Jonas im Mudhif
Andreas Hebestreit Jonas im MudhifSchamanen, Priester und Propheten
Cave ne cetum intelligis proprie dictum. And, according to plan,
Der renommierte Mittellateinische Philologe Bernd Roling hat sich in seinem umfangreichen Werk »Physica sacra, Wunder, Naturwissenschaft und historischer Schriftsinn zwischen Mittelalter und Früher Neuzeit« (Leiden: Brill 2013) unter anderem mit der biblischen Jonas-Mythe auseinandergesetzt. Zeitweilig liest sich das wie eine Realsatire auf die Gelehrsamkeit der Jahrtausende, doch als Spaß sind diese 496 Seiten natürlich nicht gedacht. Wie es scheint, wollten sich die Theologen der verschiedenen christlichen Konfessionen bis ins ausgehende achtzehnte Jahrhundert hinein nie so recht mit einer rein allegorischen oder psychologisierenden Deutung der Jonas-Mythe abfinden (Präfiguration des Todes und der Auferstehung des Erlösers – sicut Christus in corde terrae, Matth. 12,40). Die Mythe sollte auch wirklich wahr sein; eine zwar reichlich wundersame, aber nichtsdestoweniger physikalisch erklärbare Begebenheit. – ›Warum sollte Gott der Allmächtige nicht …?‹ – Wie gesagt: Physica, aber bitte sacra.
Was also war gemeint mit dem hebräischen dag ha-gadol? – Wörtlich ist das einfach nur piscis grandis – ein großer Fisch. Doch was für ein großer Fisch sollte es denn aus aristotelisch-zoologischer Sicht gewesen sein? Augustinus, der am Strand von Numidien das Skelett eines Wals in Augenschein nahm, sprach sich für ein Exemplar dieser Gattung aus. Auch wenn selbst die klügsten Köpfe des fünften Jahrhunderts kaum ahnen konnten, dass die Ordnung der Wale oder Cetacea tatsächlich rund 80 Arten umfasst – für Diskussionsstoff war bereits reichlich gesorgt. Andere Autoren optierten eher für eine von verschiedenen Haifischarten, die man sich freilich gar nicht riesenhaft genug denken konnte. Ihre Rückenflossen müssten so groß wie (Lateiner-)Segel gewesen sein. Und Segel sah man als Anrainer des Mittelmeers oder des Persischen Golfs vermutlich alle Tage am Horizont vorüberziehen. Und dann die überaus schwierige Frage: Hatte der Prophet die drei kritischen Tage und Nächte im Maul, im Rachen, im Magen oder im Gedärm des Monsters überlebt? – Warum war er nicht von den Kiefern zermalmt, von den Fluten ertränkt oder von den aggressiven Verdauungssäften zersetzt worden? – Eine halbwegs plausible Antwort auf diese Fragen lieferten die Befürworter der Uterus-Hypothese, die sich freilich nur auf den viviparen Wal anwenden ließ. Schließlich, so wurde argumentiert, ist so ein Uterus sehr dehnbar und anpassungsfähig. Und obwohl er mit (Frucht-)Wasser gefüllt ist, ertrinkt, verdurstet und verhungert ein Embryo nicht. Zwar ist es eher ungewöhnlich, den Abgang aus einem Uterus als ein ›Ausspeien‹ zu bezeichnen (Jonas 2,11) – man spricht da normalerweise eher von einem Geburtsvorgang, aber vielleicht findet sich dazu noch eine sinnvolle Erklärung. Nicht unbedingt in einer Physica sacra, dafür aber mit Hilfe von ein bisschen Ethnologie und Kulturgeschichte. Dass es auch im Bereich der semitischen Sprachen (Assyrisch-Babylonisch, Aramäisch, Kanaanäisch, Phönikisch, Arabisch, Hebräisch) Männerbünde oder Bruderschaften gab, darf als erwiesen gelten.
