte im Kontext mittelalterlicher Enzyklopädik, in: Hartmut Kugler (Hg.), Ein Weltbild vor Columbus. Die Ebstorfer Weltkarte. (Interdisziplinäres Kolloquium 1988), Weinheim: VCH 1991, S. 319–346. Stefan Deeg, Strategien der Fremddarstellung in Reiseberichten, in: Schriften zur Symbolforschung Band 8, Peter Lang, Bern 1992, S.163–191. Stephen Greenblatt, Wunderbare Besitztümer. Die Erfindung des Fremden. Reisende und Entdecker, Berlin: Wagenbach 1994 (englisch: Marvelous possessions, Oxford 1991). |