S. Brügel – Farben in mittelalterlichen Minnereden

Susanne Brügel

Farben in mittelalterlichen Minnereden

Der Vortrag wurde am 30. August 2008 auf der Arbeitstagung «Farbensymbolik» bei der Schweizerischen Gesellschaft für Symbolforschung gehalten und für die online-Publikation geringfügig überarbeitet.
Und wer das lieber auf koreanisch liest: hier [Zugriff im April 2010; Hangul-Kenntnisse nötig …]

Als Paul Michel mich fragte, ob ich nicht etwas ‹farblich Passendes› für die Tagung der Schweizerischen Gesellschaft für Symbolforschung hätte, musste ich nicht lange nachdenken und freue mich, Ihnen heute einen kleinen Einblick in mein Forschungsgebiet, die mittelhochdeutschen Minnereden, geben zu dürfen.

Ich werde meinen Vortrag in zwei Teile gliedern. Zunächst eine allgemeine Einführung in die Gattung der Minnereden, weil wohl die wenigsten von Ihnen damit schon einmal in Berührung gekommen sein dürften. In einem zweiten Teil möchte ich einen Überblick über die verschiedenen Verwendungsmöglichkeiten von Farben in Minnereden geben. Auf Wunsch des Veranstalters werde ich dabei nur Textbeobachtungen skizzieren, die als Anregung für die anschliessende Diskussion dienen sollen. Textgrundlage bildet die Minnerede Von allerlei Farben (Brandis 377 Anmerkung), und weitere Beispiele aus dem mittelhochdeutschen und niederländischen Sprachraum. Ich werde die Textpassagen jeweils paraphrasieren.

Die Minnereden werden in der Forschung mit einer Ordnungsnummer versehen. Diese stammt aus Tilo Brandis: Mittelhochdeutsche, mittelniederdeutsche und mittelniederländische Minnereden. Verzeichnis der Handschriften und Drucke. München 1968 (MTU 25).

I  Einführung in die Gattung der Minnereden

Das mittelhochdeutsche Substantiv ‹minne› lässt sich mit ‹Liebe›, ‹Zuneigung› oder allgemeiner auch ‹Freundschaft› übersetzen. Einige von Ihnen denken nun sicher an den ‹Minnesang› und damit verbundene Namen wie Walther von der Vogelweide, Heinrich von Morungen oder andere. Es handelt sich hierbei um Liebes-Lyrik aus der Zeit des 12. bis 14. Jahrhunderts, die vor einem adlig-höfischen Publikum vorgetragen wurde. Ein sprechendes Ich thematisiert seine Liebe zu einer Dame – sei es in Form einer Klage oder eines Lobes auf ihre Schönheit und Tugendhaftigkeit. Dabei handelt es sich jedoch nicht um die individuellen Bekenntnisse eines dichtenden und sprechenden männlichen Ichs oder gar um die ‹Erfindung der romantischen Idee der Liebe›, wie man wieder hört. Minnesang ist keine Erlebnislyrik, sondern Rollendichtung: das sprechende Ich ist ebenso eine konstruierte Rolle wie sein Gegenüber, die besungene Minnedame. ‹Minne› ist folglich ein literarisches Konzept, welches die zwischenmenschlichen Beziehungen und Probleme anhand von festgelegten Rollen thematisiert und reflektiert, und keine individuelle emotionale Äusserung.

Bei den Minnereden, mit denen wir uns heute beschäftigen, handelt es sich um eine Gattung, welche dem Minnesang in vielerlei Hinsicht sehr nahe steht: inhaltlich, indem beide vereinfacht gesagt von ‹Minne› handeln. Vieles aus dem Minnesang Bekannte wird integriert und verarbeitet, einiges wird aber auch verändert und kreativ weitergedacht. In dieser Form des Beerbens und des kreativen Umgestaltens einer etablierten literarischen Gattung werden Minnereden etwa 300 Jahre lang produziert und rezipiert. Heute sind uns weit über 500 Texte von meist anonymen Dichtern überliefert.
Aus der weitgehenden Anonymität der Überlieferung resultiert eine ganze Reihe von Schwierigkeiten, die ich hier nur kurz andeuten kann. Ohne die Nennung eines Verfassernamens – sei es im Text selbst, in einem anderen Werk oder durch einen anderen Dichter – ist eine Datierung und Kontextualisierung des Werkes oft schwierig bis unmöglich; ebenso die Frage nach dem Wissens- und Bildungshorizont des Verfassers, seinem kulturellen und sozialen Umfeld und dem Publikum, an welches er sich wendet. Die Minnereden können somit in der Regel nur ungefähr (anhand sprachlicher Merkmale oder der Überlieferungssituation) datiert werden. Sowenig man über die Verfasser und deren Hintergrund sagen kann, so sehr sieht man jedoch, in welchem Masse die Minnereden mit den verschiedensten zeitgenössischen Diskursen verbunden sind. Auf der Seite der Produzenten und Rezipienten ist folglich mit einem breiten literarischen und kulturellen Wissen zu rechnen, ohne dass man genau ausmachen kann, woher das Wissen stammt.