Zu solchen Bünden, die sich jeweils als gesellschaftliche Eliten absondern und als Krieger- oder Priesterkaste profilieren, gehören aber in der Regel auch mehr oder weniger elaborierte Aufnahme- und/oder Reife-Prüfungen. Man spricht bei diesem praktisch weltweit verbreiteten Phänomen seit Arnold van Gennep (1873–1957) von rites de passage, Übergangs- oder Initiationsriten.
Wie Beispiele aus Ozeanien, Afrika und Amerika zeigen, handelt es sich dabei in der Regel um einen, mehr oder weniger erschwerten, furchteinflößenden Gang (passage) durch ein physisches, aber auch psychisches Hindernis. ›Physisch‹ meint zum Beispiel eine Mauer, einen tiefen Graben und/oder einen (engen) Tunnel. (Lateinisch porta ist entfernt verwandt mit deutsch Furt.) ›Psychisch‹ meint - nicht immer, aber auch nicht selten – das Erscheinungsbild eines Ungeheuers mit weit aufgerissenem Maul. Wer sich und dieses Hindernis überwindet, darf sich als Neugeborenen betrachten. Neugeboren in einem sozial höherstehenden Verband. Bei den kriegerischen Kelten war das, wie der Verfasser in einer Studie nachzuweisen versucht hat, ein riesiger Wolf, beziehungsweise eine monumentale Wolfsmaske aus armiertem Weidengeflecht.
Aber die Beispiele aus Afrika und Ozeanien zeigen, dass auch Ungeheuer mit maritimer, respektive pisziner Anmutung denkbar sind.
Hergestellt werden sie meist aus Rattan, aus Weidenruten oder – an den schilfreichen Strömen und Kanälen des südlichen Mesopotamien – aus Schilfrohr. Eventuell werden sie mit Lehm geglättet, mit glänzenden Blechen oder Glasurstücken verziert, sowie farbig bemalt. Wenn wir uns nun dem südlichen Mesopotamien zuwenden, also dem schilfreichen »Land des einstigen Paradieses« (Fr.Delitzsch), dann stoßen wir dort auf die so genannten Mudhif (bei Delitzsch Zre-fen), tunnel- oder galerieartigen Strukturen mit einer nachweislich fünftausendjährigen (!) Tradition. Die Bauweise dieser aus baumstarken Schilfbündeln zusammengebogenen und mit Schilfmatten ver-bundenen Strukturen gestattet die verschiedensten Größen – von der kleinsten Hütte bis zu kleinen Halle.
In der Regel dien(t)en sie in einem stein- und holzarmen Land als Behausungen oder Speicher, aber es brauchte nicht viel Binsen, Lehm und Farbe, um sie mit einer entsprechend furchterregenden, bizarre Fischmonster suggerierenden Fassade zu versehen.
Auch die Herstellung einer beeindruckenden, segelartig aufragenden Rückenflosse bot kaum technische Schwierigkeiten. An Anregungen und Vorbildern fehlte es nicht: Die vielen Kanäle, von denen das äußerst fruchtbare Schwemmland seit alters her netzartig durchzogen war, wimmelten von Fischen, insbesondere aber von mächtigen Karpfen. Deren Barteln oder Bartfäden sehen manchmal fast so aus wie kleine Palmwedel. Natürlich müssen solche rites de passage immer in Zeichen irgendeines namensstiftenden Gottes stehen, als dessen bevorzugte und vereidigte Gefolgschaft oder Priesterschaft die Initiierten dann auftreten dürfen. Und an solchen Fisch-Mensch-Göttern herrscht unter den rund 2100 namentlich bekannten Gottheiten im mesopotamischen Raum tatsächlich kein Mangel. Beginnend bei dem akkadischen Um-Anu, über Apkallu bis zu Oannes und dem philistinisch-syrischen Dagon.
