Cesare Ripa »Iconologia«

Alice Thaler-Battistini:

Bilder  Sehen  Lernen. Die Iconologia des Cesare Ripa als Theater der Begriffe


Vortrag vom 19. Sept. 2015 an der Tagung der Schweizerischen Gesellschaft für Symbolforschung zum Thema »Verschleierte Botschaften – Gestalten und Leistungen der Allegorie«

 

Der »Iconologia« von Cesare Ripa kann sowohl mit ästhetischem als auch mit intellektuellem Interesse begegnet werden. In den folgenden Ausführungen wird versucht, das Wie der Darstellung mit dem Was des Inhalts zu verbinden.

Abb. 1: Cesare Ripas Porträt, Kupferstich, Frontispiz in der Ausgabe Siena 1613.

Cesare Ripa lebte von 1555 bis 1622. Viel ist nicht von ihm bekannt. Er kam aus Perugia und war in Rom am Hof eines Kirchenfürsten für den Haushalt zuständig. Woher er seine umfassende Bildung hatte, ist unbekannt. Dass er sie hatte, belegt seine Iconologia, für deren erste, noch nicht illustrierte Ausgabe von 1593  er mit der Aufnahme in den Ritterorden der Mauritii et Lazari belohnt wurde.

Vgl. Michael Thimann in: C. Logemann; M. Thimann: Cesare Ripa und die Begriffsbilder der Frühen Neuzeit, Zürich 2011, 50–65.

Das Werk »Iconologia« wird in der Regel als Sammlung von ›Begriffsbildern‹ bezeichnet (zum Beispiel im Titel der erwähnten Publikation von M.Thimann), doch zutreffender ist es, von Beschreibungen und Erklärungen und schliesslich von Darstellungen zu Begriffen zu sprechen, da die Begriffsbilder intellektuelle Inventionen Ripas sind.

Bereits die Verwendung des Begriffs Iconologia ist bemerkenswert. Ikonologie – die Lehre von den Bildern – hat eine lange Begriffsgeschichte. So tritt er bei Platon in rhetorischem Zusammenhang als Bildrednerei auf, im oft synonym verwendeten Zusammenhang mit Ikonographie bedeutete er in der Antike die Beschreibung bestehender Bildnisse (Platon, Phaidros 267c).


Ripa beschreibt jedoch in seinem Werk keine bestehenden Bildnisse und schon gar nicht solche von Personen, sondern er personifiziert Begriffe, er erfindet Bilder zu Begriffen. Diese umfassen Abstrakta wie ›Arroganz‹ oder ›Freundschaft‹, aber auch solche wie ›Eifer‹ oder ›Verdauung‹ und dergleichen. Ausserdem inkludiert er Namen von geographischen Regionen oder von Städten und Flüssen des Landes. Er komponiert die Bilder aufgrund vielfältiger Kontextualisierungen und personifiziert sie, entsprechend des italienischen Geschlechts des Begriffs männlich oder weiblich. Das heisst: die Bilder, die er beschreibt, gab es vor der Beschreibung nicht. Sie sind intellektuelle Erfindungen – aber solche mit lang anhaltender Wirkung.

Wodurch entstand sie? Für diese Frage soll im Folgenden wenigstens teilweise eine Antwort gesucht werden.

Bereits 1603, also nur 10 Jahre nach der ersten bildlosen Ausgabe erfolgte die erste illustrierte Edition mit über 500 besprochenen Begriffen und 400 illustrierenden Holzschnitten. Sie war so erfolgreich, dass es im Laufe des 17. Jahrhunderts in vielen Städten Italiens und bald auch Deutschland, Frankreich und England aufgelegt wurde. – Doch wozu?

Liste der Auflagen > http://dinamico2.unibg.it/ripa-iconologia/edizioni.html

1593 war Michelangelo schon 30 Jahre, Raffael gar schon 80 Jahre tot, Tizian, Leonardo da Vinci, Giorgione, Tintoretto, Veronese, Botticelli – sie alle lebten zum Teil schon länger nicht mehr. Zu ihren Hinterlassenschaften gehörten viele Werke allegorischen Inhalts: Botticellis Die Geburt der Venus (um 1485) ebenso wie einige von Giorgiones Werken, z.B. Das Gewitter (um 1508) oder Die drei Philosophen (um 1509) sowie Michelangelos Skulptur Die Nacht (um 1530) – die Liste ließe sich noch lange fortsetzen.

Wozu also diese »Iconologia«?

Abb. 2: Titelkupfer der Ausgabe Rom 1603.

Auf dem Titelblatt von 1603 sind Adressaten und Ziel angegeben. Sie lauten übersetzt, das Werk solle nicht weniger nützlich als notwendig zu sein für Dichter, Maler, Bildhauer und andere, um Tugend, Laster, menschliche Gefühle und Leidenschaften darzustellen. Doch wer wollte oder musste menschliche Gefühle darstellen und brauchte dazu eine Anleitung? Es waren die Gestalter von Volksfesten, Festumzügen und fürstlichen künstlerischen Festen – die »Iconologia» stellt somit eine Art Bildprogramme für das Volk zur Verfügung.

Nachweisbar nach Vorlagen von Ripa gearbeitete Kunstwerke sind aufgeführt in: Regina Deckers: Tradition und Variation. Die Rezeption der Iconolgia im Zeitalter der Aufklärung, in: C. Logemann; M. Thimann: Cesare Ripa und die Begriffsbilder der Frühen Neuzeit, Zürich 2011, 57–75.

