Der Tod steigt durchs Fenster der Augen

 

Quelle: Aegidius Albertinus [1560-1620], Hiren schleifer, München Niclas Hainrich 1618.

Digitalisat des ganzen Buchs > http://diglib.hab.de/drucke/73-eth-1s/start.htm

Das letzte Kapitel ist betitelt: Der Todt steigt durchs Fenster ins Hauß. Im Anderen Discurs (S. 700–704) wird das erläutert:

Der Todt wird verglichen einem Dieb/ Dann wie einer/ welcher in ein Hauß begert zugehen/ zuuor anklopffet oder leutet/ aber ein Dieb steigt heimblich durch etwa ein Fenster hinein/ vnnd suchet etwas/ welches er stehlen möge/ Also/ wann der Todt die frommen heimbsuchen will/ so gehet er durch die haußthür ein/ weil sie lang zuuor seynd durch die Trübsaln gewarnt worden/ Aber wann er die Gottlosen angreiffen will/ so steiget er heimblich durchs Fenster/ vberfelt sie vnuersehens/ vnnd stilt jhnen jhre arme Seelen. Derwegen steht geschriben: Der Dodt ist hineingegangen durch ewre Fenster.


Quelle: Jan David S.J. (ca.1545–1613), Veridicus Christianus, Antwerpen: Plantin 1601. (Kupfer von Theodoor Galle 1571–1633)

Digitalisat des ganzen Buchs > https://doi.org/10.3931/e-rara-34430

Titel:

Adspectus incauti dispendium
Die Gefährlichkeit eines unbedachtsamen Blicks

Zwei (im beigegebenen Text genannte) Textstellen sind miteinander kombiniert:

Augustin, Kommentar zu Psalm 41: Vitiis nostris in animum per oculos via est ... Oculi fenestrae sunt mentis. (zitiert auf S. 220) (Der Weg für unsere Laster in das Gemüt geht durch die Augen. — Die Augen sind die Fenster des Inneren / der Seele.)

Jeremias 9,21 [Vg.]: quia ascendit mors per fenestras nostras; ingressa est domos nostras, …
(Lutherbibel 1545: Der Tod ist zu vnsern Fenstern hereingefallen / vnd in vnser Pallast komen / …)

 

Verse unter dem Bild:

••• Quid, qui emissitios* nusqam non iactat ocellos?
Was ist mit dem, der [nirgends nicht >] überallhin Späherblicke wirft? [*von emissicius]

hoc agit, ut pandas mors involet atra fenestras.
Das bewirkt er, dass der schwarze Tod in die geöffneten Fenster einfällt.

••• Wat doet hy, die syn oog’    int sien niet en bewaert?
Hy heeft die vensters hoogh’,   al waer de doot invaert.

Was tut der, der sein Auge beim Sehen nicht behütet?
Er hebt die Fenster in die Höhe, durch die der Tod einfährt.

••• Qui laiße s’esbatre / Sa veue folatre / Quel malheur l’attend?
La mort æternelle/ Par ces trous eschelle/ L’ame, et la surprend.

Wer sich den Freuden hingibt und seinen Blick herumtollen lässt – Welches Unglück erwartet ihn?
Der ewige Tod steigt auf einer Leiter durch diese Löcher zur Seele und packt sie unvorbereitet.

Die Verweisbuchstaben im Bild:

(A) Eine nackte Frau mit Apfel: Eva als Beispiel der Verführung durch ihren Anblick. (Das steht so nicht in Genesis 3,6.)

(B) Ein Mann, der die Fensterläden mit einer Stange hochschiebt, als Verbildlichung jenes Menschen, der seine Blicke sorglos schweifen lässt, und dadurch die Fenster seiner Seele öffnet.

(C) So ist es dem Tod – dem das zum Fenster hinein kletternden Skelett auf der Leiter – möglich, einzudringen.

(D) [Der Kopf des Blickenden als Haus]

(E) Bathseba badet, von David beobachtet (2 Samuel 11)

(F) Die ihr Haupt verhüllende Frau: Dina, Jakobs Tochter, die in Sichem ob ihres Anblicks geschändet wurde (Genesis 34).

B C D = Allegorien

A E F = Exempla

Literaturhinweis: Anne-Katrin Sors, Allegorische Andachtsbücher in Antwerpen, Universitätsverlag Göttingen 2015.

Dank für Übersetzungshilfe an Thomas G. in W. — Harry J. in W. — Alex Sch. in B.H. — Christina V. in Z.!

Erster Nachtrag

DISPUTATIO INTER COR ET OCULUM

The Latin poems commonly attributed to Walter Mapes, ed. Th.Wright, London 1841, p.93–95.
> https://archive.org/details/latinpoemscommo16mapw/page/93/mode/1up

Übersetzung von Josef Eberle in: Psalterium profanum, Zürich: Manesse 1962; S.342ff.

