Thomas Gehring: Dürer als Humanist

 

In der Studie werden vier von Dürers Meisterwerken besprochen, nämlich »Melencolia • I«, »Vier nackte Frauen«, »Der Traum des Doktors« und »Das grosse Glück«. Der Verfasser legt dar, dass in diesen Sinnbildern keine unergründlichen Geheimnisse liegen, dass Dürer hier keine Melancholie und keine Hexen darstellt. Die Stiche geben in geistreicher Form Dürers Gesinnung wieder, sein Interesse am Menschen als solchem. Gezeigt wird, wie er in der Art der Humanisten antike Themen und Texte aufgreift. Auch von lateinischen Texten des Mittelalters und von Schriften seiner Zeit macht er Gebrauch. Zwei Quellen dieser Art, eine Stelle aus den Gesta Romanorum und ein Gedicht von Politianus, sind im Anhang übersetzt wiedergegeben.

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Es wird der Hase gewesen sein, das erste Bild von Dürer, das einem gefallen hat und das noch heute manches Kinderzimmer schmückt. Später machte das bedrohliche Nashorn großen Eindruck. Und schließlich war da ein eigentliches Wimmelbild, das Paradies als friedlicher Tiergarten, wo eine dicke Katze dem Mäuschen vor sich keinen Blick schenkt. Doch da sind auch Adam und Eva. Ihnen gilt die Aufmerksamkeit, als gottnahe und gottferne Geschöpfe stehen sie für den Menschen als solchen, für das ganze Menschengeschlecht. Alle Ausschmückung, alles Erzählerische kann nicht davon ablenken, dass bei Dürer der Mensch im Zentrum steht. Und der Mensch ist für ihn in jeder Gestalt bemerkenswert, Adam nicht mehr als Eva, die Jugend nicht mehr als das Alter. Auch die Unterschiede von Rang und Stand sind nur Spielarten der einen Gattung.

Schauen wir dazu die Blätter an, die später Meisterstiche genannt worden sind. Sie sind den Ständen gewidmet, man könnte sie unter den Obertitel stellen »Menschen und ihre Aufgabe auf Erden«.

     Den Wehrstand verkörpert der Ritter in würdiger Weise. Der geläufige Titel »Ritter, Tod und Teufel« lenkt vom Eigentlichen ab. Hier zählt nur der Ritter; Tod und Teufel sind fratzenhafte Symbole für die Umstände, unter denen wir Menschen alle leben, die Gefahren für Leib und Seele. Richtiger wäre also »Ritter zwischen Tod und Teufel«.

     Mit gleicher Anteilnahme an ihrem Schicksal stellt Dürer die Bauern dar, den Nährstand, auf Blättern, die nicht als Meisterstiche gelten. Den Lehrstand hingegen illustrieren zwei der berühmtesten Blätter: Hieronymus im Gehäus und der Traum des Doktors.

    Für den kirchlichen Gelehrten wählt Dürer einen bekannten Heiligen aus früher Zeit, doch geht es ihm nicht um Hagiographie. Er zeigt keinen Prediger, sondern den um den richtigen Sinn ringenden Wissenschafter. So wäre Hieronymus als Patron der Philologen zu verstehen, die um 1500 an den zahlreichen Bibelübersetzungen arbeiteten. — Auch der weltliche Gelehrte hat sein Stübchen. Er ist als Mediziner oder Jurist zu Geld gekommen und kann sich Tagträumereien leisten. Dafür wird er mit sanftem Spott bedacht. Wie das geschieht, ist später noch zu erörtern.

     Wir sehen auf den genannten Blättern die Gesellschaft in und um Nürnberg aber nicht vollständig. Es fehlt das Bild des Handwerkers und Künstlers, man vermisst die Darstellung von Dürers eigenem Stand. Und das ist so unglaubwürdig, dass man guten Grund hat, nach dem fehlenden Bild zu suchen. Es ist auch zu finden, und zwar unter den Meisterstichen. Die zentrale Figur trägt Flügel, ist also allegorisch zu verstehen als »Kunst und Wissenschaft«.