Eine weitere Schwierigkeit ist der Gattungsbegriff selbst, der eine gewisse Einheitlichkeit oder wenigstens einen kleinsten gemeinsamen Nenner all der Texte suggeriert, die unter diesem Terminus zusammengefasst werden. Mit den vielfältigen Überlegungen zu einer Differenzierung des Gattungsbegriffs möchte ich Sie nicht weiter behelligen, Sie aber zumindest mit der Vielfalt an Formen und Inhalte bekannt machen, die einem bei der Beschäftigung mit den mittelalterlichen Minnereden begegnen. Die Texte können einen Umfang von 10 bis einigen tausend Versen haben, sie sind strophisch gegliedert oder paargereimt, sie bilden eine geschlossene Einheit oder sind auf Fortsetzung und Weiterführung angelegt. Sie sprechen über glückliche und unglückliche Minne, über die angemessene mündliche und/oder schriftliche Kommunikation unter Liebenden, sie stellen katalogartig Minnegesetze vor oder erzählen von Minnegerichten, vor denen die unterschiedlichsten Casus verhandelt werden. Daneben stehen Texte, die eher parodierend von der Minne sprechen und dabei durchaus die Nähe zum Obszönen nicht scheuen. Es gibt Minneallegorien, Totenklagen, Texte mit deutlich panegyrischem Ton, Liebesbriefe und Neujahrsgrüsse, aber auch Marienpreise und Minnereden mit ernsthaftem oder parodiertem geistlichen Inhalt.

Auch in zeitlicher Hinsicht stehen sich die Gattungen Minnesang und Minnerede sehr nahe, indem die ersten Minnereden genau in dem Moment entstehen, als sich die Hochphase des Minnesangs dem Ende zuneigt und die ersten Lyrik-Sammelhandschriften im süddeutschen und alemannischen Raum angefertigt werden: nämlich um 1300. Die ersten Minnereden werden auch in diesem so genannten oberdeutschen Sprachraum produziert und teilweise sogar in denselben Handschriften überliefert, was ich an einem Beispiel kurz zeigen möchte.

Eine der drei grossen Minnesang-Handschriften ist die «Weingartner Liederhandschrift». Sie wurde um 1300 im Raum Konstanz angefertigt und enthält fast 900 Liedstrophen von etwa 30 Minnesängern. Sie zählt neben der «Kleinen Heidelberger Liederhandschrift» und dem «Codex Manesse» zu den wichtigsten Überlieferungsträgern des Minnesangs. Als Anreger der «Weingartner Liederhandschrift» gilt Heinrich von Klingenberg, der zwischen 1293 und 1306 Bischof von Konstanz war. Vielleicht im Zusammenhang mit Reparaturarbeiten im 14. Jahrhundert wurde die erste bedeutende Minnerede in den Codex integriert. Es handelt sich hierbei um die Minnelehre Johanns von Konstanz, die um 1300 im Raum Konstanz verfasst wurde – also etwa zur gleichen Zeit und im selben Raum wie der Codex selbst. Über die Gründe für die Aufnahme der Minnelehre in den Codex ist in der Forschung lange diskutiert worden, doch sind die Ergebnisse nicht mehr als Spekulationen. Sie reichen von Vermutungen, dass dies auf Wunsch von Bischof Heinrich von Klingenberg erfolgte, bis hin zu der Aussage, die Aufnahme sei eher zufällig erfolgt oder als Hinweis auf das thematische Interesse der Anreger und Sammler der Handschrift bzw. der späteren Benutzer zu lesen. Festzuhalten bleibt, dass die Aufnahme der Minnelehre ein erstes Zeugnis ihrer Rezeption ist und dass eine ähnlich enge Überlieferungsgemeinschaft von Minnesang und Minnerede erst wieder für das 15. Jahrhundert belegt ist.

Doch kommen wir zurück zum Gattungsbegriff. Die Minnereden richten sich wie der Minnesang vorwiegend an ein adliges Publikum und werden ebenfalls mündlich vorgetragen, wobei über die Aufführungssituation nichts Gesichertes gesagt werden kann. Auch die Minnereden sind Rollendichtungen: Ein sprechendes und in der Regel männliches Ich steht exemplarisch im Zentrum einer gereimten Erzählung und berichtet retrospektiv von ‹seinem› Minne-Erleben.

Und damit komme ich auch schon zu einem ersten zentralen Unterschied zwischen dem Minnesang und den Minnereden. Während der Minnesang – gestatten Sie mir diese Vereinfachung – Liebesglück oder -leid lediglich theoretisch bespricht, entfalten die Minnereden die Thematik narrativ und überführen sie in Handlung. Das Erleben des Ichs wird in der Interaktion und Kommunikation mit anderen Figuren präsentiert und ist an festgelegte Räume gebunden: Natur, Einsamkeit des Waldes, entlegene und exklusive Orte, Traum etc.

Der zweite wichtige Unterschied hängt eng mit dem eben Gesagten zusammen: Das Substantiv ‹minne› meint im Rahmen einer Minnerede nicht mehr nur abstrakt die Liebe zwischen dem Ich und einer Dame; ‹minne› ist vielmehr eine weibliche Personifikation, eine handelnde Figur in den Texten. Wenn Sie mir auch hier wieder eine Verallgemeinerung erlauben: In den Minnereden wird all das, was der Minnesang theoretisch und abstrakt als ‹minne› besungen hat, an eine Figur gebunden, welche die ihr zugeschriebene Theorie ausagiert und verwirklicht. Sie wird in den Texten Frau Minne oder Frau Venus genannt und als eine Instanz beschrieben, die nach ihrem Gutdünken Macht über alles Leben auf der Erde ausübt, sie erlässt Gesetze und führt bei Regelverstössen ein strenges Gericht. Niemand kann sich ihr widersetzen, sie ist allmächtig und allwissend, sie ermöglicht Liebe und Glück, verursacht aber auch das Gegenteil, physisch erfahrenes Leid.