Damit kann sie als eine Art Brückenphänomen, die – aus heutiger Sicht – hohe Kunst mit profaner Kunst verbindet, bezeichnet werden. Sie ist aber auch ein Brückenphänomen, da sie in ihrer Künstlichkeit Sprache und Bild oder Denken, Sprache und Bild direkt in Beziehung setzt. In der Art und Weise, wie das gemacht wird, verbindet das Werk die Welt platonischer Ideen mit sinnlich wahrnehmbaren Gegenständen, das bedeutet, dass Allgemeines und Abstraktes in Besonderes und Konkretes übersetzt wird. Damit, so kann man weiter schließen, bildet es eine Brücke zwischen den philosophische Positionen des Realismus mit solchen des Nominalismus, das heißt zwischen der Überzeugung von der Realität von Ideen, die vor den Begriffen gewissermaßen ewig bestehen mit der Überzeugung, dass Begriffe bzw. Nomen menschengemacht sind. Und nicht zuletzt verbindet sich im Aufbau und den Begründungen der allegorischen Darstellungen die Antike mit der Neuzeit. 

Die Allegorien des Cesare Ripa sind also intellektuelle Erfindungen, die Elemente ikonographischer, semantischer und methodologischer Traditionen enthalten. Um die Wirkmächtigkeit dieser Bilder zu verstehen, ist es notwendig, verschiedene dieser Traditionslinien nachzuzeichnen. Hier soll das in groben Zügen an Hand von vier Personifikationen und vor allem in philosophischen und ikonographischen Zusammenhängen geschehen.

Bilder, und die Allegorien der »Iconologia« treten als Bilder auf, sind als solche immer mehrfach konnotierte Objekte. Sie sind

  • Gegenstände eigenen Rechts, sinnlich wahrnehmbar, sich selbst zeigend, präsent.
  • Gleichzeitig stellen sie etwas dar, zeigen etwas, das sie selbst nicht sind, verweisen auf etwas Absentes (> Anm.).
  • Damit sind sie immer medial, d.h. sie vermitteln in ihrer Botenfunktion auf verschiedene Weise zwischen Absenz und Präsenz von Gegenständen, Themen und Personen. 
Anmerkung: Für diese Doppelfunktion prägte Gottfried Boehm den Begriff der ›ikonischen Differenz‹. Siehe: G. Boehm: Die ikonische Differenz ist eine Grundüberlegung zu der Frage, wie Bilder Sinn erzeugen. Ein Gespräch mit B. Richard, in: Kunstforum International: Denken 3000, Bd. 190, März/April 2008, hg. von D. Bechtloff (Ruppichteroth 2008) 134 – 140.

Aus der Untersuchung dieser Funktionen lässt sich ein hermeneutischer Horizont entwickeln.

Nun machen die gleichzeitige Wirksamkeit von Präsentation, Repräsentation/Symbolisierung sowie des Wirkens aus jedem Bild eine Kippfigur, die fortwährend Entscheidungen darüber provoziert, welche Funktion als Vordergrund, welche als Hintergrund zu betrachten ist. Oder anders ausgedrückt: Es ist nicht nur das Was, es ist auch das Wie und das Womit der Darstellung, das die Performativität eines Bildes begründet. Obwohl es in der Regel ja die Frage nach dem Was des Gezeigten den Vordergrund des Interesses bildet, die das Interpretieren überlagert und oft schnell das genaue Hinschauen und In-Beziehung-Setzen verhindert.

Hier soll deshalb mit dem Wie begonnen werden. Und zwar mit einem zweifachen Wie:

  • Dem Wie der Verbindung von Text und Bild – nicht vergessen werden sollte dabei, dass es der Text, eine erfundene Bildbeschreibung ist, die zum Bild führt sowie
  • Dem Wie des Auftretens der allegorischen Figuren.

Als Beispiel dient hier der Disegno – die Figur wird später erklärt – um zu zeigen, WIE die Personifikationen der »Iconologia« generell auf der Bühne auftreten.

Abb. 3: Disegno, Ausgabe Siena 1613, p. 196.

Der Disegno (Abb. 3), ein junger Mann, tritt den Betrachtenden auf einer ortlosen Bühne gewissermaßen durch ein Tor, das in barocker Manier gestaltet ist, entgegen. Die seitlichen Rahmungen aus bocksfüßigen Karyatiden scheinen einen Torbalken zu stützen. Dieser ausgestaltete Rahmen erhebt die Abbildung zusammen mit ihrer Platzierung vor und über dem Text von einer bloßen Illustration zu einer eigenständigen, in sich schlüssigen Aussage. Zudem ist das Bild dem Text insofern überlegen, als es auf einen Blick erfasst werden kann und zugleich einen Interpretationsprozess in Gang setzt.  Die sich konkurrierenden und ergänzenden Modi von simultanem und sukzessivem Sehen sind hier, was Bild und Text betrifft, deutlich voneinander separiert und hierarchisch gegliedert. Zuerst kommt das (eigentlich sekundäre) Bild, dann der (eigentlich primäre) Text.

Abb. 4:  Disegno, Ausgabe Padua 1625, p. 180.

Dass ornamentale Seitenrahmen jedoch auch nur dem Satzspiegel geschuldet sein können, ist in Abb. 4 augenfällig. Die Bildfläche, die hier der Figur zur Verfügung steht, erinnert nun an ein Fenster, doch noch immer geht das Bild dem Text voraus, noch immer sehen wir das Resultat der Ekphrase eines imaginierten Bildes bevor wir diese selbst lesen.

Abb. 5: Disegno, Ausgabe Venedig 1645, p. 158.

In der dritten Darstellung (Abb. 5) dreht sich das sichtbar gemachte Verhältnis von Bild und Text um. Hier lenken keine Ziermotive von der Darstellung ab, und die Abbildung ist leicht spaltenübergreifend in den Text integriert. Auf diese Weise ist die ornamentlose Darstellung dem Text sowohl vorgeordnet als auch als dessen Illustration beigestellt, so dass das Auge leicht zwischen Bild und Text hin und her gehen und die gegenseitige Übereinstimmung überprüfen oder nachvollziehen kann.