Das zeigen alle Attribute um sie herum: Es sind Werkzeuge und Hilfsmittel, Objekte und Produkte, mit denen ein Handwerker, ein Künstler und Wissenschafter zu tun hat. Die Anordnung ist bewusst willkürlich, es herrscht eine gewollte Unordnung. Die Werkzeuge zur Holzbearbeitung liegen im Vordergrund, sie könnten an den Namen Dürer oder Türer als Berufsbezeichnung erinnern, wie Tischler und Schreiner. Das Muster der im Bild verteilten Gerätschaften kennt man von zeitgenössischen Bildern zur Passion. Diese Dinge werden als Arma Christi bezeichnet, Nägel und Leiter gehören dazu. Und inmitten ihrer Sachen sitzt gedankenverloren die »Kunst und Wissenschaft«, die Ars oder Techne, mit dem Zirkel, dem Instrument für das Messen. Es befremdet, dass sie damit zu schreiben scheint, dabei ist ihr Buch geschlossen und der Zirkel kein Stift oder Kiel. Man möchte sie belächeln trotz ihrer eindrücklichen Erscheinung. Sie stellt wirklich viel dar: Die Schlüssel weisen sie als Hausherrin aus, die Börse zeigt, dass sie wohlhabend ist, der Kranz, dass sie Erfolg hat. Auch Mutter ist sie, wie das Büblein zeigt.

     Doch das Bild bleibt befremdlich: Warum bekommt diese Figur, die Verkörperung von Dürers eigener Welt, keinen strahlenden Auftritt? Der Künstler muss diesen naheliegenden Gedanken gehabt und verworfen haben. Er hätte die Kunst, bekränzt und geflügelt, in der Pose einer Viktoria darstellen können, doch was wäre daran geistreich gewesen? Ein Blatt für den eigenen Kreis der Künstler und der Gebildeten sollte mehr zu denken geben. Das breite Publikum wäre mit einem lauten Prosit auf die Kunst zufrieden gewesen. Die Empfindlicheren und Zurückhaltenden nehmen auch die äußeren und inneren Gefährdungen der Kunst wahr und sehen gerade am Leiden an der Berufung die Größe.

     Dürer kannte die Schwermut und gab in der Schrift für angehende Maler praktische Ratschläge, wie sie fernzuhalten sei. Man kann sich darum leicht vorstellen, was Dürer von den Theorien gehalten hat, nach denen die Melancholie den geistreichen Menschen fördere und auszeichne. Und solche Meinungen lagen damals in Nürnberg nicht nur in der Luft, sondern auch im Druck vor. Am Hof der Medici in Florenz war um den Philologen Marsilio Ficino ein philosophischer Zirkel entstanden, der neuplatonische Ideen und astrologische Vorstellungen pflegte und verbreitete, so auch den Saturn- und Melancholie-Kult.

Anmerkung: Vgl. etwa Marsilius Ficinus (1433–1499), De triplici vita, Florenz 1489, Cap. VI: Quo pacto atra bilis conducat ingenio (Wie die schwarze Galle zum Genie beiträgt) – Deutsche Übersetzungen von Johannes Adelphus (1485–1523) wurden 1505 und 1508 gedruckt.

     Wie gesagt, kann man sich nicht vorstellen, dass Dürer solchen Gedanken angehangen hätte, sehr wohl aber, dass er sich mit seinen Mitteln dagegen verwahrte. Seine Meinung zum Melancholie-Kult hätte er in einer Schrift darlegen können, doch es standen ihm andere, für seine Zeit typische Mittel zur Verfügung. Es gab eine Menge von Einblatt-Drucken mit polemischem Inhalt. Der Sinn war in ein Bild mit Legenden eingekleidet und ergab sich erst bei genauer Betrachtung. An diese druckgraphische Gattung schloss Dürer den Stich zur Kunst und Wissenschaft an und verfolgte damit seine polemische Absicht.

     

    In das bereits geschilderte Bild setzte er ein fetzenartiges Spruchband und beschrieb es mit MELENCOLIA • I, als ob das der Titel des Werks sei, als ob er sich der neuen Mode angeschlossen habe. Die genaue Betrachtung, die sorgfältige Lektüre, zu der wir hier aufgerufen sind, ergibt etwas ganz anderes: Das Band enthält doch als Legende einen ganzen lateinischen Spruch mit Anrede und Aufforderung. Das »I« ist als Befehlsform zu lesen: »geh weg!«, der Melancholie wird also befohlen, zu verschwinden. Und von wem denn? Von der an der Schwermut leidenden Kunst natürlich. Ihr Wunsch, ihr Gedanke ist auf dem Band zu lesen, nicht in eine Blase gehüllt wie im Comic, aber ebenso eingesetzt.