Sie alle galten mit ihren glänzenden Schuppen und ihren kräftigen Fischschwänzen als verehrungswürdige Kulturbringer, ohne die sich die Menschen das Leben im alten Mesopotamien praktisch nicht mehr vorstellen konnten. Für Berossos, einen sternenkundigen Priester und Zeitgenossen von Alexander dem Großen, war der Fisch/Mensch-Gott Oannes die Verkörperung von Wissen und Weisheit schlechthin. Mithin ein klassisches Priesterschaftsidol! Und entsprechend traten diese Priesterschaften auch in Erscheinung: »Die mit einem Fischgewand bekleideten Gestalten, die später auf assyrischen Denkmälern neben dem Gott mit der überfließenden Vase stehen, sind stets männlich«, erklärt das »Reallexikon für Antike und Christentum«. – Wir hätten es fast schon vermutet.
Was den Ursprung dieser Fisch-Priesterschaften betrifft, so wird gewöhnlich auf die große Fruchtbarkeit der Fische hingewiesen (»a symbol of multiplying«). Das klingt irgendwie nach Schulbuch: ›Die Rose symbolisiert…‹. Was man bei dieser Art von Erklärung vermisst und vermissen sollte, ist ganz einfach der Absender. Eine klare Antwort auf die Frage: Von wem und in wessen Interesse wird hier etwas symbolisiert? Welche soziale Gruppierung steht konkret hinter diesem Symbol? Die Deutung mit dem Abstraktum ›Fruchtbarkeit‹ ist vielleicht nicht vollkommen falsch, aber sie ist nur teilweise richtig. Wesentlich überzeugender scheint deshalb ein ganz anderer Hintergrund. So wie Berossos den weisen Oannes beschreibt, nämlich als einen großen Fisch mit menschlichen Armen und Beinen, gleicht er auf eine Schuppe jenem merkwürdigen Seebischof oder Episcopus marinus, der angeblich anno 1531 in der Ostsee ins Netz ging. Die Gelehrten Pierre Belon, Conrad Gessner, Guillaume Rondelet, Johannes Praetorius, Ulisse Aldrovandi und Johann Zahn haben dazu ihr Garn gesponnen.
Gemäß einer Überlieferung starb dieses in seiner äußeren Form entfernt an einen katholischen Bischof erinnernde ›Meerwunder‹ nach wenigen Tagen auf Grund von Nahrungsverweigerung. Ein anderer Seebischof, der 1433 im Baltikum auftauchte, wurde von den herbeigeeilten Autoritäten nach kurzer Befragung gnädigst wieder in sein Element entlassen. Worauf er sich dankbar mit einem Kreuzeszeichen verabschiedete. Die herbeigeeilten Autoritäten blieben einigermaßen ratlos zurück. Sozusagen feeling at sea.
Galten diese Seebischöfe bei den Nixen, Sirenen und Tritonen im Ozean wirklich als ihre geistlichen Oberhirten? Und wenn ja, wie dachten sie über die Erbsünde, über die Transsubstantiation, die Filioque-Formel oder die Pseudo-isidorischen Dekretalien? (Oder waren das für sie alles nur kleine Fische?) – Heinrich Heine bemerkte später, die christliche Religion habe möglicherweise mehr Anhänger als sie selber ahne. Gaîté parisienne.
Der wahre Hintergrund ist aber kein christlicher, sondern ein religionsgeschichtlich sehr viel älterer, nämlich ein schamanistischer. Das Auftauchen eines Seebischofs im Baltikum ist denn auch kein Zufall, wenn man berücksichtigt, dass die unmittelbar anrainende finnische Mythologie einen Fisch-Menschen (Vetehinen) kennt, der nach echter Schamanenart Zaubertränke braut und Menschen heilt. Gelegentlich, wenn er verärgert ist, kann so ein Vetehinen aber auch gewaltige Stürme entfesseln.
Ganz ähnlich zu bewerten ist der Umibozu (Meeresbonze) in der japanischen Mythologie. Gerade auch das in der Jonas-Mythe prominent erscheinende Motiv der Auserwählung oder Berufung durch ein göttliches Wesen,(a) gefolgt von einem mehrtägigen kataleptischen Zustand, der subjektiv als eine stürmische Reise in die tiefsten Abgründe erlebt wird, gehört in die schamanistische Glaubenswelt. (b) Dass es sich von dort – zumindest als Residuum – in die Vorstellungen des frühgeschichtlichen Priestertums fortgeerbt hat, steht im Mittelpunkt unserer These. (c)
(b) Von den sibirischen Schamanen wird berichtet, sie lägen während ihrer Initiation drei bis neun Tage bewusstlos in der Jurte.