Der Auftritt dieser Personifikation selbst entspricht der Art und Weise, wie alle – meist stehend dargestellten – Allegorien der Iconologia präsentiert werden: In ihnen findet sich kein ikonisches System von Relationen, Farben und Formen, sie sind reines Sehangebot  bzw. ein Denkangebot, das über das Sehen aktualisiert wird und einer Ideenschau entspricht.

Zum Begriff des Bildes als ›Sehangebot‹ siehe M. Imdahl: Überlegungen zur Identität des Bildes, in: Odo Marquard (Hg.): Identität. 8. Kolloquium der Forschungsgruppe »Poetik und Hermeneutik« vom 5.–11.9.1976 in Bad Homburg (München 1979) 187–211.

Diese ›Schau‹ folgt in ihrer Visualisierung einer ikonographischen Tradition, in der ein Sujet als Bildheld präsentiert wird: Sie zeigt die Figur in leichter Aufsicht mit einem Lichteinfall von oben, so dass sie wie ein Denkmal erscheint, was ihr größtmögliche Aufmerksamkeit gewährt. Die Figur steht zudem in leichtem Kontrapost, was, wie bei einem Denkmal, das Monumentale, Gewichtige – und damit das Ernsthafte und das Ernstzunehmende, kurz: das in einer Tradition Stehende – unterstreicht.

Kommen wir nun zum WAS des Gezeigten. Alle in die »Iconologia« aufgenommenen Begriffe werden beschrieben und begründet.  Aus dem Text zum Disegno, was keinesfalls mit ›Zeichnung‹ übersetzt werden kann, sei dieser eine Satz hervorgehoben:

Disegno si può dire che esso sia una notitia proportionale di tutte le cose visibili, terminate in grandezza con la potenza di porla in uso .Man kann sagen, dass der Disegno eine proportionale Aussage (eine Aussage zu den Verhältnissen) aller sichtbaren Dinge sei, die mit Maß, Größe und dem Vermögen zum Gebrauch vollendet wurden. (Übersetzung AT – Hier werden die Texte nicht integral, sondern nur in Ausschnitten, einzelnen Elemente oder Strukturen präsentiert.).

Un Giovane d’aspetto nobilissimo, vestito d’un vago & ricco drappo, che con la destra mano tenghi un compaßo, & con la sinistra un specchio. Disegno si può dire che esso sia una notitia proportionale di tutte le cose visibili, terminate in grandezza con la potenza di porla in uso. Si sa giovane d’aspetto nobile, perche è il nervo di tutte le cose fattibli,  piacevoli per via di bellezza, percioche tutte le cose fatte dall’arte si dicono più, & meno belle, secondo che hanno più, & meno Dissegno, & le bellezza della forma humana nella gioventù fiorisce principalmente, [...]. Iconologia, Ausgabe Venedig 1645, 158.

Mit dieser Allegorie vollzieht sich nun insofern eine erwähnenswerte Selbstbezüglichkeit, als der Disegno in der Kunsttheorie des 16. Jahrhunderts eine zentrale  Bedeutung für alles Kunstschaffen hatte. Giorgio Vasari, der Florentiner oder doch in Florenz Lebende Künstlerbiograph, ernannte ihn 1568 zum Vater unserer drei Künste (gemeint sind Architektur, Malerei, Bildhauerei), [der] aus dem Intellekt hervor[geht] und aus vielen Dingen ein allgemeines Urteil [schöpft], gleich einer Form oder Idee aller Dinge der Natur, die in ihren Maßen überaus regelmäßig ist.

Zitiert nach W. Kemp: Disegno. Beiträge zur Geschichte des Begriffs zwischen 1547 und 1607, in: Marburger Jahrbuch für Kunstwissenschaft, Band 19 (1974), S. 219–240, 227.

Die multiple Bedeutung des Disegno zeigt sich im Vorwort zur Erstausgabe und durchzieht das gesamte Werk,  das Maß, Regel und Proportionen als bestimmende Eigenschaften eines Kunstwerks, das aus geistiger Tätigkeit generiert wird, festlegt. Mit diesen Konnotationen wird der Disegno zum Synonym für Malerei und für bildende Kunst generell, zumindest was die Florentiner Schule betrifft. 

G. Vasari, Le vite dei più eccellenti architetti, pittori et scultori italiani, Florenz 1568, 1–18. Zugänglich gemacht durch: http://www.letteraturaitaliana.net/pdf/Volume_5/t129.pdf

In der Fülle der Allegorien der »Iconologia« ist der Disegno zwar nur ein Eintrag unter vielen, seine ihm zugrunde liegende Theorie spiegelt sich jedoch im ganzen Werk: sowohl als gestalterisches Vorgehen, dem ein geistiger Prozess, die Auseinandersetzung mit einer Idee,  zugrunde liegt, als auch in der Art der Darstellung, die sich auf klare und einfache Linienführungen beschränkt, die alles Überflüssige weglässt und Farben nur selten als beschreibende Faktoren erwähnt.

Die Attribute Zirkel und Spiegel des reich gekleideten jungen Mannes verstehen sich in diesem Zusammenhang fast von selbst. Während der Zirkel für Maß, Regel und Proportion steht, bedeutet der Spiegel, dass die Künste Ideen – im Sinne Platons –  reflektieren. Womit die philosophische Position des Realismus mehrfach bestätigt wird, die besagt: Es gibt Ideen, sie sind die Grundlage, gewissermaßen die Ur- oder Vorbilder nicht nur aller Begriffe, sondern auch der gesamten sichtbaren Welt.