     Das richtige Verständnis des Bildes ist allerdings an eine Bedingung geknüpft: Man muss Dürer die genannte polemische Absicht zutrauen und sich an den Gedanken gewöhnen, der Künstler habe die unbedarften Betrachter und Käufer des Stichs – auch unter uns – mit Fleiß in die Irre geführt, als er MELENCOLIA • I wie einen Titel ins Bild setzte. Das könnte man mit Beispielen für Scherz und Spott in Humanistenkreisen leicht plausibel machen, denen Dürer angehört. Manche meinen allerdings, er habe nicht zu den Gebildeten gezählt, und sehen in der Schreibung MELENCOLIA einen Beweis dafür. Dann hätte Dürer, der Freund des gelehrten Pirckheimer, die ›Schwarzgalligkeit‹, die Melan-cholie, aus Ungeschick falsch geschrieben, und das in einem Kreis, der Philipp Schwarzerd als Melan-chthon kannte und verehrte. Das ist unglaubwürdig.

     Dürer schrieb mit Bedacht MELENCOLIA, und seine Freunde erkannten – und erkennen – in der italianisierten Form (italienisch eigentlich malinconia, so schon bei Boccaccio) das modische Gift der florentinischen Philosophen, das Dürer mit Hilfe seiner Kunst zum Teufel wünscht. Damit ist der Meisterstich mit der Allegorie der »Kunst und Wissenschaft« dargestellt und erklärt. Aus dem Gesagten geht hervor, wie er, samt seiner polemischen Seite, als Werk der Humanistenzeit zu verstehen ist.

Rezeptionsgeschichte

Im Folgenden geht es darum, wie das Werk aufgenommen worden ist, von den Anfängen bis heute. Man sieht auf den ersten Blick, dass Dürer den Spürsinn des Publikums überschätzt hat. Die meisten sind auf das trügerische Titelangebot eingegangen; schon Zeitgenossen wie Hans Sebald Beham und Giorgio Vasari sprechen von Dürers »Melancholie«. Sie haben die Figur selbst als Melancholie verstanden, worauf alles Übrige auf dem Bild unverständlich wurde. Es galt den meisten als rätselhaft, ja unerklärbar. Dürer wurde – Ironie der Kunstgeschichte – zum Dunkelmann, und das mit dem Bild, das er zur Abwehr von Verfinsterung und Trübsinn entworfen und gestochen hatte. Und wo stehen wir heute?

     Die unzähligen Versuche, dem vermeintlich Rätselhaften an Dürer auf die Spur zu kommen, füllen schon so viele Seiten auf Papier und im Web, dass sich selbst Fachleute nicht mehr heranwagen. (Die Deutsche Nationalbibliothek verfügt derzeit über 2775 Medien zu Dürer, 967 davon sind Bücher.) Auch Sprachprobleme entfremden die heutigen Kunstverständigen der Dürerzeit. Das Alltagslatein der Zeit um 1500 ist den wenigsten noch zugänglich. An welchem Gymnasium albert man heute noch mit Versen herum, in denen zum Beispiel IMVS »wir gehen« als I, MVS »lauf, Maus! « zu verstehen ist? Dürer war mit seinem I ! nahe bei den Leuten, die als Kinder in der Lateinschule gewesen waren und von dort das kürzeste Wort der Römer als Spielzeug kannten.

     Zwar ist das Missverständnis um den Stich zur Regel geworden, aber es gibt Ausnahmen. Drei davon seien im Folgenden vorgestellt.

• Erstes Beispiel

Dürer hätte gewiss Freude gehabt an der Vitruv-Ausgabe, die in deutscher Übersetzung 1548 in Nürnberg erschienen ist. Sie stellt in der Einleitung eine Menge Gerätschaften zur Schau, wie sie Handwerker und Architekten, Künstler und Wissenschafter brauchen, und zwar in einem Wimmelbild, offenbar nach Dürers Stich:

Vitruvius Teutsch: Nemlichen des aller namhafftigisten vnd hocherfarnesten, Römischen Architecti, und Kunstreichen Werck oder Bawmeisters, Marci Vitruuij Pollionis, Zehen Bücher von der Architectur vnd künstlichem Bawend, Nürnberg: Petreius 1548 [Übersetzung von Walther Ryff] Blatt XI r. (Digitalisat)