Si quis cordis et oculi
non sentit in se jurgia,
non novit qui sunt stimuli;
quæ culpæ seminaria,
causam nescit periculi,
cur alternant convitia,
cur procaces et æmuli
replicant in se vitia
.
Wer Herz und Auge nicht in sich streiten fühlt, weiss nichts vom Stachel der Schuld und ihrem Keim, kennt nicht den Grund des Streites, warum sich gegenseitig tadeln und ausgeschämt die Gegner sich vorhalten ihre Fehler.
Cor sic affatur oculum:
»Te peccati principium,
te fomitem te stimulum,
te mortis voco nuncium;
tu domus meæ janitor
hosti non claudis ostium;
familiaris proditor
admittis adversarium.
So spricht das Herz zum Auge: "Dich nenne ich der Sünde Ursache, Nährstoff, Anreiz und einen Todesboten. Du lässt, als Wächter meines Hauses, dem Feind die Türe unverschlossen, Verräter du, von innen lässt du den Feind herein.

Nonne fenestra diceris
qua mors intrat ad animam?
nonne quod vides sequeris
ut bos ductus ad victimam?
cur non saltem quas ingeris
sordes lavas per lacrimam?
aut quare non erueris
mentem fermentans azimam?«

Giltst du nicht als das Fenster, durch das der Tod in die Seele kommt?Folgst du nicht allem, was du siehst, so wie das Vieh zur Schlachtbank folgt? Warum wäschst du nicht wenigstens den Schmutz, in den du führst, mit Tränen ab? Warum läßt du dich nicht ausreissen, da du das reine Herz befleckst?
Cordi respondet oculus:
»Injuste de me quæreris,
servus sum tibi sedulus,
exequor quicquid jusseris;
nonne tu mihi præcipis
sicut et membris cæteris?
non ego tu te decipis,
nuncius sum quo miseris.
Zum Herzen spricht darauf das Auge: "Zu Unrecht klagst du über mich, ich bin dein eifriger Knecht und tue nur, was du befiehlst. Hast du nicht über mich Gewalt wie über all die andern Glieder? Nicht ich bin's, du bist's, der dich täuscht; ich bin dein ausgeschickter Bote nur. …"
[…]  

 

Zweiter Nachtrag

Francesco Petrarca (1304–1374), »De Remediiis utriusque fortunae«, I,30 = Kapitel über die Schauspiele der Römer. Die Vernunft warnt davor, dem grausamen Spektakel zuzuschauen. Eine Stütze der Argumentation ist:

RATIO: Multum mali auribus invehitur, sed multo plus oculis: illis quasi fenestris bipatentibus in animam mors irrumpit; nichil potentius in memoriam descendit quam quod visu subit. Facile audita pretervolant, conspectarum imagines rerum herent etiam invitis nec se tamen nisi volentibus ingerunt nisi perraro atque ocius abiture.

Übersetzung von Peter Stahel (1521/22): vil böser [Böses?] wirdet den orn/ aber vile mere den augen eingefüert/ durch die gleich als durch zway ofne fenster/ pricht ein der tod in die sel/ Nichts steigt mechtigklicher in die gedechtnus/ dann was dem gesicht fürkompt/ gehörte ding für fliegen bald/ aber verbildung gesechner/ hafften auch in den vnwilligen/ flechten sich doch nicht/ dann allein in die verwilligen/ anders/ dann selten vnd bald zergengklich. (Franciscus Petrarcha. Von der Artzney bayder Glück/ des guoten vnd widerwertigen.Vnnd weß sich ain yeder inn Gelück vnd vnglück halten sol. Auß dem Lateinischen in das Teütsch gezogen. … Gedruckt zuo Augspurg durch Heynrich Steyner. M. D. XXXII)

Übersetzung von Stephan Vigilius (1539): es kompt für augen vnd oren vil args/ durch dise kompt nachmals der tod gleich als durch eyn offen thür eingeschlichen/ was das gesicht faßt/ bleibt lang inn frischer gedächtnus/ was aber für die oren kompt/ mag einem leichtlich abfallen/ Es hangend die bilde vnd muster eines dings/ das gesehen ist lang inne/ kommen einem offt ein/ wann er schon nicht daran gedencken will/ ... (Das Glückbuoch/ Beydes deß Guoten und Bösen/ Darinn leere und trost/ weß sich menigklich hierinn halten soll/ Durch Franciscum Petrarcham vor im latein beschriben/ vnd yetz grüntlich verteutscht, … Getruckt zuo Augspurg durch Heynrich Steyner MDXXXIX)

Zum besseren Erinnerungsvermögen des Gesichtssinns stützt sich Petrarca auf:
Segnius irritant animos demissa per aurem
quam quae sunt oculis subiecta fidelibus.

(Schwächer erregt die Aufmerksamkeit, was seinen Weg durch das Ohr nimmt, als was vor die verlässlichen Augen gebracht wird. Horaz, Ars Poetica V.180ff.)

Dritter Nachtrag

Gottfried Keller, »Augen, meine lieben Fensterlein«

https://www.gottfriedkeller.ch/allgemein/lyrik/abendlied.php

(So "verständnislos" ist die Besprechung von Ludwig Hohl doch gar nicht...)


Online seit Januar 2021