Da unter einer durch Plotin tradierten philosophischen als auch einer christlich-religiösen  Betrachtung die Welt als Emanation Gottes nur als symbolische betrachtet werden konnte, war die Entwicklung zur Fähigkeit einer Art doppelten Sehens notwendig, ein Sehen mit einem leiblichen und einem geistigen Auge. (> Anm.)  In dieser doppelten Erschließung der Sichtbarkeit ist die Metaphorisierung von Erscheinungen, Ereignissen oder Phänomenen enthalten.

Vgl. S. Strätling: Allegorien der Imagination. Lesbarkeit und Sichtbarkeit im frühen russischen Barock. München 2005, 9.

Doch ist die Tradierung dieser kulturellen Bildsprache Erosionserscheinungen ausgesetzt. Allegorien führen zu missverständlichen Deutungen, wurde doch ihre Ikonographie nie kanonisiert, dazu fehlten sanktionierende Institutionen, es fehlte auch die Kontinuität künstlerischer Bildprogramme, die durch zunehmend inhaltliche Individualisierung und Säkularisierung ersetzt wurden.

Die folgende Figur (Abb. 6) bzw. eine Variante davon hat die Ausschreibung zum diesjährigen Kolloquium der Schweizerischen Gesellschaft für Symbolforschung begleitet. Auch sie braucht(e) wohl Übersetzung und Kontextualisierung, um verstanden zu werden oder anders ausgedrückt:  Die Figur braucht ein Stück, in dem sie auftreten kann, und sie braucht einen Text.

Abb. 6: Povertà, Ausgabe Rom 1603, p. 410.

›Das Stück‹ hier heisst: Povertà d’uno ch’habbia bell’ingegno, also die Armut einer Person, die große Tüchtigkeit oder Einfallsreichtum besitzt. (Sie ist nur eine von bis zu sechs Armutsbeschreibungen, aber in allen Editionen immer die einzige, die dargestellt wird).

Der zum Stück gehörende Text ist kurz, es sind nur vier Sätze (C. Ripa, Iconologia 1613, 409–410; Übersetzung AT):

Povertà. In uno ch'habbia bell'ingegno. Donna mal vestita, che tenga la mano destra legata ad un gran sasso osato in terra et la sinistra alzata, con un paro d'ali aperte, attaccate fra la mano et il braccio. Povertà è ancamento delle cose necessarie all'huomo per sostegno della vita et acquisto della virtù. L'ali nella mano inistra significano il desiderio d'alcuni poveri ingegnosi, i quali aspirano alle difficultà della virtù, ma oppressi alle proprie necessità, sono sforzati a starsi nell'abiettioni et nelle viltà della plebe et si attribuisce a' Greci la ode dell'inventione di questa figura.

Eine schlecht gekleidete Frau, deren rechte Hand an einen grossen Stein, der auf der Erde liegt, gebunden ist, die Linke ist erhoben, ein Paar offener Flügel sind an der Hand befestigt.

Armut ist Mangel an Dingen, die dem Menschen zum Lebensunterhalt und zum Erwerb von Tugend nötig sind.

Die Flügel an der linken Hand bedeuten die Wünsche einiger einfalls- reicher Armen, die nach Tugend streben, aber, unterdrückt von den eigenen Bedürfnissen, gezwungen sind in der Erbärmlichkeit und im Übel des niederen Standes zu bleiben.

Man spricht den Griechen die Erfindung dieser Figur zu. 

Hier manifestiert sich die Systematik Ripas auf engstem Raum: So gilt, nach dem Titel,

  • der erste Satz der Bildbeschreibung,
  • der zweite definiert den Begriff und stellt ihn durch die Erwähnung von Lebensunterhalt und Tugend in einen materiellen sowie einen ideellen Zusammenhang,
  • der dritte Satz erklärt die Bedeutung eines Attributs
  • und im vierten wird die Herkunft der Figur als Ganzes angesprochen.

Die wenigen Sätze enthalten ekphrastische, definitorische, semantische und referentielle Angaben – etwas, das wohl nur als Resultat durchdachter Planung möglich ist. Auffallend ist allerdings, dass hier die Aussage über die Lage des Steins und seine Darstellung nicht übereinsimmen und er auch nicht erklärt wird. Diese Lakune lässt sich in einen Zusammenhang mit der auffallenden Auslassung aller Bildreferenzierungen stellen.

Hier soll in einem kurzen Exkurs skizziert werden, welche Vorlagen Ripa für diese Figur und ihre Attribute bekannt gewesen sein könnten. (Vgl. dazu die Seite www.symbolforschung.ch/embleme )

 

Abb. 7: Alciato, Ausgabe Augsburg 1531.

Abb. 7 findet sich im »Emblematum liber«, das 1531 in Augsburg erschien. (Die hier gegenüber dem Text seitenverkehrte Abbildung (dextra tenet lapidem) ist wohl auf den Druckprozess zurückzuführen). Sie hat sowohl im Figurativen als auch im Attributiven bis hin zum Kontrapost und zum Text deutlichen Vorgängercharakter für Ripas Povertà. – Und 1534, das heisst immer noch über 50 Jahre vor Ripas erster unbebilderter Edition, findet sich in Andrea Alciatos Emblemsammlung eine figürlich zwar massiv verjüngte, jedoch was das Eingespanntsein zwischen Flügel und Stein betrifft unveränderte Darstellung, der die gleiche inhaltliche Grundierung unterlegt ist. Nur der Titel nimmt eine Akzentverschiebung vor und besagt, dass Armut die Entfaltung der besten Fähigkeiten verhindere:

Abb. 8: Alciato, Ausgabe Paris 1534.