»Ein mythisches Ungeheuer, oft vergegenwärtigt durch eine Korbflechterei in Fisch-, Schlangen- oder Krokodilsgestalt, verschlingt im Ritus die Initianden. Das Stammeszeichen entsteht beim Zuschnappen, Verschlucken oder Verdauen, das heisst die Initiation ist ein Tod, kein biologischer, sondern ein sozialer (...). Nach einiger Zeit gibt das Ungeheuer ihn wieder frei, aber er ist nun nicht mehr wer und was er war.«
Warum aber war es gerade der Fisch, der diese besondere Faszination auf Schamanen und Priester ausübte? Warum ein Fisch-Herr oder Fisch-Gott? Und dazu Priester, die sich als Fischgeborene kleideten? – Der immer wieder angeführte Fruchtbarkeitsaspekt des Fisch-Symbols scheint uns, wie gesagt, eher sekundärer Natur. Primär ist stattdessen die Identifikation einer gesonderten Gruppe von Kult-Spezialisten mit einem Lebewesen, das ganz offensichtlich in unserer Welt lebt und trotzdem gleichzeitig in einer ganz anderen, der profanen Allgemeinheit unzugänglichen. In einer Unterwasser-Welt, in der man sich, sehr nahe am geheimnisvollen Ursprung alles Lebendigen, jederzeit ins absolut Unfassbare zurückziehen kann. Doch zurück zu Jonas. Auf den ersten Blick wirkt die biblische Jonas-Mythe – auch schon ohne Walfisch – etwas abstrus. K.Almbladh nennt sie ganz unverhohlen ein ›pastiche‹. Gott lässt sein Wort an Jonas ergehen und fordert ihn auf, in Ninive den nahen Untergang der Stadt zu verkünden. Nachdem Jonas diesen Auftrag, nach anfänglichem Widerstreben, sehr erfolgreich erledigt hat, ändert Gott seine zerstörerischen Absichten. Angesichts der allgemeinen Reue jammert es ihn um eine Stadt, die ja ganz sicher nicht seine Stadt ist, sondern die eines fremden, ja feindlichen Gottes (Adad?). Der arme Jonas ist frustriert, er schmollt, er ward zornig. Anstatt froh und stolz zu sein, dass er als einzelner Mensch eine Stadt mit 120’000 Einwohnern in kürzester Zeit zu Busse und Umkehr bewegen konnte, fühlt er sich betrogen. Er hat Gott gehorcht und nun ist er ein falscher Prophet am falschen Ort. Er hat restlos genug von diesem Auftrag. Er wäre lieber tot. Ach Herr, das ist’s eben, was ich mir sagte, als ich noch in meinem Lande war. Darum wollte ich das erste Mal nach Tharsis fliehen. (Jona 4,1) Warum wollte Jonas aber gerade nach Tharsis fliehen? Was ist überhaupt Tharsis und wo lag es? Nach einer unter den Exegeten lange gültigen Auffassung sollte Tharsis auf der Iberischen Halbinsel zu finden sein. Identisch mit einem sagenhaften Tartessos. Also ganz, ganz weit im Westen. So ziemlich in Gegenrichtung zur befohlenen. Doch dieser psychologisch scheinbar so einleuchtenden Auffassung von topographischer Gegensätzigkeit hat der katholische Theologe und Ägyptologe Manfred Görg (1938–2012) klar widersprochen. Nach seiner Überzeugung – der Wikipedia-Autor markiert sie als ein »Minderheitsvotum« – stammt dieses Wort Tharsis, Tarsis oder Tarschisch aus dem Ägyptischen. Es besteht aus Wörtern mit der Bedeutung ›Grenze‹, ›Bereich‹ und ›Wertvolles‹.