Mit Abbildungen zur Frau Minne, dem Entstehen von Minne und der Darstellung von Minneleid möchte ich den ersten Teil meiner Ausführungen beenden.

Abbildung: Johannes von Konstanz  Minnelehre. Titelbild aus der Handschrift Cpg 313 (Blatt 1r)

Sie sehen hier das Titelbild zu der bereits erwähnten Minnelehre Johanns von Konstanz, wie sie in einer Sammelhandschrift aus dem letzten Drittel des 15. Jahrhunderts überliefert ist. Es zeigt die Minne als eine nackte, blinde, geflügelte, weibliche Frau, welche mit drei Pfeilen und einer brennenden Fackel bewaffnet auf einer goldenen Säule steht. Es handelt sich bei dieser Darstellung um eine Synthese aus Bilddetails, welche im Text der Frau Minne und ihrem Sohn Cupido zugeschrieben werden. Mit Hilfe der Pfeile verursacht sie bei dem Ich nicht nur tiefen Liebesschmerz, sondern zwingt es auch in ihre Gewalt.

Zum Thema Pfeile, die auf Herzen abgeschossen werden, habe Ich Ihnen zwei Beispiele aus dem geistlichen Kontext mitgebracht. Es handelt sich um Illustrationen zu Christus und die minnende Seele. Sie sehen jeweils links die minnende Seele, rechts steht Christus, den sie mit einem Pfeilschuss zur Gegenliebe zwingen möchte.

Abbildung: Christus und die minnende Seele; Badische Landes-Bibliothek Karlsruhe, Cod. Donaueschingen 106, 26r.

Aus: Hildegard Elisabeth Keller: My secret is mine. Studies in Religion an Eros in the German Middle Ages. Leuven 2000, S. 257.

Sie sehen Christus mit ausgebreiteten Armen, sein Herz ist durch eine rote Stelle markiert. Ob der Pfeil bereits in den Körper Christi eingedrungen ist und seine Wirkung entfaltet hat, wird hier nicht so deutlich, wie es im folgenden Beispiel zu sehen ist.

Abbildung: Christus und die minnende Seele; Stiftsbibliothek Einsiedeln, Cod. 710 (322), 13v

Die Spitze des abgeschossenen Pfeils ist nicht mehr zu sehen, es ragt nur noch der Holzschaft aus dem stark blutenden Körper Christi heraus. Zudem ist der Getroffene im Vergleich zur vorigen Illustration deutlich stärker der minnenden Seele zugeneigt, der Pfeil hat also seine Wirkung bereits entfaltet.

Abschliessend noch eine Darstellung zum Thema Minneleid:

Abbildung: Meister Casper von Regensberg Venus und der Liebende. Kolorierter Einblattholzschnitt, um 1485. Staatliches Museum Berlin, Preussischer Kulturbesitz, Kupferstichkabinett.

Aus: Liebesfreuden im Mittelalter. Kulturgeschichte der Erotik und Sexualität in Bildern und Dokumenten. Hg. Gabriele Bartz, Alfred Karnein Claudio Lange. München 2001, S. 48.

Zu Füssen der nackten Venus kniet der Liebende und bittet um Trost und eine Umarmung, während sie auf einem Herzen steht und ein weiteres mit ihrer Lanzespitze durchbohrt (oberer Bildrand). Um die Figuren herum sieht man weitere Möglichkeiten, wie ein Herz verwundet und gequält werden kann. Einzelne Motive sind uns beispielsweise in umgangssprachlichen Wendungen bis heute vertraut: so das ‹gebrochene Herz›, das man im linkten Drittel in der Bildmitte erkennen kann. Ebenfalls das von einem Pfeil durchbohrte Herz rechts über dem Kopf der Venus. Auch dies ein Motiv, welches uns auf Schritt und Tritt im öffentlichen wie privaten Umfeld begegnet. Vielleicht denken Sie beim nächsten Mal daran, wie alt es schon ist.

 II    Farben in mittelalterlichen Minnereden

Bei meiner Recherche im Corpus der Minnereden konnte ich lediglich 20 Texte ermitteln, in denen Farben und ihr symbolischer Gehalt eine Rolle spielen. Keine Sorge, ich werde Ihnen in der verbleibenden Zeit nur einige davon vorstellen und Textbeobachtungen skizzieren, auf die wir dann in der Diskussion näher eingehen können. Ich möchte meine Textbeobachtungen in drei Teile untergliedern:

II.1    Nennung von Farben ohne Bedeutungszuweisung

II.2   Nennung von Farben mit Bedeutungszuweisung

II.3   Intensität und Veränderbarkeit von Farben

Als eine erste allgemeine Beobachtung, die ich nicht weiter vertiefen möchte, ist festzuhalten, dass sich die Bedeutungen der einzelnen Farben von Text zu Text etwas verändern können und nicht immer klar von einander abzugrenzen sind. Hier eine vereinfachte Übersicht über die verwendeten Farben und die ihnen zugeschriebene Bedeutung, wie ich sie in den von mir untersuchten Texten vorgefunden habe.