Und schließlich enthalten die »Emblemata« von Johannes Sambucus, die 1564 in Antwerpen erschienen, die Darstellung einer Diana von Epheseus, deren eine Hand ebenfalls durch Flügel in die Höhe, deren andere durch eine Rosette (Symbol für die Elemente) gegen den Boden gezogen wird.

 

Abb. 9: J. Sambucus: Emblemata, Physicae ac Metaphysicae differentia, Antwerpen 1564, E5v p. 74.

Sambucus’ Emblem trägt den Titel Physicae ac Metaphysicae differentia, und obwohl der inhaltliche Zusammenhang zu Ripas Povertà hier nicht gegeben ist, lässt sich die figurative Verwandtschaft der beiden Frauengestalten nicht übersehen.

Dass Ripa im Zusammenhang mit der Darstellung der Povertà keine der zeitlich vorausgehenden Embleme erwähnt, entspricht seinem Vorgehen im ganzen Werk. Es werden keinerlei Bezüge zu Bildwerken welcher Gattung auch immer hergestellt.

Doch zurück zur Abb. 6, der Povertà.

Dieses Beispiel weist die Abhängigkeit des Bildes vom Text deutlich aus, hätten ja zur Visualisierung der Darstellung die ersten Zeilen genügt. Doch den auf Metaphern beruhenden, imaginierten Bildelementen folgt eine Aneinanderreihung von Begriffs- und Attributerklärungen und sozialem Kommentar, so dass das Bild erst aufgrund seiner textuellen Grundlage im intendierten Sinne verständlich wird. Das ist nicht erst für uns Heutigen so, die wir zur Darstellung zwar sehr wohl ein Nicht-vom-Fleck-Kommen und ein Gefangensein zwischen zwei Welten assoziieren, dies jedoch eher einem mental-intellektuellen Zustand zuschreiben, als einer materiellen Armut. Zieht man jedoch den Hintergrund der ständischen Gesellschaftsordnung des 17. Jahrhunderts in Italien in Betracht, wird klar, dass Armut neben vielem anderen auch ein Nicht-Fortkommen können bedeutet: In einer ständischen Gesellschaft, in der der soziale Status durch Geburt gegeben war, konnten der Einfallsreichtum noch so groß sein, Standesgrenzen wurden nicht so leicht überwunden, selbst nicht mit kleinen Flügeln. In dieser Art und Weise finden gesellschaftliche Bewertungen einer Epoche ihren bildhaften Ausdruck. Ob damit Affirmation oder Anklage intendiert sind, bleibt offen für Interpretation.

Während Ripa die Armut der Einfallsreichen oder Talentierten relativ knapp beschrieb, ging er zur Darstellung der Verità anders vor.

Abb. 10: Verità, Ausgabe Rom 1603, p. 500.

Von den fünf Eintragungen, die es zur Verità gibt, bietet sich eine, in der alle Details der Darstellung erwähnt werden, zu einer umfassenderen strukturellen Analyse an. Die am Anfang des Textes  sich befindende Bildbeschreibung lautet:

Una bellissima donna ignuda, tiene nella destra mano alta il Sole, il quale rimira, et con l'altra un libro aperto con un ramo di palma et sotto al destro piede il globo del mondo. Verità è un habito dell'animo disposto a non torcere la lingua dal dritto et proprio essere delle cose, di che egli parla et scrive, affermando solo quello che è, negando quello che non è, senza mutar pensiero. Ignuda si rappresenta, per dinotare che la simplicità gli è naturale; onde Euripide in Phaenissis dice esser semplice il parlare della verità, ne li fa bisogno di vane interpretationi, percioché ella per sé sola è opportuna. Il medesimo dice Eschilo et Seneca nell'Epistola quinta, che la verità è semplice oratione, però si fa nuda, come habbiamo detto, et non deve havere adornamento alcuno. Tiene il sole per significare che la verità è amica della luce, anzi ella è luce chiarissima, che dimostra quel che è. Si può anco dire che riguarda il sole, cioè Dio, senza la cui luce non è verità alcuna, anzi egli è l'istessa verità, dicendo Christo N. S. Io sono Via, Verità, et Vita. Il libro aperto accenna che ne i libri si suona la verità delle cose et per-ciò lo studio delle scienze. Il ramo della palma ne può significare la sua forza, percioché, sì come è noto che la palma non cede al peso, così la verità non cede alle cose contrarie et benché molti la impugnano, nondimeno si solleva et cresce in alto. Oltre ciò significa la fortezza et la vittoria; Eschine poi contra Timarco dice la verità haver tanta forza che supera tutti i pensieri humani. Bacchilide chiama la Verità onnipotente sapienza nell'Esdra al 4. cap. E la sentenza di Zerobabel Giudeo dice la verità esser più forte d'ogni altra cosa et che valse più di tutte l'altre presso al Re Dario. Ma che dico io delle sentenze poiché li fatti de i nostri Christiani amplissimamente ciò hanno provato, essendosi molte migliaia di persone d'ogni età, d'ogni sesso et quasi d'ogni paese esposte al spargere il sangue et la vita per mantenere la verità della fede Christiana onde, riputando glorioso trionfo de i crudelissimi tiranni, d'infinite palme et corone hanno la verità Christiana adornata. Il mondo sotto il piè denota che ella è superiore a tutte le cose del mondo et di loro più pretiosa, anzi che è cosa divina, onde Menandro in Nannis dice che la verità è cittadina del cielo et che gode solo stare tra' Die.
Zitiert nach: Universität Bergamo > http://dinamico 2.unibg.it/ripa-iconologia/Iconologia e le sue fonti, 499–500.

Eine sehr schöne nackte Frau. Sie hält in der rechten Hand die scheinende Sonne hoch und in der anderen hält sie ein offenes Buch mit einem Palmwedel, unter dem rechten Fuss befindet sich die Weltkugel.

