Allegorie im Dienst der Kontrafaktur
Kontrafaktur: Geistliche Umdichtung eines weltlichen Liedes oder umgekehrt
Mystisches Badliedli
Eine Kontrafaktur auf ein weltliches Lied, das nicht erhalten ist.
Woluff, im geist gon Baden!
do hin hat uns geladen
Des Vaters güetikeit.
[…]
Der sun wil uns medieren [heilen]
Der heilge geist hofieren [bedienen],
Min sel, nu biss gemeit [sei fröhlich]!
Der herbst vnd ouch der meye
hand hie krafft manigerleye
uß gottes gnodenrich.
Wer sich purgirt mit ruwen [wer das Abführmittel der Reue nimmt]
vnd hat in gott getruwen,
Wil er sin leben nuwen [erneuern]
der lebet ewiklich.
Min sel, do sott dich hüetten
Vnd dich in tugend güeten [strärken]
vnd bade nut ze heiss!
Daz wasser diner lüsten
mag dich gar bald entrüsten [reinigen]
Trag zwüschen dinen brüsten
göttlicher mynne sweis!
Gar edel sie din spise,
Subtil und dorzů lise [leicht bekömmlich],
wilt du ein bader sin.
Daz grobe diner sünden
Sol tugend überwinden.
Wer wil gesuntheit vinden,
Der volg der lere min!
Lüstlich solt du spaczieren,
mit fröid und jubilieren
jn grüner hymmels ow [Himmels-Au].
In gilgen [Lilien] vnd in rosen
solt du mitt gotte kosen
on alelr sünde mosen [Flecken der Sünde],
Daz er dich freuntlich schow.
Gar warm solt du dich halten
Vnd dich nit lon [lassen] erkalten
nach diser mynne bad [nach diesem Liebes-Bad].
Din baden bůle [Bade-Gespielin] sye
die allerschönst Marie.
Ein gott vnd nammen drye
mit andacht zů dir lad!
Ir fröwlin all gemeine,
diss baden liedli reine
wunsch ich üch alle stund:
Daz üch gotts gnad erwarme,
geb Jhesus an den arme [euch JHS in die Arme lege]
daz er sich schier erbarme
Vnd mach die sel gesunt.
Quelle: Pfullinger Liedersammlung; Stuttgart WLB, Cod. theol. et phil. 4° 190, fol. 175r/v (um 1478/80); Edition in: Gedichte 1300–1500 nach Hss. und Frühdrucken hg. von Eva und Hansjürgen Kiepe (Epochen der deutschen Lyrik, Band 2), dtv 4016, München 1972; S. 329–331.
Hier eine (weltliche!) Badeszene aus dem Hausbuch von Schloss Wolfegg (ca. 1480), pag. 19a:
> http://de.wikipedia.org/wiki/Hausbuch...Wolfegg....Badehaus.jpg
Thomas Murner (1475–1537), »Geistliche Badenfahrt«
Die Badeprozeduren eines Heilbades sind in der Abfolge vom Wasser am Brunnen schöpfen – wärmen – Kleider ausziehen – schröpfen – Haare scheren – usw. allegorisiert. Gott ist der Bader; der Badevorgang wird gedeutet als reinigende Buße.
Ein andechtig geistliche Badenfart/ des hochgelerten Herren Thomas mürner/ der heiligen geschrifft doctor barfüser orden/ zuo Straßburg in dem bad erdicht/ gelert vnd vngelerten nutzlich zu bredigen vnd zu lesen. Straßburg: Johannes Grüninger 1514.
> https://gallica.bnf.fr/ark:/12148/bpt6k94005861
> http://books.google.com/books?vid=BL:A0021255644
> http://daten.digitale-sammlungen.de/bsb00083105/image_5
> http://resolver.staatsbibliothek-berlin.de/SBB0001B58800000000
BADENFAHRT von THOMAS MURNER, Neudruck nach der Ausg. Strassburg 1514, mit Erläuterungen insbesondere über das altdeutsche Badewesen, hg. Ernst Martin, Straßburg: Heitz 1887.
> https://archive.org/details/bub_gb_Pn8fAAAAYAAJ
Daraus die Übersicht:
I Badecur ≈ ihre geistliche Deutung
II In das bad laden ≈ Offenbarung und Ver kündigung durch die Apostel
III Wasser und Feuer ≈ Thränen und inbrünstige Liebe zu Gott
IV Laugen machen ≈ Reue
V Sich selb unrein erkennen ≈ Sünden bekenntnis
VI In das bad enphahen ≈ Gottes Gnade
VII Sich abziehen ≈ Untugend ablegen
VIII Vor got nackent ston ≈ Scham empfinden
IX Die füs weschen ≈ Demut
X Den leib reiben ≈ Beicht hören
XI Die hut kratzen ≈ Busse auflegen
XII Schrepffen ≈ Fasten und wachen
XIII Das haubt waschen ≈ Sich zur Besserung entschliessen
XIV Das haubt scheren ≈ Priesterliche Tonsur
XV Mit lavander besprengen ≈ Priesterliche Salbung
XVI Das har strelen ≈ Gottes Fürsorge
XVII Im bad lecken [peitschen und bespritzen] ≈ Inbrunst erwecken
XVIII Die füs reiben ≈ Versuchung des Teufels
XIX Ab giessen ≈ Ablass
XX Ein badmantel geben ≈ Sterbehemd anlegen
XXI Niderlegen ≈ Begraben
XXII In ruwen hüten ≈ Obhut der Schutzengel
XXIII Wider anthuon [der Kleider] ≈ Auferstehung
XXIV Heim gon ≈ Christus ist der Weg
XXV Wol leben ≈ Himmelreich
XXVI Der Jungbrun ≈ Taufe
XXVII Kräuterbad ≈ Holz des Paradieses Palme u a
XXVIII Göppinger Sauerbrunnen ≈ Nutzen des Leidens
XXIX Reinigungsbad des Aussätzigen ≈ Christi Blut
XXX Oelbad ≈ Taufe und letzte Ölung
XXXI Das teglich Bad ≈ Messehören und Weihwasser
XXXII Das Wilt Bad ≈ Bekehrung vor dem Tode
XXXIII Das schweiss Bad ≈ Beichte
XXXIV Dem bader Dancken ≈ Gebet an Gott
XXXV Der baderin dancken ≈ Gebet an Maria
XXVIII Der Fuß-Kitzel:
Noch reitzet in an der böse findt
So heffticklich vnkeusch zuo sein
Das er zuo got badt hilffes schein
Das er doch werdte disem geist
Der in anfechte allermeist
Der im so iuckte seine fies
Das er in nit im herschen lies
Literatur hierzu:
Theodor Kochs, Das deutsche geistliche Tagelied, Münster 1928.
Uwe Ruberg, »contrafact uff einen geistlichen sinn«, in: K.Grubmüller u.a. (Hgg.), Geistliche Denkformen in der Literatur des MAs (Münstersche Mittelalter-Schriften 51), München 1984, S. 69–82.
Theodor Verweyen / Gunther Witting: Die Kontrafaktur. Vorlage und Verarbeitung in Literatur, bildender Kunst, Werbung und politischem Plakat, Konstanz 1987 (Konstanzer Bibliothek. 6)
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