Ich möchte nochmals darauf hinweisen, dass keine Aussagen darüber gemacht werden können, woher die Verfasser der Minnereden ihr Wissen über die Farben und deren Bedeutung beziehen. In den Texten selbst finden sich dazu keine Angaben und die Anonymität der Überlieferung verhindert eine nähere Bestimmung ohnedies. Ich würde daher sagen, dass die Texte kollektives Wissen aufnehmen, über welches auch die Rezipienten verfügen. Gerade mit Blick auf die erste Gruppe von Texten, die mit der Bedeutung einer Farbe operieren ohne diese eigens zu nennen, ist diese Annahme notwendig, sonst liefe diese Art der Verwendung von Farben und ihrer Bedeutung ins Leere.

II.1  Nennung von Farben ohne Bedeutungszuweisung

Eine erste Gruppe von Texten verwendet Farben – vor allem Rot und Grau –, ohne deren Bedeutung eigens zu thematisieren. Sie wird als gewusst und dem Rezipienten bekannt vorausgesetzt und dient beispielsweise der Kennzeichnung von Figuren, wie ich am Beispiel der Minnerede Der Minne Freud und Leid des Elenden Knaben (Brandis 402) exemplarisch zeigen möchte.

Text nach: Mittelhochdeutsche Minnereden I. Die Heidelberger Handschriften 344, 358, 376 und 393. Herausgegeben von Kurt Matthaei. Berlin 1913 (Deutsche Texte des Mittelalters 24), Nr. 3, S. 46–55.

 Hier begegnet das Ich im Wald zwei Damen, die ein Streitgespräch darüber führen, warum Liebe immer mit Leid verbunden sei und ob man das als gegeben hinnehmen müsse. Die beiden Frauen haben im Text keinen Namen, der Erzähler führt sie lediglich als ‹die Rote› und ‹die Graue› ein. Aus der Heidelberger Handschrift Cpg 344 habe ich Ihnen eine Abbildung mitgebracht, welche die beiden in ihrem Gespräch zeigt; das lauschende Ich sehen Sie im Hintergrund im Gebüsch versteckt.

Abbildung: Der Minne Freud und Leid; Cpg 344, 52r (Bildnachweis zuunterst auf der Seite)

Sie ahnen es wohl selbst schon, welche der beiden der Liebe zusagt und welche sich eher abwendet. Die Graue will aufgrund negativer Erfahrungen künftig auf die Liebe verzichten, um nicht mehr leiden zu müssen. Die Rote dagegen betont die freudigen Seiten, die mit der Liebe verbunden sind, und hält den Verzicht auf Liebe, um Leid zu vermeiden, für falsch. Das Ich greift schliesslich in den Streit der beiden ein und schlichtet. Es erkennt die Argumente beider an und zieht den Schluss, dass Liebe, Freud und Leid zusammen gehören. Eines ist nicht ohne das anderen zu haben. Wenn man liebt und leidet, soll man daran denken, dass es auch wieder freudige Momente geben wird. Wer liebt und Freude hat, soll das geniessen. Die argumentative Synthese, die das Ich in seinem Urteil vollzieht, zeigt an dieser Stelle eine sehr sinnige Korrespondenz zur Darstellung des Ichs in der Heidelberger Handschrift im Moment des Urteils und der Schlichtung des Streites: es ist halb rot, halb grau gekleidet. Wenn Sie so wollen eine argumentative und optische Synthese.

Abbildung: Der Minne Freud und Leid; Cpg 344, 56v  (Bildnachweis zuunterst auf der Seite)

ür die Verwendung der Farben Rot und Grau ohne beigegebene Erklärung im Text sei noch auf drei weitere Minnereden verwiesen, die in der genannten Heidelberger Handschrift mit Illustrationen überliefert sind.

Abbildung: Der Minne Gericht; Cpg 344, 1r  (Bildnachweis zuunterst auf der Seite)

In der Minnerede Der Minne Gericht des Elenden Knaben (Brandis 459)  begegnet das Ich einer leidenden Frau, die sie hier ganz in Grau abgebildet sehen. Es hört sich ihre Klage an und beschliesst, ihr Anliegen vor dem Minnegericht zu vertreten.

Die Gerichtssituation sehen Sie in der nächsten Abbildung: das Ich steht vor der rot gekleideten Frau Minne. Sie führt den Vorsitz im Gericht und zieht weitere Personifikationen zur Beratung hinzu, die hier im Hintergrund und an der Seite ihres Thrones positioniert sind.