Auf dem Podest – nicht wie bei Dürer daneben – sieht man die Kunst in Person. Es ist hier ein männliches Wesen, ein Genius, mit einem Flügelpaar in der rechten und einem Gewicht an der linken Hand. Schon bevor diese Attribute gedeutet sind, ist klar, dass der Entwurf von jemandem stammt, der Dürers Frauengestalt als die Kunst verstanden hat. Den Genius als Stellvertreter besorgte er sich im Emblem-Büchlein des Alciatus, wo das Sinnbild folgendermaßen erläutert wird:

Die Rechte hält einen Stein, die andere Hand hält Flügel empor. / Wie mich die Feder hebt, so senkt mich das schwere Gewicht. / Mit dem Geist könnte ich mich über die höchsten Höhen schwingen, / Wenn mich nicht die missgünstige Armut niederdrückte.

Auch der Genius ist deprimiert, aber aus wirtschaftlichen Gründen. Gleichwohl liegt die Übereinstimmung mit Dürer auf der Hand.

Dextra tenet lapidem […] in: Viri clarissimi D. Andreę Alciati […] Emblematum liber, Augsburg: Heinrich Steyner 1531. (Digitalisat)

• Zweites Beispiel

Ein Jahrhundert später, mitten im Dreißigjährigen Krieg, widmet der Zürcher Rudolf Meyer (1605–1638) seinem Bruder Conrad, Zeichner und Radierer wie er, eine kleine Federzeichnung:

(Mit freundlicher Bewiligung der Grafischen Sammlung Kunsthaus Zürich; vgl. Karl Bernhard, Zürcher Mercuriositäten. Wie Merkur die Limmatstadt beflügelt, Orell Füssli 2013; Nr. 80)

Die begleitenden dreimal vier Verse sind allgemeiner als der Bildinhalt, den es zu lesen gilt: Wir befinden uns in einem mächtigen Kunstsaal, der unter einem weitgespannten Bogen den Blick in die Ferne freigibt. Dort sieht man brennende Burgen und Städte und Heerhaufen im Kampf. Im Innenraum, in der verschonten Schweiz, herrscht Lethargie. Die zentrale Gestalt, an Staffelei, Pinsel und Palette als »Malerei« erkennbar, stützt müde den Kopf auf, wie ihr Vorbild bei Dürer. Ihre Begleiterinnen – wie sie in allegorischer Nacktheit – sind die Musen, sieben um sie gelagert, zwei links oben gleichsam von der Mauer aus das Kriegsgeschehen im Ausland beobachtend. Dass Meyer mit der Gestalt der Malerei wie Dürer die Kunst und Wissenschaft überhaupt meint, beweisen die wohlbekannten Gerätschaften – Hammer, Schmelztiegel, Zirkel, Säge – aus Dürers Stich, dazu Globus und Musikinstrumente.

     Bei Meyer liegt das kulturelle Leben aus politischen und wirtschaftlichen Gründen darnieder. Die Hoffnung auf bessere Zeiten stellt er mit einem herbeifliegenden Merkur dar, begleitet von Putten, die links und rechts zum Frieden blasen, wie das PAX auf dem Wimpel an der Posaune zeigt. Was Meyer von sich und seinesgleichen erwartet und in den Versen verlangt, ist fleißiges »Studiren« trotz der schlimmen Zeit. Dürers Werk hat er offensichtlich studiert und gut verstanden.

• Drittes Beispiel

Von Bertel Thorwaldsen, dem heiteren und erfolgreichen Klassizisten, gibt es ein feines Relief, auf dem die »Kunst und Wissenschaft«, den Kopf wie bei Dürer aufgestützt und in Gedanken versunken, ins Helle zurückfindet. Ihre Person ist sorgfältig gekennzeichnet mit dem Reißbrett auf dem Knie, mit den Buchrollen unter dem Stuhl, mit der Leier und mit der Eule der Wissenschaft. Ihr Retter ist der Genius. Er füllt die Öllampe und sorgt so für Licht: A GENIO LVMEN steht auf dem Sockel. Das ist, wie bei Dürer, eine erklärende Inschrift, sie klingt zuversichtlich, die Melancholie wird das Feld räumen:

Marmorrelief um 1828, Thorwaldsens Museum Kopenhagen, Inv. Nr. 828. (Foto des Verfassers)

Die vier Frauen

Dürer als Humanisten ins richtige Licht zu setzen, dazu kann auch ein Stich dienen, der schon 1497 entstanden ist. Er zeigt vier Frauen, über ihnen steht auf einer Kugel O.G.H. Da die Gestalten unbekleidet sind, nennt man das Blatt auch »Vier nackte Frauen« oder »Die vier Hexen«.