Etwas Wertvolles ist Tarschisch auch in der Bibel, nämlich ein Bestandteil des hohepriesterlichen Brustschildes. Dass aber ein Bestandteil des hohepriesterlichen Brustschildes ausgerechnet etwas mit einem sagenhaften Ort auf der Iberischen Halbinsel zu tun haben sollte, ist eher unwahrscheinlich. Im »Neuen Bibel-Lexikon« heißt es denn auch etwas gewunden, der primäre Bedeutungsträger scheine »mit einer lokalen Orientierung behaftet zu sein.« Also im Klartext mit ganz allgemeinen Vorstellungen von einem ›Bereich‹ und einer ›Grenze‹. Wenn man dann ›Grenze‹ mit ›marge‹ übersetzt, sind wir wieder sehr nahe bei van Gennep und seinen Rites de passage, denn die gliedern sich in »séparation, marge, agrégation«.
Fassen wir kurz zusammen: Der 72-stündige Aufenthalt in einem Zeremonienbau vom Typ ›Großer Fisch‹ ist praktisch der krönende Abschluss einer (See- oder Fluss-?) Fahrt in einen (sprachlich tabuisierten) ›Bereich‹, zu einem ›Wertvollen‹, wo es dann eine rätselhafte ›Grenze‹ gibt, die ein Novize im Zuge einer Initiation mutig zu überwinden hat.
Es handelt sich um ein kultisch vollzogenes Stirb-und-werde, bei dem der Einzuweihende von einem ›großen Fisch‹ (Dag ha-gadol) verschlungen wird, (subjektiv) heftige ›Stürme‹ erlebt und in ungeheure Tiefen abtaucht, um dann nach drei beschwerlichen und vielleicht auch gefährlichen Tagen als munterer/s ›Fisch(lein)‹ wiedergeboren zu werden.
So steht es natürlich nicht geschrieben, denn so darf es nicht geschrieben stehen. Es würde – im Großen und Ganzen – in keiner Weise in den biblischen Modus passen. Aber das Ninive-Erlebnis, so frustrierend es für den Propheten ausgefallen sein mochte, ist eben letztlich auch eine Initiation. Wenn auch auf eine etwas andere Art als die der mesopotamischen Fisch-Priesterschaft. Es ist die harte Prüfung eines wegen seiner beharrlichen Glaubenstreue in die gesellschaftliche Isolation (Diaspora) getriebenen Menschen. Wer einmal eine gewisse marge überschritten hat, wer diese Prüfung durchgemacht hat, soll sich vor keiner Marginalisierung mehr fürchten. Er gehört unwiderruflich zu den Lebendigen und Fruchtbaren. »In mehreren Talmudstellen, von denen sich eine auf den im frühen 2. Jh. lehrenden Rabbi Aqiba beruft, werden die in der Torah verharrenden Gläubigen mit den Fischen im Wasser verglichen.«
Nach Meinung von K.Almbladh ist das Buch Jonah von der Sprache her eindeutig in nachexilischer Zeit entstanden. Man darf also annehmen: Hier hat eine kollektive Erfahrung des Exils (oder Abgesondert-Seins) einem wesentlich älteren Motiv neues Leben eingehaucht.
Schließlich gibt es noch zwei kleine Details in der Jonas-Mythe, die zu denken geben könnten. Zunächst ist da das psalmenartige Gebet im Fisch. Der Prophet fühlt sich begraben von den Wogen und bedeckt vom Schilf. Wenn man in einem Mudhif festgehalten wird, dann ist man tatsächlich ›bedeckt von Schilf‹.