Abbildung: Der Minne Gericht; Cpg 344, 20v (Bildnachweis zuunterst auf der Seite)

Als nächstes sehen Sie eine Illustration zur Minnerede Minne und Pfennig (Brandis 450).  Im Text treffen sich die Minne und ihr Gegenspieler, der Pfennig, auf einem so schmalen Steg über einem Bach, auf dem sie nicht aneinander vorbei gehen können. Jeder von beiden beansprucht das Vortrittsrecht, bis der Pfennig die Minne kurzerhand ins Wasser stösst und ihrem Schicksal überlässt. Durch das Ich in letzter Sekunde vor dem sicheren Tod gerettet klagt sie darüber, dass sie keinen Einfluss mehr auf die Menschen habe. Niemand ist mehr an wahrer Liebe interessiert, weil der Pfennig, also Reichtum und Besitz, wichtiger geworden seien. Das Bedeutungsloswerden der Minne ist im Text durch ihren jämmerlichen physischen Zustand angezeigt; Sie sehen, wie in der Illustration jede Farbe von ihr gewichen ist.

Abbildung: Minne und Pfennig; Cpg 344, 38v (Bildnachweis zuunterst auf der Seite)

Zuletzt sehen Sie eine Abbildung zur Minnereden Der Traum im Garten des Elenden Knaben (Brandis 251).  Das Ich sitzt in einem Garten und schläft in Gedanken an seine geliebte Dame ein. Die Illustration zeigt die Begegnung der beiden im Traum – die liebende Dame ganz in Rot.

Abbildung: Der Traum im Garten; Cpg 344, 58v  (Bildnachweis zuunterst auf der Seite)

II.2  Nennung von Farben mit Bedeutungszuweisung

Eine zweite Gruppe von Texten thematisiert explizit Farben und ihre jeweilige Bedeutung – im mittelhochdeutschen beispielsweise als «vslegung» [a], «main» [b], «tugent» [c] oder «underschaid» [d] bezeichnet. Dabei geht es in fast allen von mir untersuchten Beispielen nie nur um die Erklärung einer Farbe. Vielmehr wird deren symbolischer Gehalt fast durchweg auf das richtige oder falsche Minneverhalten bezogen. Farben stehen somit nicht nur für eine abstrakte symbolische Bedeutung, sondern haben zugleich eine normierende Funktion. Man kann sogar von einer performativen Dimension sprechen, wenn die Auslegung einer Farbe mit dem Hinweis verbunden wird, sich der Bedeutung der Farbe gemäss zu verhalten.

[a] Was Blütenfarben bedeuten (Brandis 363), V. 66, 107, 113. Text nach Ludger Lieb: Wiederholung als Leistung. Beobachtungen zur Institutionalität spätmittelalterlicher Minnekommunikation (am Beispiel der Minnerede Was Blütenfarben bedeuten). In: Wunsch – Maschine – Wiederholung. Herausgegeben von Klaus Müller-Wille. Freiburg im Breisgau 2002 (Cultura 17), S. 147–165.
[b]  Die sechs Farben (Brandis 372), V. 35; Text nach Liederbuch der Clara Hätzlerin. Aus der Handschrift des böhmischen Museums zu Prag. Herausgegeben und mit Einleitung und Wörterbuch versehen von Carl Halthaus. Quedlinburg und Leipzig 1840 (Bibliothek der gesammten deutschen National-Literatur 8), Nr. 21, S. 168-170; datierbar auf um 1320.
[c] Lob der grünen Farbe (Brandis 382), V. 59 Text nach Liederbuch der Clara Hätzlerin. Aus der Handschrift des böhmischen Museums zu Prag. Herausgegeben und mit Einleitung und Wörterbuch versehen von Carl Halthaus. Quedlinburg und Leipzig 1840 (Bibliothek der gesammten deutschen National-Literatur 8), Nr. 20, S. 166–168.
[d]  Lob der grünen Farbe (Brandis 382), V. 65.

Erlauben Sie mir noch eine Nebenbemerkung: Bei der Durchsicht des Materials fiel mir mit Blick auf die Frage, wie denn die Auslegung von Farben eingeleitet und in die Handlung integriert wird, ein Punkt auf, auf den ich nur kurz hinweisen möchte. In fast allen Texten begegnet das Ich einer Dame, die es um Auskunft und Belehrung über die Bedeutung von mehreren oder einer Farbe bittet. Die Antworten des Ichs sind zum Teil recht konventionell: Rot verweist auf die brennende Liebe, Blau auf die Treue, Grün auf den Anfang der Liebe und so weiter. Immer ist es jedoch das Ich, welches über das Wissen um den Bedeutungsgehalt von Farben verfügt, die Dame ist durchweg die Fragende. In der Minnerede Was Blütenfarben bedeuten (Brandis 363) weiss die Dame immerhin noch die Namen der Blumen, die sie pflückt. Die Bedeutung muss sie sich jedoch durch das Ich erklären lassen, das wiederum die jeweiligen Namen nicht kennt. Eine aufschlussreiche Zuordnung von Wissen und Nichtwissen oder anderem Wissen zu den Geschlechtern. Doch dies wie gesagt nur eine Randbemerkung.