Digitalisat: Graphische Sammlung der ETHZ

Darüber, was dargestellt ist, gibt es vage Spekulationen, die um Dürers Haltung zum Aberglauben oder zur Erotik kreisen. Aufschluss geben könnten die drei Buchstaben der Überschrift, wenn sie denn zu deuten wären und man über ein »O Geheimnis, heiliges!« hinauskäme. Es lohnt sich in solchen Fällen, ähnliche Blätter zum Vergleich heranzuziehen, und wirklich gibt es eine frühe Kopie des Stichs von der Hand des Israhel van Meckenem.

Digitalisat: British Museum

Dort steht über den Frauen G.B.A., offenbar eine Übersetzung dessen, was der Künstler bei O.G.H. herausgelesen hatte, nämlich »O Gott, hilf!«. Seine Zielsprache war das Plattdeutsche, der Spruch hinter G.B.A. heißt wohl »God, bewaar altijd!«. Ein solcher Hilferuf ist üblich, wenn einen höllische Mächte bedrohen. So nennt man ja den Teufel beschwörend Gottseibeiuns. Nach der Lesart des Israhel van Meckenem hätte Dürer mit den vier Frauen also Hexen dargestellt und vor ihnen gewarnt. Es fragt sich aber, ob es Dürer darum ging, mit dem Stich Angst zu verbreiten. Auch wenn wir für diese Auffassung mit van Meckenem einen Zeitzeugen haben, braucht sie darum nicht richtig zu sein. Die irrige Meinung, dass Dürers »Kunst und Wissenschaft« die Melancholie darstelle, war ja schon früh verbreitet – auch Zeitgenossen können einander missverstehen.

     Es wird Zeit, das Geheimnis zu lüften: Omne genus humanum steht bedeutsam über den vier weiblichen Gestalten, »das ganze Menschengeschlecht«. Dürers drei Worte waren kein großes Rätsel zu einer Zeit, als Latein kulturell so wichtig war wie heute Englisch. Wer in ihm einen Humanisten sah, erwartete von ihm Offenheit für das neu erschlossene lateinische Schrifttum, auch den spielerischen Umgang damit. Mit dieser Erwartung ging auch Thomas Renkl vor wenigen Jahren ans Werk, als er den hier besprochenen Stich in einem ausführlichen Zeitschriftenbeitrag vorstellte. Auch er las O.G.H. im obigen Sinn und lehnte die Vorstellung ab, es gehe um Hexen. Überzeugend deutet er die Umgebung der drei Buchstaben, den Kürbis, das Rhizinusblatt und die Schnecke, als Vergänglichkeitssymbole.

Thomas Renkl, Vier nackte Frauen? Zum Sichtbaren und zum Nichtsichtbaren in Dürers Kupferstich mit den Zeichen »O·G·H« und »1497«, in: Zeitschrift für Kunstgeschichte 78 (2015), S. 387–411.

     Doch was meint Dürer, wenn er die vier Frauen als das »ganze Menschengeschlecht« bezeichnet? Offenbar stehen sie als Teil für das Ganze, und die Männer sind »mit gemeint«. Für den Humanisten ist das Mensch-Sein nicht vom Geschlecht abhängig, Frauen können die Gattung so gut repräsentieren wie Männer. Ihr Auftritt hier ist eindrücklich: drei Akte, von der Seite, von hinten und von vorn. Dürer erinnert an weibliche Dreiergruppen – Grazien, Parzen, Parisurteil –, um diese Anspielungen mit der vierten Gestalt im Hintergrund gleich zu widerlegen. Aber auch zu Vierergruppen – Jahreszeiten, Temperamente – lassen sich die Gestalten nicht zusammenfassen, denn sie sind als zwei Paare dargestellt, getrennt durch den Stand im doppelten Sinn, abzulesen am abgestuften Fußboden und am Kopfputz. Links steht »unter der Haube« die verheiratete Bürgersfrau, es folgt das Mädchen mit Brautkranz auf gleicher sozialer Ebene, tiefer dann eine Frau niedrigeren Standes und eine weitere Magd dahinter.