Und dann die Stelle: et evomuit Ionam in aridam – und er spie ihn aufs Trockene. Für Nikolaus von Lyra schien es fast schon ein (zweites) Wunder, dass das Meeresmonster, nachdem es zuerst in so gewaltige Tiefen abgetaucht war, trotzdem bis an ein genügend seichtes Ufer schwimmen konnte. Doch, wie schon der Ulmer Theologe Johannes Friedrich Herttenstein zu bedenken gab: Non praeter necessitatem miracula sunt multiplicanda! (Man sollte nicht mehr Wunder zulassen als unbedingt nötig!) ( Roling, S .363) Wenn man im Zweistromland einen Mudhif verlässt, landet man in der Regel tatsächlich und ohne weiteres auf dem Trockenen. Nicht einmal die Fußsohlen werden feucht. In einem epischen Gedicht des griechischen Dichters Lycophron wird erzählt, der unermüdlich abenteuernde Halbgott Herakles sei drei Tage lang in einem canis charcharias (Haifisch) (Roling, s. 351) gefangen gehalten worden. Für den Theologen Cyrillus von Alexandrien war danach sofort klar, dass es sich hier um eine griechische Paraphrase der Jonas-Mythe handeln müsse. Der Gelehrte Samuel Bochart vermutete hingegen im siebzehnten Jahrhundert zumindest eine Vermittlung durch die (semitischen) Phönizier. Fragt sich nur noch, woher das Vermittelte ursprünglich stammen sollte – aus Bibel oder aus Babel? An den Türpfosten (!) des »Palastes der vier Weltgegenden« in Ninive waren angeblich neben wilden Tieren der Berge auch große Meerestiere zu sehen. Eigentlich erstaunlich, wenn man bedenkt, dass die Stadt Ninive mindestens 400 km vom Meer entfernt lag. Was bliebe da noch zu sagen? – Vielleicht eine kurze abschließende Erläuterung des Untertitels: ›Schamanen, Priester und Propheten‹. Dieser Aufsatz sollte zeigen, wie ein zentrales Motiv der Religionsphänomenologie, das Motiv der Berufung/Prüfung des homo religiosus durch eine höhere Macht, zunächst im vorgeschichtlichen Schamanismus und im Geheimbundwesen zu verorten ist. In einigen subarktischen Randgebieten (Ostbaltikum, Finnland, Nord-Norwegen) haben sich Spuren solcher Berufungs/Aufnahmerituale offenbar bis ins siebzehnte Jahrhundert erhalten. Die so genannten Seebischöfe sind ein spätes Relikt aus schamanistischen Vorstellungen, welche von der massiv einschreitenden Mission christlich überformt wurden. In frühgeschichtlicher Zeit wird das Erwählungs/Berufungs-Motiv dann von Priesterkasten aufgegriffen und (buchstäblich) ausgebaut. Dabei wandelt sich die primitive Schamanenhütte, in der der Erwählte einige Zeit in einem koma-artigen Zustand verbringt, zu einer Initiations-Struktur mit deutlich theriomorphen Zügen oder Ak-zenten. Unter anderem in der hier besprochenen Form ›Großer Fisch‹. Schließlich findet sich das Berufungs/Prüfungs-Motiv mutatis mutandis bei einer Institution, die das ordinierte Priestertum mit sei-nem Amts-Charisma in gewisser Weise bereits wieder hinter sich gelassen hat – beim alttestamentlichen Prophetentum. Propheten sind religiöse Gestalten, die sich, oft in kritischer Distanz zu einem politischen Machtzentrum, allein einer ganz persönlichen, unmittelbaren Offenbarung verpflichtet glauben. – Wie denn auch geschrieben steht: »Und es erging das Wort des Herrn an …«.
Mudhif (Zeichnung des Verfassers) Den Aufbau eines Mudhif im heutigen Iraq zeigt das Video »The revival of an ancient technique in the Marshlands of Iraq«: https://www.youtube.com/watch?v=VXjNTEVwxQA <08.06.2015> Der britische Forschungsreisende und Soldat Wilfred Thesiger (sprich Thee-sidger, 1910–2003), »the last of the great explorers«, der in den fünfziger Jahren unter den so genannten Marsch-Arabern im Südirak lebte, schrieb über die Mudhif: »Probably within the next twenty years, certainly within the next fifty, they will have disappeared for ever.« (The Marsh Arabs, 1964)
(Online gestellt 08.06.2015; Überarbeitungen: 18.02.2016, 27.09.2016, 13.02.1924) |