Interessant erscheint mir auch die Beobachtung, dass Farben und ihre Bedeutungen nicht nur als Bestandteil des allgemeinen Wissens in die Texte integriert werden und richtiges oder falsches Verhalten anzeigen. In einigen Minnereden gibt es auch Reflexionen darüber, dass die Farbe der Kleidung ein nonverbales Kommunikationsmittel ist. Mit der Farbwahl der Kleider signalisiert man der Umgebung seine Befindlichkeit und Absichten, natürlich nur, wenn diese deren Bedeutung entschlüsseln kann. Ein Mensch in grüner Kleidung ist verliebt, einer in Schwarz leidet und so weiter. Vor dem Tragen von gelber Kleidung wird im Übrigen mehrfach ausdrücklich gewarnt, weil man so jedem sichtbar anzeigt, dass man liebt oder dass Liebe im physischen Sinne gewährt wurde. Dies wird vor dem Hintergrund verständlich, dass die Minne in der mittelalterlichen Literatur in der Regel als gefährdete dargestellt wird. Sie muss daher vor der Gesellschaft des Hofes und vor eventuellen Neidern und Nebenbuhlern geheim gehalten werden.

Wenn die Farbe der Kleidung in diesem Sinne Zeichenträger und nonverbales Kommunikationsmittel ist, dann liegt es auf der Hand, dass es auch in täuschender Absicht verwendet werden kann. In der Minnerede Die sechs Farben (Brandis 372) finden sich beispielsweise folgende Formulierungen: «Möchte der rock die warhait sagen» (V. 76) und «So hett die varb nit gelogen» (V. 80).  An späterer Stelle im Text berichtet die Dame von Männern, die weisse Kleider tragen, um tugendhaften, reinen Frauen zu zeigen, sie hätten bereits Erfahrungen in Liebesangelegenheiten mit einer ehrenvollen Dame gesammelt (V. 91ff.). Dies erweist sich entweder als Lüge oder wird als Angeberei verurteilt. Die Farbe der Kleidung bzw. deren Träger kann also täuschen, indem das Wissen des Gegenübers über Farben ausgenutzt wird. Der Zusammenhang von Zeichen und ihm zugewiesener Bedeutung wird in Frage gestellt und unterminiert.

In der Minnerede Von allerlei Farben (Brandis 377) [a] ist die Farbenwelt jedoch noch in Ordnung. Am Anfang des Textes werden insgesamt acht Farben vorgestellt und mit einer konventionellen Bedeutung versehen (V. 9-22). Sie bilden die Grundlage für weitere Überlegungen zu Farbmischungen und Farbkombinationen, auf die ich im Folgenden eingehen werde und zu denen ich einige vorsichtige Vermutungen äussern möchte.

[a] Text nach Liederbuch der Clara Hätzlerin, hg. Carl Halthaus, 1840, Nr. 19, S. 165f. Im Repertorium von Tilo Brandis hat die Minnerede den Titel Die acht Farben.

Die Bedeutung der Einzelfarben hier in freier Übersetzung (fett markiert sind hier und im Folgenden negative Bedeutungen von Farben. Die negative Bedeutung von Gelb und Schwarz wird allerdings erst später im Text deutlich):  

Grün ist der Anfang der Minne
Gelb das Denken an die Minne
Blau bedeutet Stetigkeit und Treue
Weiss bedeutet das liebende Andenken […]
Braun lehrt treue Wachsamkeit
Schwarz ist eine schreckliche Farbe
Rot brennt in rechter Liebe
Grau bedeutet gute Minne, Adel und Frohgestimmtheit

Dem folgen zwei etwas rätselhafte Verse, die nicht in das Aufzählungsschema passen. Sie weisen darauf hin, dass gestreifte Kleidung Affenkleidung sei, was zu verwünschen ist: «Gestreyffet ist ain affen klaidt, / dem ist ze male widersait!» (V. 23f.) Ist hier Mehrfarbigkeit gemeint? Ähnlich wie Narrenkleidung vielfarbig sein konnte? Wie man die Vielfarbigkeit auch als geckenhaft und prahlerisch verurteilt hat? Ich lasse dies zunächst offen.

Im Text heisst es weiter: «Das sind die varb sunderlingen; / Nun sol mans zesamen pringen.» (V. 25f.) Bisher wurden die Farben einzeln, «sunderlingen», betrachtet, nun werden sie zusammengebracht. Was das genau heisst, möchte ich ebenfalls noch offen lassen. Ich spreche zunächst einmal in einem unspezifischen Sinn von ‹Farb-Kombinationen›; insgesamt 17 an der Zahl. Ich gebe sie hier ebenfalls in freier Übersetzung wieder.

Die Bedeutung der jeweiligen Kombinationen folgt in den meisten Fällen einem System. Man nehme die Bedeutung der jeweiligen Einzelfarben und synthetisiere sie zu einem neuen, sinnvollen Ganzen, auch wenn das Ergebnis vielleicht etwas assoziativ und gewollt aussehen mag. Beispielsweise Nr. 10: Blau bedeutet Treue und Beständigkeit und in Kombination mit Schwarz, was auf Leiden verweist, wird daraus immerwährende, dauernde Reue. Oder Nr. 16: Gelb steht für das Verkünden der Liebe und wird zusammen mit dem Blau der Beständigkeit zum andauernden Prahlen. Ist eine negativ konnotierte Farbe Bestandteil einer Kombination, so ist auch die erzeugte Bedeutung negativ – egal wie positiv die andere Farbe besetzt sein mag. Eine Ausnahme stellt vielleicht das letzte Beispiel dar, wenn ich es richtig übersetzt habe.