     Ein Bild von Hans Baldung Grien, »Die sieben Lebensalter des Weibes« von 1544, das Dürers Stich aufnimmt, legt nahe, auch bei Dürer das Alter als Thema zu vermuten – zu Unrecht. Was Dürer an den vier Menschen verschiedenen Alters und Standes zeigt und mit dem aus dem Türspalt hervorlugenden Höllenhund und den am Boden liegenden Gebeinen verdeutlicht, ist ihr Schicksal, die »condicio humana«: Mitten im Leben sind sie vom Tod, und schlimmer noch, vom eufel umgeben, ohne dass sie sich dessen bewusst sind. Was für uns ein »Memento mori« ist, die bedrohliche Umgebung, nehmen die vier nicht wahr. Auch der Ritter des Meisterstichs würdigt seine Begleiter Tod und Teufel keines Blicks. Wer derart seinem Schicksal ausgesetzt ist, wie die vier Frauen, wie der Mensch überhaupt, erregt unser Mitgefühl. Um diese humane Regung geht es hier, nicht um eine Allegorie mit rätselhaftem Inhalt, auch wenn Dürer Sinnbildliches verwendet.

     Grossen Eindruck haben Dürers »Vier Frauen« offenbar auf Jacopo Pontormo gemacht. Er verstand Dürers klugen, ja humorvollen Gedanken, die Frauen den Männern vorzuziehen, und gab in einem eigenen Werk zu erkennen, in welch hohem Rang er sie sah: Sein Bild »La visitazione« zeigt groß und im Vordergrund Maria und Elisabeth, hinter ihnen zwei Begleiterinnen:

Quelle: Wikimedia

Zwei Männer bleiben winzig klein im Hintergrund, wohl Joseph und Zacharias; sie spielen keine Rolle. Dort, wo Pontormo die Männer placiert hat, zeigt sich bei Dürer ein Höllenhund, der einen sogenannten Kloben vorstreckt. Es handelt sich dabei um ein Instrument zum Vogelfang. Zwei Latten sind hinten verbunden und vorn auseinander gespannt. Gerät ein Vogel dazwischen, schnellen die Latten, entriegelt, zusammen und halten die Beute fest. Der Kloben war ein gängiges Bild für die Macht des Bösen über Unbedachte und Verführbare. Die Stelle des Lockvogels nahm, auch im Bilde, oft eine Frau ein, die auf dem Kloben saß. Wer Dürers Stich oberflächlich betrachtete, konnte auf den Gedanken kommen, die Frauen seien die wohlbekannten Lockvögel, ja Hexen, und mit der Hölle im Bunde.

Anmerkung zum Kloben: Ein Kapitel (moderne Zählung: Kap.92) in Sebastian Brants »Narrenschiff« (1494) ist überschrieben mit Vberhebung der hochfart. Der Spruch über dem Holzschnitt lautet: Wer hochfart ist/ vnd duot sich loben Vnd sytzen will alleyn vast oben Den setzt der tüfel vff syn kloben. Die Frau, die selbstverliebt in den Spiegel blickt, ist zum Werkzeug des Teufels geworden.

Es gibt gute Gründe, anzunehmen, Dürer habe sich von einem populären, in Nürnberg gedruckten Buch zu seinem Stich anregen lassen. 1494 erschienen bei Anton Koberger die Gesta Romanorum, eine mittelalterliche Predigtmärchensammlung, in welcher ein Abschnitt in der beschriebenen allegorischen Weise von »höllischen Hunden«, »Jägern des Teufels«, »die Vögel jagen« und von »Frauen« berichtet, die »jedem Stand« gefährlich werden. Bedroht sei das »ganze Menschengeschlecht« (Text und Übersetzung als PDF-Datei hier zu öffnen). Die Übereinstimmung dieser Stelle mit dem Stich ist erstaunlich, ebenso die völlige Umgestaltung in humanistischem Geist: Dürer greift die Teile auf und setzt sie zu einem neuen Ganzen zusammen, zum Bild aller Menschen in ihrer Gefährdung und ihrer Würde.