In der daran anschließende Begriffsbestimmung heißt es (Übersetzungen von AT):

Wahrheit ist eine Gewohnheit des Geistes, dazu angelegt, die Sprache, das eigentliche Sein der Dinge von denen man spricht oder schreibt nicht zu verdrehen und nur das zu bestätigen, was ist und das zu verneinen, was nicht ist, ohne einen Gedanken zu ändern.


Nach der Beschreibung und der Definition findet sich eine recht ausführliche Deutung der Attribute. Wo keine literarischen Bezüge erwähnt werden wie bei der Nacktheit, wo Euripides, Aeschilus und Seneca-Zitate oder zur Sonne Gott und Christus als Lichtquellen angeführt werden, sind es Alltagsweisheiten (z. B. dass Wahrheit, sich in Büchern findet) oder Alltagserfahrungen (z.B. dass die Palme sich kaum knicken lässt), die zur Begründung für die Attribuierung beigezogen werden. Die Wahrheit als solche wird auf sechs Arten in ihrer Bedeutung gewürdigt, nämlich durch Verweise auf Aeschines, Timarchus, Bakchyllides, Zerobabel, König Darius und einem Hinweis auf christliche Märtyrer. Zum Schluss wird der Globus im Zusammenhang mit der Wahrheit durch ein Zitat von Menander belegt.

Schematisch lässt sich die Textstruktur wie folgt darstellen:


Abb. 11:  Textstruktur zu Verità

Der Text, so zeigt sich, ist aufgespannt zwischen paganen und christlichen Referenzen, die fast tausend Jahre umfassen, wobei der Schwerpunkt deutlich auf der wiederentdeckten Antike liegt. Ripa berücksichtigt Dichter, Redner, Staatsmänner und Philosophen, deren Aussagen er zuweilen generalisierend, zuweilen in Zitaten erwähnt. Wie nahe liegend oder entlegen diese Quellen für Ripa und sein Publikum waren, lässt sich nicht feststellen. Sicher ist, dass auf dem Weg über die »Iconologia« nicht nur Namen, sondern auch einzelne Sätze, Aussprüche und literarische Hinweise tradiert wurden.

Mit den heftige Bewegungen, eigentlichen Sprünge zwischen sehr weit auseinanderliegenden Zeiten und damit zwischen weit auseinanderliegenden kulturellen Zusammenhängen, steht der Text in größtmöglichem Gegensatz zur zentriert in den Bildrahmen gespannten Personifikation, die durch ihn überhaupt erst generiert und teilweise bis heute tradiert wurde.

Abb. 12: Disegno, Povertà, Verità

Ripas Bildinventionen beruhen auf der Vergleichbarkeit von Wort und Bild, also einem eigentlichen ut rhetorica pictura. (> Anm.) Bei der Betrachtung und der Dechiffrierung stellt sich die Umkehrung davon ein, jetzt heisst es: ut pictura rhetorica. Die Bildaussagen müssten sich demzufolge zwangsläufig aus dem Bild ergeben, wenn es gelänge, die richtigen Sprachbilder und Assoziationen zu erkennen.

Anmerkung: Siehe A. Colantuono: Enigma, Rhetorical Syllogism and the Aesthetic of Strangeness in Ripa’s Iconolgia, in: C. Logemann; M. Thimann: Cesare Rip und die Begriffsbilder der Frühen Neuzeit, Zürich 2011, 44.

Hinter diesem rhetorisch-ikonischen Ansatz steht ein deduktives, syllogistisches Schließen, in dessen Sätzen Subjekte und Prädikate nicht über Identität sondern über Ähnlichkeit oder einem Als-ob miteinander verbunden sind. Den Bildern, die auf diesem Denkweg entstehen, haftet etwas Enigmatisches an. Auch wenn sie mit einem Titel versehen sind – eine zwingende Vorgabe von Ripa, wie er sie im Vorwort zur Ausgabe 1603 begründet – so bietet ihre Aussage dem einfachen Erkennen Widerstand und wirkt verschleiernd. Die interpretatorischen Schwierigkeiten, die aus dem Zusammenwirken von Körperdarstellung, Körperhaltung und oft ungewohnten, surreal anmutenden Attributen resultieren, sind intendiert.

Es ist diese Differenz zwischen der Vorstellung des Betrachters oder der Betrachterin über den titelgebenden Begriff und dessen Visualisierung, die das Nachdenken über eben diesen Begriff in Gang setzt. Damit erfüllt sich eine pädagogische Aufgabe, die sich Ripa zusätzlich zum bereits erwähnten Ziel gesetzt hat. Er wollte explizit auch Dinge darstellen, die man nicht sehen kann (le imagine fatte per significare una diversa cosa da quella, che si vede con l’occhio; Ausgabe Rom 1603, Proemio, 1), um durch die Beschäftigung mit abstrakten Begriffen generell einen Weg philosophischen Denkens anzuregen.

So sind die Allegorien nicht nur gestalterisches Hilfs- sondern eigentliche Erziehungs- und Bildungsmittel, deren Rätselhaftigkeit Teil des Programms ist. Ripa rechtfertigt sie mit Bezug auf Pythagoras, Platon und auf Christus, indem er daran erinnert, dass sie alle ihre Lehren mit und in Gleichnissen verdunkelt hätten. (Ebd.) Damit können wir Verschleierung als eine Konzeption erkennen, die zugleich offen und geschlossen ist. Offen, da ein Inhalt abhängig vom jeweiligen Verstehenshorizont der Betrachtenden interpretiert werden kann und geschlossen, weil der Inhalt nur von Eingeweihten, in diesem Fall umfassend humanistisch Gebildeten, in seiner Gänze aufgenommen und affirmiert werden kann.