Die Überleitung zu der letzten Farbkombination lautet wie folgt: V. 63f. «Gemenget ist gemaine, / Vnd ist doch der varb kaine.» In der Übersetzung: ‹Gemischt ist einfach / gewöhnlich / üblich und ist doch keine Farbe›. Die folgenden als äusserst positiv bewerteten Kombinationen bestehen aus gleichen Farben, die nur in ihrer Intensität voneinander abweichen:

Wenn ich die drei erwähnten kritischen Verspaare im Zusammenhang mit den im Kontext genannten Farben richtig deute, gliedert sich die Minnerede in drei Teile.

I    8 Einzelfarben und Bedeutung (V. 9-22)

Verse 23f. Verurteilung gestreifter Kleidung («Gestreyffet ist ain affen klaidt, / Dem ist ze mal widersait.»)

Verse 25f. Überleitung («Das sind die varb sunderlingen; / Nun sol mans zesamen pringen.»)

II    17 Farbkombinationen bzw. Farbmischungen (Verse 27-63)
Verse 63f. Abwertung gemischter Farben («Gemenget ist gemaine, / Vnd ist doch der varb kaine.»)
III    2 Mischungen gleicher Farben mit unterschiedlicher Intensität (Verse 65-74)

Der Text nennt in einem ersten Teil einzelne Farben in ihrer Bedeutung (Verse 9–22), die Verse 23f. verurteilen gestreifte Kleidung egal welcher Farbe und leiten über zum zweiten Teil, zu den 17 Farbkombinationen, die demnach Farbmischungen sein könnten. Dieses «gemenge» wird zudem in V. 63f. als «gemeine» bezeichnet, also als einfach, und als Nichtfarbe. In einem dritten Teil ist von der Mischung gleicher Farben die Rede, die nur in ihrer Intensität voneinander abweichen: «rötter» + «rot» und «Plaw» + «lasur». Diese sind den Streifen und der Mischung verschiedener Farben vorzuziehen und wird als das zu erstrebende Optimum bezeichnet:

Wer dise varb will tragen,
Der sol nit vil von lieb sagen
Vnd eren all werde weib,
So wirt sein tugendhafter leib
Gepriset vnd geeret,
Wa er sich landds hin keret.


(‹Wer diese Farbe tragen will, der soll seine Liebe nicht herumerzählen und alle würdigen Frauen ehren. So wird er [sein tugendhafter Leib] gerühmt und geehrt, wo auch immer er hingeht.› V. 69–74)

II.3  Intensität und Veränderbarkeit von Farben

Lassen Sie mich noch kurz auf ein drittes Phänomen hinweisen: die gesteigerte Intensität von Farben und deren Veränderbarkeit bzw. Dynamisierung.

In der Minnerede Männer- und Frauentreue (Brandis 410)  erblickt das Ich ein blaues Schiff, das mit blauem Samt behängt ist. Der Text bezeichnet die Farbe als «unmaßen bla» (V. 41), also als übermässiges, sehr intensives Blau. Die Farbe wird wie folgt erklärt:

bla tragent die lüde,
ez ist auch ein varwe gut.
wol ym der ir reht tut!       (V. 46-48)

Also auch hier wieder die Aufforderung, sich gemäss der Farbe und ihrer Bedeutung zu verhalten. Und weiter:

so betüdet sie auch stete,
wer ir tut gerette.
wer untrüwe an ir verhenget,
so wirt si swarcz gemenget.
dar umbe beseh sich wer sie trage,
daz die varwe icht von im clage.      (V. 49-54)

Bei Untreue mischt sich der blauen Farbe offenbar Schwarz bei und sie verdunkelt sich. Die Farbveränderung zeigt einen ethisch-moralischen Missstand an, sie klagt an und macht das fehlerhafte Verhalten für alle sichtbar.

Auch die niederdeutsche Minnerede Die sechs Farben und zwölf Lebensalter (Brandis 374)  thematisiert Farbmischungen und formuliert dabei eine ganz interessante, wenn auch nicht ganz klare Farbenlehre. Die wichtigsten Passagen finden Sie auf Ihrem Handout. In den einleitenden Versen heisst es, Gott habe den Menschen sechs Farben gegeben: «Ses varuwen sijn op erden, / Die God op erden liet ghewerden» (V. 1f.). Wie der weitere Textverlauf zeigt, sind dies Weiss, Grün, Rot, Blau, Gelb und Schwarz. Von den genannten sechs Farben werden Schwarz und Weiss als Grundfarben, als «varuwen principale» bezeichnet. Weiss kommt dabei eine Vorrangstellung zu, weil man aus Weiss zwar Schwarz machen kann, nicht aber umgekehrt. Zudem kann man nur aus Weiss alle anderen Farben herstellen:

Wit ende swert te samen gemenct
Dat maect een gra onder hem tween,
Doch en eest gheen varuwe alleen.
Dit sijn II varuwen principale,   
Wit ende swert, dat weet ic wale.
Vanden witten maect men al
Varuwe, die men maken sal       (V. 14–20).

Text nach Oudvlaemsche Gedichten der XIIe, XIIIe en XIVe eeuwen. Uitg. door Philippe Marie Blommaert. D. 3. Gent 1851, S. 124–127.