     Für Humanisten ist die überlieferte Literatur jeder Art eine Fundgrube, die es auszuwerten gilt. Die eben zitierten Gesta Romanorum, in kritischen Augen ein Machwerk, sind in Nürnberg kurz hintereinander zweimal erschienen, und der Verleger hat den mittelalterlichen Text überarbeiten lassen, dass er mindestens orthographisch den Ansprüchen der Humanisten genügte.

Als Beispiel für ein Zitat aus der gehobenen klassischen Literatur betrachten wir den Kranz, den Dürer der »Kunst und Wissenschaft« aufgesetzt hat: Man erkennt dort die dreigliedrigen Blätter von Apium graveolens, dem schwer oder betäubend riechenden Sellerie. Das könnte man mit Schwermut verbinden, doch bei Vergil liest man in der sechsten Ekloge den Vers floribus atque apio crinis ornatus amaro »die Haare mit Blumen geschmückt sowie mit Sellerie, dem herben«, und der Kranz gehört dort Linus, einem großen Künstler der Vorzeit. Bei ihm wird Dürer ihn geholt haben. Vergil war das ganze Mittelalter hindurch präsent, sei es als »anima naturaliter Christiana« wegen der vierten Ekloge und ihrer Nähe zum Lukas-Evangelium, sei es als romanhafter Zauberer Virgil.

    Sein Zeitgenosse Horaz hingegen galt durchaus als Heide und wurde – vielleicht auch deshalb – erst von den Humanisten wieder gelesen und geschätzt. Besonders unterhaltsam sind seine sermones, die Satiren, und unter diesen die Geschichte vom nächtlichen Ritual zweier Hexen in einem Garten auf dem Esquilin, einem ehemaligen Friedhof. Was da Abenteuerliches und Lächerliches geschah, erzählt statt Horaz ein Zeuge, der in nächster Nähe stand, ein hölzerner Priap, aufgestellt zur Abschreckung von Vögeln und Diebsgesindel. Sein Bericht über das Treiben der beiden Magierinnen endet mit einem Knalleffekt: Am Feuer, das sie entfacht haben, springt das erhitzte Holz des Priap-Standbilds mit lautem Knall, und in echt menschlicher Angst fliehen die abergläubischen Weiber vor dem »Gott«. Zu Beginn seines Berichts hat dieser seine Entstehung und sein Aussehen beschrieben: Aus Feigenholz gezimmert, hätte er ein Schemel werden können, doch er sei zum Gott gemacht worden, mit einem aus der Schamgegend aufragenden Pfahl, um die Diebe abzuschrecken. Das ist die bekannte Erscheinung des Priap, mit diesem Motiv spielt die Gattung der Priapeen, zum Vergnügen vieler Adepten der alten Sprachen.

    Dieser Exkurs wird das Verständnis eines weiteren Stichs von Dürer erleichtern.

Horaz, Satire I, 8. Quintus Horatius Flaccus, Sämtliche Werke. Lateinisch-deutsch, herausgegeben und übersetzt von Niklas Holzberg, De Gruyter 2018 (Sammlung Tusculum).

Der Traum des Doktors

Weiter oben ist der Traum des Doktors ist bereits als Ständebild gedeutet worden.

Quelle: Wikimedia

Nun kommt der Vordergrund zur Sprache. Wir sehen Mutter und Kind. Doch während ein frommer Mensch und Christ eine Marien-Vision hätte, erscheint dem Träumer hier Venus mit ihrem Söhnlein Amor. Wer so träumt, ist in der heidnischen Antike heimisch geworden, er ist ein Humanist. Doch wie steht es um sein Seelenheil? Und um das des Künstlers, der solches darstellt? Ist die Antike eine Versuchung, wie der Stich auch heißt? Auf solche Gedanken kommen allerdings die wenigsten Betrachter; die meisten sind vom einblasenden Teufel beeindruckt und sehen die Macht der Frau und unkeusche Gedanken als lehrhaften Inhalt.

    Und Amor? Gewöhnlich hantiert er mit Pfeil und Bogen, hier versucht er, harmlose Stelzen zu besteigen. Sie bestehen aus einem Holzstab, von dem schräg ein zweites Stück Holz absteht. Das kommt uns bekannt vor. Wenn Dürer damit aber Horaz und seinen Priap zitiert, bekommt Amors Spiel die zu ihm passende erotische Bedeutung.