Bildfindung geschieht bei Ripa jedoch nicht nur auf der Basis von Ähnlichkeitsbezügen, das wäre ihm zu zu trivial. Er untersucht einen Begriff, den er sichtbar machen will, ganz systematisch. So unterscheidet er zwischen Essenz und Akzidenzien des Begriffs und untersucht ihn im Proemio entsprechend aristotelischer Ursachenlehre. Das heißt, mit Hilfe der vier causae (materialis, efficiens, formalis, finalis) kann eine Sache oder eben ein Begriff – wir würden heute sagen: multiperspektivisch – bestimmt werden. Diese Antworten auf die Fragen nach den Erscheinungsformen der causae werden auf Attribute übertragen. In Bezug auf die Wahrheit, die weiblich sein muss, da das grammatikalische Geschlecht des Wortes Verità weiblich ist, ergeben sich folgende Ableitungen:

Abb. 13: Causae zu Verità

Aufgrund solcher Konstruktionsmerkmale – eine Rückübersetzung der dargestellten Attribute in metaphorische Rede bzw. der Dekonstruktion des Bildes in Bezug auf die causae – müsste es also möglich sein, eine Allegorie zu entziffern, ohne ihren Titel zu kennen. Anhand eines Beispiels könnte die Probe aufs Exempel durchgespielt werden. Die folgende, sich dafür eignende Darstellung zählt sicher zu den rätselhaftesten der »Iconologia«, da sie sich nicht nur im Was des Zeigens, sondern auch im stilistischen Wie von andern unterscheidet.

Abb. 14: Ausgabe Rom 1603, p. 41.

Der generelle Unterschied zu den bisherigen Darstellungen manifestiert sich darin, dass der abgebildete Frauenkörper gänzlich unbedeckt ist, kein Schamtuch das Geschlecht der Figur verhüllt, wie das selbst bei der als nackt bezeichneten Wahrheit der Fall ist und zudem Kopf und Gesicht verhüllt sind. Die Verdeckung des Gesichts geschieht durch eine Schraffur, die auch die gesamte Figur umgibt, sodass sie sich im Inneren eines weißen Ovals, einer einem Ei gleichenden Aussparung, zu befinden scheint. Attribute sind, wie üblich, wenige vorhanden: Zirkel, Kugel in der einen, eine Blume, die im Text als Lilie definiert wird, in der anderen Hand.

Da sich in dieser Personifikation die neuplatonische Verbindung von Antike und Christentum in besonderer Weise spiegelt, könnte wohl mit Kenntnissen der Metaphorik antiker und frühneuzeitlicher Philosophie sowie mit einer gewissen Begabung zum Assoziieren erkannt werden, dass es sich hier um die Bellezza  handelt. Die Schönheit ist es, auf die die aus der Antike übernommene Auffassung von Maß, Proportion und Harmonie sowie ihre Nähe zum Absoluten und Idealen zutreffen.

Abb. 15: Textstruktur zu Bellezza

Entsprechend den Regeln, nach denen ein Begriff nicht durch sich selbst erklärt werden soll (Ripa, Proemio, 1613, p 6),  darf Schönheit nicht einfach schön, als schöne Person, dargestellt sein. Da Schönheit jedoch nur als ein Abglanz von Gottes Antlitz verstanden wird und als solcher nicht gesehen werden kann, ist ihr Kopf in eine Wolke gehüllt und ihr Körper von einem Strahlenglanz umgeben. Darin manifestiert sich eine Motivhybridisierung oder Motivkontamination: 

Der Kopf in den Wolken – dieses bildhafte Motiv gehört seit Boethius Traum, den er in seiner Gefangenschaft hatte, zur Philosophie (Boethius. »Trost der Philosophie«, um 525.)  Es verbindet sich mit der aus der christlichen Kunst vertrauten Aureole, dem Ganzkörperheiligenschein, der nur ausgesuchten Heiligen zukommt. Der Zirkel – wir kennen ihn bereits vom Disegno – steht für Maß und Proportion. Er ist einer antiken Personifizierung der Geometrie entlehnt. Die Kugel symbolisiert Ebenmaß und Vollkommenheit, und die Lilie entstammt wiederum der sakralen Kunst, wo sie als eigentliche Marienlilie als Zeichen für die Reinheit Marias bekannt ist. Hier wird sie profanisiert und dient dem Hinweis auf überirdische Schönheit.

Die Quellen für Ripas Bildinvention befinden sich gleichermaßen in der antiken philosophischen Literatur wie in der sakralen Kunst und mögen aus heutiger Sicht sowohl was die referentielle Textauswahl als auch die ikonographischen Details betrifft, den Eindruck von Eklektizismus oder Synkretismus hinterlassen. Positiv gewendet jedoch kann gerade darin die große Leistung Ripas gesehen werden, sich ikonographischer Traditionen zu bedienen, sie zu adaptieren, dekonsturieren und zu neuen Sinneinheiten zusammensetzen.

Am Beispiel der Bellezza kann gezeigt werden, dass in ihrer Verwendung fixierte ikonographische Elemente aus ihrem Kontext sakraler christlicher Kunst herausgelöst, umgedeutet und mit literarischen Bilderfindungen spätantiker Literatur fusioniert werden. So sind die Allegorien Ripas generell Travelling Concepts avant la lettre, Inventionen und zugleich Transpositionen oder Transfers von visualisierten Metaphern quer durch Epochen und (literarische) Gattungen. 

Zwei verschiedene Arten später Übernahme der »Iconologia« gilt es noch zu erwähnen.