Ob sich das nur auf die genannten vier Farben Rot, Blau, Gelb und Grün bezieht, oder ob damit auch alle anderen Farben gemeint sind, ist nicht ganz klar. Denn ebenfalls in der Einleitung heisst es V. 14ff., dass Grau keine Farbe sei, weil sie aus Weiss und Schwarz gemischt ist. Der Text verwendet durchweg das Substantiv «varuwen» und macht begrifflich keine Differenzierung zwischen gemischt und ungemischt, bzw. Farbe und Nichtfarbe.

Die ebenfalls aus dem Niederdeutschen stammende Minnerede Gespräch über die graue Farbe (Brandis 384)  geht sogar noch einen Schritt weiter. Auch sie sagt, Grau sei keine Farbe, sondern eine Komposition aus zwei Farben. Ich sage bewusst Komposition und nicht Mischung, denn bei einer Mischung werden die Bestandteile so miteinander vermengt, dass sie einzeln nicht mehr erkennbar sind und sich zu einem einheitlichen, neuen Ganzen fügen. In der Minnerede heisst es aber, dass aus dem Grau Blau und Weiss hervorleuchten. Zusammen ergeben sie Grau, aber bei genauem Hinsehen scheinen sie einzeln noch erkennbar zu sein:

Grau dan is nicht eyn vaer,
Blau siestu daeruus lichten,
Mit witsen ghemenget gaer.             (V. 78f.)

Text nach Die Haager Liederhandschrift. Faksimile des Originals mit Einleitung und Transkription. Herausgegeben von Ernst Ferdinand Kossmann. Haag 1940, S. 72f.

Nicht von einer Mischung, sondern von der gesteigerten Intensität der Farbe Rot und den Konsequenzen dieser Steigerung weiss die Minnerede Der rote Mund (Brandis 1) zu berichten. Das Ich liebt eine Dame, deren Schönheit an der Farbe ihres Mundes verdeutlicht wird. Wenn man das Rot aller roten Rosen der Welt zusammenschmelzen und in einer vereinen könnte und dieses Farbkonzentrat neben den Mund der Frau halten würde, dann sieht die Farbe immer noch blass aus, denn die Rose hat einen Makel: ihre gelb-weisse Mitte. Das Rot des Mundes jedoch sieht aus als würde es brennen.

Text (datiert auf Anfang 14.Jahrhundert) nach: Die altdeutsche Erzählung vom rothen Munde, herausgegeben von Adelbert von Keller. In: Verzeichnis der Doctoren, welche die philosophische Facultät in Tübingen im Decanatsjahre 1873 bis 1874 ernannt hat. Tübingen 1874, S.8–20.

Eines Tages nun beobachtet das Ich seine Dame in der Kirche beim Gebet und dabei geschieht Folgendes:

Do begonde in den noten
Die swarze dinte roten.
Daß weiß berment wart sô rôt,
das es den augen rœte bôt,
Die weiß want umb sie was
Brinnen; venster und das glas
Das wart auch inniklîchen rôt,
Das es noch [heute noch] die rœte hat.    (V. 187–194)

Das Rot der Lippen ist so intensiv und glänzend, dass es beim Sprechen und mit der Bewegung des Mundes abfärbt: Noten, Tinte und Pergament werden rot und das Ich wundert sich, dass die Dame überhaupt weiterbeten und weiterlesen kann, wo der Psalter in ihren Händen doch zu einer einzigen roten Fläche wird und Schrift und Beschreibstoff optisch nicht mehr voneinander zu unterscheiden sind. Und nicht nur die Wände beginnen zu brennen, auch der Psalter und das ihn umgebende Tuch fangen Feuer, sobald sie die Dame aus der Hand legt. Die gesamte Umgebung und natürlich auch das Ich sind von diesem Rot gefangen und geblendet, es übt eine unwiderstehliche Anziehungskraft aus und versetzt das Ich in höchstes Liebesglück. Intensiver kann man die Wirkung einer Farbe wohl nicht beschreiben.

Ich schliesse meine Ausführungen mit den Schlussversen der Minnerede Von allerlei Farben und überlasse Sie, liebe Zuhörer, der eigenen Betrachtung und farblichen Analyse:

Doch wer die varb tragen wolt,
Gar wol er sich besynnen solt,
Wrzů yegliche varb wär gůt,
Darnach sein hertz wär gemůt.
Es sind vil, die varb tragen,
Vnd wisen doch nit ze sagen
Von lieb oder von mynn,
Die tůnds in ainualtigem synn.
Also hab ich die varb erchannt,
Sy dancket und pott mir ir hannd.            (V. 75–84)

Erlauben Sie mir, dass ich mich hiermit ohne Handschlag bei Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit bedanke.

 


Bildnachweise

Soweit nicht im Text angegeben:

Johanns von Konstanz Minnelehre. Handschrift Cpg 313: Digitalisat der Handschrift der Universitätsbibliothek Heidelberg: http://diglit.ub.uni-heidelberg.de/diglit/cpg313/

Christus und die minnende Seele; Stiftsbibliothek Einsiedeln, Cod. 710 (322), 13v: Digitalisat der Handschrift der Sitftsbibliothek Einsiedeln: http://www.e-codices.ch/bibliotheken/sbe/sbe_de.htm

Der Minne Freud und Leid; Cpg 344:  Digitalisat der Handschrift der Universitätsbibliothek Heidelberg: http://diglit.ub.uni-heidelberg.de/diglit/cpg344/