Das grosse Glück

Als letztes betrachten wir ein Bild, das wieder von einer Frauengestalt beherrscht wird. Es wird »Grosses Glück« genannt, und wie die unstete Göttin Fortuna steht auch diese Figur auf einer Kugel:

Vergrößerbares Digitalisat auf Wikipedia

Die Anregung dazu ist offenbar von einer literarischen Quelle ausgegangen (vgl. Anmerkung). Von Angelus Politianus stammt ein lateinisches Gedicht, wo zu Beginn die Göttin der Mäßigung, die Nemesis, beschrieben wird (Text und Übersetzung als PDF-Datei hier zu öffnen). Sie hat mit ihren Attributen und im Auftreten vieles mit Dürers Gestalt gemeinsam, welche dieser auch Nemesis nennt. Da sind die frena, die Zügel, mit denen die Göttin das Handeln der Menschen in der richtigen Bahn hält, und die patera, eine Trinkschale.

Anmerkung: Carl Giehlow (1863–1913), Poliziano und Dürer. in: Mitteilungen der Gesellschaft für vervielfältigende Kunst, 25, 1902, S. 25–26.

Auch in den Emblemen des Alciatus 1531 findet man die Nemesis, mit den Zügeln in der Linken, doch continet cubitum manu: Sie hält dort mit der andern Hand den Ellenbogen, um auf die Elle als Maß hinzuweisen.

In dieser Ausgabe der Griff an den Ellbogen zu sehen: Clarissimi viri D. Andreae Alciati Emblematum libellus, vigilanter recognitus […], Paris: Ch. Wechel 1542.
Reprint WBG Darmstadt 1967; Digitalisat der BSB

In späteren (Liber Emblematum / Kunstbuch, Franckfurt am Main 1566) und verwandten Darstellungen hält Nemesis bzw. Temperantia ein Winkelmaß in der Hand. Die Doppeldeutigkeit von lat. cubitum. »Ellenbogen, Elle«, mit der Alciat als Humanist spielen wollte, ist dort aufgehoben.

Dürers Gestalt trägt in der rechten Hand einen prächtigen Pokal, also keineswegs ein Messinstrument. Überblickt man das großartige Bild als Ganzes, so fällt auf, dass die Gestalt über einer idyllischen Landschaft schwebt, über dem Land, wo Ruhe und Frieden herrscht. Das legt nahe, die geflügelte Macht als Glücksbringerin für alle, für das ganze Gemeinwesen zu verstehen. Am Pokal und am Zügel sieht man, wie die geflügelte Macht waltet: Sie sorgt für Wohlstand und sie verhindert, was ins Unglück führt.

     Sind das nicht die Aufgaben der Staatslenker? Dann wäre hier in gebührender Höflichkeit und Allgemeinheit der Stand des Herrschers dargestellt, sein Wirken über allen Ständen. Die Kunst des Regierens, ihre beiden Seiten, die Milde und die Strenge, sie haben auch Dichter und Denker der Antike beschäftigt. Am bekanntesten sind die drei Verse in Vergils Aeneis, wo den Römern die Weltherrschaft als ihre Aufgabe zugewiesen wird: »Du, Römer, denk daran: Dem Auftrag gemäß die Völker zu regieren, / das ist deine Kunst, zum Frieden Gesittung zu fügen, / die Unterworfenen zu schonen und die Aufrührer niederzukämpfen.« (Parcere subiectis et debellare superbos; Vergil, Aeneis 6, 853) Kein Zweifel, dass der letzte Vers den Gedanken bereithält, den Dürer mit seiner Figur darstellt.

     Doch das Bild spricht eine sanftere Sprache als der Vers. Wenn bei Vergil die Herrschaft erst errungen werden muss, ist sie bei Dürer gegeben, sie sichert das Glück. Mit diesem Bild des Friedens geht er über die kriegerische Vorgabe von Vergil hinaus. Dürers humane Gesinnung bestimmt den Gehalt aller seiner Sinnbilder. Und wenn er als Humanist unentwegt antike Motive aufgreift, hat er als Künstler weit mehr damit im Sinn, als dem Zeitgeist zu folgen und die Erwartungen des breiten Publikums zu befriedigen. Es gilt, sein eigentliches Anliegen zu erkennen.

     Wenn das mit dieser Reihe von Bildbetrachtungen deutlich geworden ist, hat auch das Bild, das wir uns von Dürer machen, an Deutlichkeit gewonnen.

 

Online gestellt im Juni 2020.

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