Erstens eine im 18. Jahrhundert aufgetretene, spezielle Form dieser Bilderwelt, die zweifelsohne der moralischen Unterweisung diente und eine christliche Vereinnahmung manifestiert:

Abb. 16: Veritas aus: Des berühmten Italiänischen Ritters, Cæsaris Ripæ, allerleÿ Künsten, und Wissenschafften, dienlicher Sinnbildern, und Gedancken, Welchen jedesmahlen eine hierzu taugliche Historia oder Gleichnis beÿgefüget. dermahlige Autor, und Verleger, Joh. Georg Hertel, in Augspurg [vor 1761]; Nr. I, 50.

Hier tritt die Wahrheit im Christuswort aus Joh. 14, 6: »Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben« redundant – mehrfach ikonisch und textuell – auf, im Unterschied zur eigentlichen Personifikation, die im Dschungel ikonographischer Anreicherungen kaum mehr auszumachen ist und nur noch als bildhafter Hinweis auf die Predigtszene dient und mit der Hochhaltung der strahlenden Sonne in die Bildmitte die Predigtaussage verdoppelt. Dieses Beispiel bezeugt nicht nur die Fruchtbarkeit von Ripas Inventionen, es zeigt auch, wie lange die »Iconologia« als Sammelwerk tradiert und adaptiert und schließlich zu Erbauungszwecken verwendet wurde.

Zweitens wurde der Begriff Iconologia als solcher durch das kunsthistorische Interpretationsmodell von Erwin Panofsky ins 20. Jahrhundert transportiert und bis heute tradiert. So zeigt sich, dass das Werk des Cesare Ripa selbst im Hinblick auf seine Benennung eine Brückenfunktion einnahm. Und was sich aus ihrer Betrachtung übernehmen lässt, gilt für das interpretatorischen Verfahren Panofskys ebenso wie für die Betrachtung und Untersuchung jeglicher Kunst: Es ist der Imperativ des genauen Hin-Sehens und des Beschreibens, das die Grundlage allen Deutens bildet. Davon gehen die Allegorien Ripas aus. Sie bestehen auf einer Genauigkeit des Schauens, sowie einer präzisen Rückübersetzen des Bildlichen ins Sprachliche und fordern auf dieser Grundlage das Deuten und Verstehen heraus. Mit der Klarheit und Einfachheit der Darstellungen und ihrer Elemente können sie noch heute Seh- und Denkschule zugleich sein.

Die Allegorien leisten aber noch mehr. Sie sind Bildermixturen, Kreuzungen mehrfacher Art und damit Orte der Aufhebung von Geschichte und Anlass für Geschichten. Aus jeder Personifikation leitet sich ja eine Geschichte ab, da Titel und Text des Stückes sich auf diesen Bühnen nicht trennen lassen.

Die Funktionen der Bildwelt der »Iconologia« treten durch die Analyse des Stils, des methodischen Aufbaus und natürlich ihrer Inhalte deutlich zu Tage. Darin mag eine Begründung für ihren lange anhaltenden, internationalen Erfolg liegen.
Zudem war die Zeit der Entstehung und Verbreitung der Allegoriensammlung eine Epoche des Umbruchs. In Zeiten der Schwerpunktverlagerungen zwischen Zentren und Peripherien sowohl in wissenschaftlichem als auch künstlerischem, gesellschaftlichem und religiösem Sinn boten sie Orientierung durch Anbindung an ikonographische und philosophische Traditionen, die in ihrem moralisch-philosophischen Gehalt durch die katholische Kirche und durch sakrale Kunst gedeckt waren. Sie bildeten mit den aus der Vergangenheit bezogenen Werten eine Ideenschau ab, die, so ist zu vermuten, stabilisierende Kräfte unterstützte. Die Statik der Darstellung kann auf diesem Hintergrund auch als Spiegel der Unverletzlichkeit der dargestellten Werte verstanden werden.

Aus philosophischer Sicht sind sie ein Instrument, mit dessen Hilfe der Weg vom Bezeichnen zum Bedeuten bis zur intuitiven Schau zurückverfolgt werden kann. Die von der repräsentativen Bestimmung des Was überlagerte Empfindung kommt in der Präsentation – im Wie – wieder zu ihrem erkenntnistheoretisch wichtigen Recht.

 

Abb. 17: Disegno, Povertà, Verità, Bellezza

 


Quellen, Digitalisate

••• Die Università degli studi di Bergamo führte 2006–2008 ein Projekt zur Erforschung antiker Wurzeln der Symbole durch. Im Rahmen dieses Projekts wurde Ripad »Iconologiaa« von 1603 online gestellt: http://lartte.sns.it/ripa/testo/index.php

••• Die Universität Heidelberg macht folgende Ausgaben digital online zugänglich:

Rom 1603: http://digi.ub.uni-heidelberg.de/diglit/ripa1603

Siena 1613: http://digi.ub.uni-heidelberg.de/diglit/ripa1613ga

Venedig 1645: http://digi.ub.uni-heidelberg.de/diglit/ripa1645

Paris 1643/44: http://digi.ub.uni-heidelberg.de/diglit/ripa1643ga

Venedig 1645: http://digi.ub.uni-heidelberg.de/diglit/ripa1645

Frankfurt am Main 1669: http://digi.ub.uni-heidelberg.de/diglit/ripa1669

••• Dieselben und andere Ausgaben findet man bei archive.org:

Siena 1613: https://archive.org/details/iconologiadicesa00ripa

Padova 1625: https://archive.org/details/dellanovissimaic01ripa

Joh. Georg Hertel Augspurg (o.J.): http://archive.org/details/parsidesberuhmte00ripa

Die gezeigten Abbildungen sind diesen Digitalisaten entnommen.

 

••• Weitere Hinweise finden sich auf einer Website der Universität Zürich